Familienrecht

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Aktenzeichen  2 UF 60/22 e

Datum:
21.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6966
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

1 F 626/21 2021-12-20 Bes AGWEILHEIM AG Weilheim

Tenor

1. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Amtsgerichts Weilheim vom 20.12.2021 wird zurückgewiesen.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2000 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Beteiligten sind die getrennt lebenden gemeinsam sorgeberechtigten Eltern des am …2008 geborenen J.S. J. lebt bei seiner Mutter, der Antragstellerin.
Die Beteiligten streiten über die Entscheidungsbefugnis für die von der Antragstellerin befürwortete Zustimmung zur Durchführung einer Schutzimpfung des Kindes gegen das Corona-Virus SARS-Cov-2.
Mit Beschluss vom 20.12.2021 übertrug das Amtsgericht die Entscheidung über die Zustimmung zu einer Schutzimpfung gegen das Corona-Virus im Wege der einstweiligen Anordnung auf die Antragstellerin.
Unmittelbar nach der Entscheidung des Amtsgerichts wurde die Impfung durchgeführt. Zwischenzeitlich erfolgte auch die zweite Impfung. Nebenwirkungen oder Komplikationen ergaben sich nicht.
Mit Schriftsatz vom 04.01.2022, bei Gericht eingegangen am selben Tag, legte der Antragsgegner gegen den ihm am 22.12.2021 zugestellten Beschluss Beschwerde ein. Er beantragt, die Entscheidung des Amtsgerichts aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin zurückzuweisen, sowie die Aussetzung des Beschlusses des Amtsgerichts Weilheim anzuordnen. Er führt aus, nachdem Erst- und Zweitimpfung bereits erfolgt seien, richte sich die Beschwerde noch gegen die Zustimmung zu einer Booster-Impfung. Weiter begründet er die Beschwerde damit, die Booster-Impfung widerspreche dem Wohl des Kindes. Der Wille des 13-jährigen Kindes dürfe hierbei keine Berücksichtigung finden. Entscheidend sei, dass die Impfung aus gesundheitlichen Gründen keinen Vorteil für J. bringe. Es gebe weltweit wissenschaftliche Erkenntnisse, dass für Kinder bis 17 Jahren keine Gefahr durch Covid bestehe. Die Empfehlungen der STIKO müssten im Hinblick darauf zurückstehen. Dabei sei auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2021 zu berücksichtigen, die sich zu den Maßnahmen der Bundesregierung zur Bewältigung der Pandemie äußere. Die Entscheidung des Amtsgerichts, der die Aussagen des RKI zugrunde liegen, sei falsch, da sie Feststellungen der Exekutive übernehme. Gleiches gelte für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, bei dem auch die Besorgnis der Befangenheit bestehe. Es habe zu keiner Zeit eine Überlastung des Gesundheitssystems bestanden. Die offizielle Definition der Coronaerkrankung sei völlig unzureichend und PCR-Tests könnten eine Infektion nicht nachweisen. Sämtliche grundrechtseinschränkenden Maßnahmen seien daher rechtswidrig. Hinsichtlich der Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird auf die Schriftsätze des Beschwerdeführers vom 26.01.2022 und vom 11.02.2022 Bezug genommen.
J. hat sich sowohl bei der richterlichen Anhörung in erster Instanz als auch nach den erfolgten Impfungen gegenüber der Verfahrensbeiständin dahingehend geäußert, dass er sich durch die Impfungen sicherer und psychisch entlastet fühle, die Impfungen gut vertragen habe und auf jeden Fall auch alle weiteren von der STIKO empfohlenen Impfungen erhalten möchte.
Jugendamt und Verfahrensbeiständin befürworten, dem Wunsch des Kindes nach den Impfungen nachzukommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Zu Recht hat das Amtsgericht die Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Zustimmung zu Impfungen gegen das Corona-Virus auf die Antragstellerin übertragen. Hinsichtlich der Gründe wird auf den zutreffenden Beschluss des Amtsgerichts Weilheim verwiesen. Lediglich ergänzend wird ausgeführt:
1. Das für die Zulässigkeit der Beschwerde erforderliche Rechtsschutzbedürfnis des Antragsgegners ist durch die inzwischen durchgeführten Impfungen nicht entfallen.
Wie die Beschwerde ausführt, richtet sie sich nunmehr noch gegen die Zustimmung zu einer Booster-Impfung, nachdem J. bereits zweimal geimpft wurde. Mit der Entscheidung des Amtsgerichts wurde die elterliche Entscheidungsbefugnis nicht nur hinsichtlich der Grundimmunisierung, sondern auch für etwaige in der Zukunft von der STIKO empfohlene Auffrischungs- und Folgeimpfungen gegen Covid 19 vorläufig übertragen. Eine Entscheidung über die Verabreichung von Impfungen kann sinnvollerweise nur einheitlich getroffen werden (BGH FamRZ 2017, 1057; OLG München FamRZ 2021, 1980; OLG Rostock NZFam 2022, 69).
2. Es besteht, wie schon für die Erst- und Zweitimpfung, auch für die als Booster-Impfung bezeichnete Auffrischungsimpfung ein dringendes Regelungsbedürfnis i.S.d. § 49 FamFG, das den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigt (a.A. OLG Rostock a.a.O.). Soweit das Oberlandesgericht Rostock ein Eilbedürfnis für Auffrischungsimpfungen „derzeit“ nicht gesehen hat, folgt der Senat dem nicht. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des OLG Rostock gab es zum einen noch keine Empfehlung der STIKO hinsichtlich einer Auffrischungsimpfung für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 17 Jahren. Mittlerweile empfiehlt die STIKO auch für diese Altersgruppe eine Auffrischungsimpfung mit einem Mindestabstand von 3 Monaten nach der Zweitimpfung.2 UF 60/22 e – Seite 4 – Angesichts dessen, dass sich Deutschland derzeit mitten in der 4. Infektionswelle befindet und die Ansteckungszahlen so hoch sind wie noch nie, besteht auch hinsichtlich der Entscheidung über die Booster-Impfung ein dringendes Regelungsbedürfnis.
Ein Zuwarten bis zur Entscheidung in einer etwaigen Hauptsache wäre nicht ohne Eintritt erheblicher Nachteile möglich, da ein Zuwarten das Risiko beinhaltet, dass sich das Kind mit dem Corona-Virus infiziert und möglicherweise schwer erkrankt. Nach den nunmehr vorliegenden von der STIKO ausgewerteten wissenschaftlichen Erkenntnissen ist insbesondere bei der derzeit in Deutschland vorherrschenden Omikron-Variante erst mit der Booster-Impfung der höchstmögliche Schutz vor einer Infektion erreicht. Insoweit ist eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz auch dann vor diesem Hintergrund zu treffen, wenn sie faktisch zu einer Vorwegnahme der Hauptsache führt. Dies gilt umso mehr, als nach der vorhandenen Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sein wird, dass auch ein Hauptsacheverfahren zu einer dahingehenden Regelung führen würde (vgl. OLG Frankfurt FamRZ 2016, 1595).
3. Die elterliche Entscheidungsbefugnis für die Zustimmung zur Impfung des Kindes war gemäß § 1628 BGB auf die Antragstellerin zu übertragen.
Sind sich Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge in einer Angelegenheit von erheblicher Bedeutung nicht einig, kann das Familiengericht nach § 1628 Satz 1 BGB auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen. Die zu treffende Entscheidung richtet sich gemäß § 1697 a BGB nach dem Kindeswohl. Die Entscheidungskompetenz ist dem Elternteil zu übertragen, dessen Lösungsvorschlag dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
Die Entscheidung der Antragstellerin, das Kind gegen das Corona-Virus impfen zu lassen, entspricht dem Wohl des Kindes vorliegend am besten (so auch OLG Frankfurt FamRZ 2021, 1533; OLG München a.a.O.; OLG Rostock a.a.O.)
Im Hinblick auf die Ausführungen der Beschwerde wird darauf hingewiesen, dass die Frage der Berechtigung oder Nichtberechtigung von Corona-Maßnahmen und deren gerichtliche Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht an der Sache vorbeigehen. Auch eine etwaige Überlastung des Gesundheitssystems spielt für die vorliegende Entscheidung keine Rolle. Die Relevanz der Kritik der Beschwerde an der Definition der Corona-Erkrankung und die Relevanz der Behauptung, PCR-Tests könnten eine Infektion nicht nachweisen, erschließt sich dem Gericht ebenso wenig.
Entscheidend ist, dass sowohl die Berücksichtigung des Kindeswillens als auch die Risiko-Nutzen-Abwägung der Impfung dazu führen, dass die Durchführung der Impfung dem Wohl des Kindes entspricht.
a) Soweit die Beschwerde rügt, der Kindeswille sei vorliegend unbeachtlich, weil J. als 13-jähriger nicht den Horizont habe, das Thema zu bewerten, trifft dies nicht zu.
Ein normal entwickelter 13-jähriger ist durchaus in der Lage, sich eine Meinung zur Frage der Impfung zu bilden. Hierbei kommt es auch nicht darauf an, ob er in der Lage ist, alle Konsequenzen abzuschätzen, sondern darauf, ob es sich um einen echten eigenständig gebildeten Willen handelt, was hier zweifelsfrei zu bejahen ist.
Bei der richterlichen Anhörung hat J. sich ausdrücklich dafür ausgesprochen, die Impfung zu erhalten und dies damit begründet, er wolle wieder einen normalen Alltag leben und sich mit Freunden treffen. Zudem wolle er sich selbst und andere schützen vor einer Infektion mit dem Corona-Virus. Nachdem er bereits zweimal geimpft war hat er gegenüber der Verfahrensbeiständin geäußert, er sei sehr froh über die Impfungen und fühle sich seitdem sicherer und psychisch entlastet. Er habe die Impfungen gut vertragen und gehe davon aus, dass die Impfungen die beste Hilfe sein, um den Virus in den Griff zu bekommen. Daher wolle er auch alle weiteren von der STIKO empfohlenen Impfungen erhalten.
Der Wille ist auch nachvollziehbar und vernünftig angesichts der vielfältigen Einschränkungen, denen ein ungeimpfter Jugendlicher ausgesetzt ist. Nachvollziehbar ist der Wille auch im Hinblick darauf, dass die Erkrankung an Corona schwere Folgen nach sich ziehen kann, während die Nebenwirkungen einer Corona-Impfung äußerst selten sind und daher ein individuell verständigerweise in Kauf zu nehmendes Risiko darstellen.
b) Auch die Abwägung zwischen dem Risiko, ungeimpft an Corona zu erkranken und dem Risiko unerwünschter Nebenwirkungen der Impfung fällt vorliegend zu Gunsten der Impfung aus.
Die Kritik der Beschwerde daran, dass das Gericht sich an den Empfehlungen der am Robert-Koch-Institut angesiedelten ständigen Impfkommission (STIKO) orientiert, ist unberechtigt.
Die Empfehlungen der STIKO sind als medizinischer Standard anerkannt, weil von dort eine neutrale sachverständige Einschätzung dahingehend erfolgt, ob der Nutzen der jeweiligen Impfung das Risiko überwiegt. Die sachverständige Einschätzung erfolgt auf Grundlage unabhängiger Studien und aller verfügbaren Daten und gewährt damit die nach wissenschaftlichen Grundsätzen bestmögliche Richtigkeit im Unterschied zu den Erkenntnissen einzelner Wissenschaftler, die ihre Überzeugung zum Teil aus weniger umfassenden Quellen speisen. Daher ist die Frage zur Klärung und Abwägung der allgemeinen Infektions- und Impfrisiken durch die Empfehlungen der STIKO beantwortet. Diese Empfehlungen machen auch die sonst gegebenenfalls erforderliche Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens entbehrlich (BGH FamRZ 2017, 1057). Daran nimmt die den Empfehlungen zugrunde liegende Einschätzung teil, dass der Nutzen der jeweils empfohlenen Impfung das Impfrisiko überwiegt (BGH a.a.O.) Es gibt auch keinerlei Anlass, hiervon für dievorliegende Entscheidung abzuweichen. Zwar handelt es sich bei der Covid-19-Impfung um keine langjährig bewährte Standardimpfung, sondern um eine Impfung mit einem neuen Impfstofftyp. Andererseits gibt es weltweit keine andere Impfung, die auch nur annähernd so häufig durchgeführt wurde und über die derart umfassend Daten erhoben wurden. Das Risiko unerkannter oder unerwünschter Nebenwirkungen ist daher deutlich kleiner als bei jeder anderen bisher durchgeführten Impfung. Dabei ist auch zu sehen, dass die STIKO erst in der 9. Aktualisierung der Covid-19 Impfempfehlung vom 19.08.2021 eine allgemeine Covid-19 Impfempfehlung für alle 12- bis 17-jährigen ausgesprochen hat, also zeitlich weit nach den Impfempfehlungen für Erwachsene und erst nachdem ausreichend Daten über Infektionsverläufe in dieser Altersgruppe und Nebenwirkungen der Impfung in älteren Altersgruppen vorlagen. Gleiches gilt für die „Booster“-Empfehlung für 12- bis 17-jährige vom 20.01.2022.
Einzelfallumstände, die vorliegend das konkrete Impfrisiko bei J. aufgrund individueller Besonderheiten als höher als den Nutzen einschätzen ließen, werden nicht vorgetragen und wären zudem vom die Impfung durchführenden Arzt zu berücksichtigen (OLG München a.a.O.). Im Übrigen sind bei beiden bereits erfolgten Impfungen keine Nebenwirkungen und Komplikationen aufgetreten.
III.
Eine Entscheidung über die einstweilige Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses des Amtsgerichts Weilheim ist durch die vorliegende Entscheidung überholt.
IV.
Gemäß § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG hat der Senat ohne erneute persönliche Anhörung der Beteiligten entschieden, da diese bereits im ersten Rechtszug erfolgt ist und ihre Wiederholung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse erwarten lässt.
V.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 84 FamFG, die Festsetzung des Wertes des Beschwerdeverfahrens beruht auf §§ 40, 41, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.


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