Familienrecht

Coronavirus, SARS-CoV-2, Kindeswohl, Arzt, Versorgung, Jugendamt, Kind, Haftung, Kinder, Kindeseltern, Teilhabe, Eltern, Impfung, Gefahr, Elternteil, Kostenentscheidung, besondere Gefahr, Gelegenheit zur Stellungnahme, medizinische Versorgung

Aktenzeichen  1 F 626/21

Datum:
20.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 49672
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Weilheim
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Entscheidung über eine einzelne Angelegenheit, nämlich die Zustimmung zu einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2, für das Kind J. S., geboren am xx.xx.2008 wird auf die Antragstellerin übertragen.
2. Der Verfahrenswert für das Verfahren der einstweiligen Anordnung wegen elterliche Sorge wird auf 2.000,00 € festgesetzt.
3. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Gründe

A.
Die Eltern üben das gemeinsame Sorgerecht für ihren am 23.12.2008 geborenen Sohn J. S. aus. Sie streiten darüber, ob ihr gemeinsamer Sohn gegen das Corona Virus SARS-CoV-2 mit einem sog. mRNA – Impfstoff geimpft werden soll. Die Mutter befürwortet die Impfung mit einem MRNA Impfstoff, der Vater stellt sich dagegen. Er erklärte im Anhörungstermin, dass er nur bereit sei, den gemeinsamen Sohn mit einem auf sog. Totimpfstoff bzw. mit einem Impfstoff auf Proteinbasis zu impfen.
Mit Schriftsatz vom 15.11.2021 beantragt die Mutter:
„Im Wege der einstweiligen Anordnung wird der Antragstellerin die alleinige Befugnis zur Entscheidung über die Impfung des gemeinsamen Sohnes der Parteien J. S., geboren am xx.xx.2008 gegen das Corona-Virus SARS CoV-2 übertragen.“
Der Antragsgegnervertreter trägt vor, dass er der Überzeugung ist, dass Corona für den Sohn der Beteiligten, wie für alle Kinder bis zum 17. Lebensjahr, keine besondere Gefahr darstelle. Er weist auf seine Strafanzeige vom 23.09.2021, vorgelegt als Anlage, die er bei allen deutschen Staatsanwaltschaften anbrachte. Die Impfung selbst berge Risiken, die diejenigen einer Coronaerkrankung weit übersteigen würden. Der Antragsgegner lehnt jegliche Haftung für Impfschäden beim Sohn ab. Es handele sich nicht um eine Angelegenheit „von erheblicher Bedeutung“ gem. § 1628 BGB. Für J. S. sei die gentechnische Impfung nicht von erheblicher Bedeutung, weil für Kinder praktisch keine Gefahr bestehe. Im letzten Jahr habe es bei Kindern vier Tote mit Coronabezug gegeben. Im Jahr davor seien es fünf Kinder mit der Begründung Influenza gewesen. Durch Corona habe sich für Kinder zwischen 12 und 17 Jahren kein erhöhtes Lebensrisiko gegeben. Das Lebensrisiko mit einer gentechnischen Impfung sei zehn bis sechzehnmal größer als bei einer Coronaerkrankung. Auf die Meinung des Kindes J. komme es nicht an, da er die Tragweite der durch die gentechnische Impfung drohenden Gefahren nicht abschätzen könne. Die erleichterte Teilhabe am sozialen Leben könne kein Argument für die Impfung sein.
Das Gericht hat eine Verfahrensbeiständin bestellt. Auf den Bericht der Verfahrensbeiständin vom 14.12.2021 wird verwiesen.
Das Gericht hörte im Anhörungstermin am 15.12.2021 die Eltern und das Kind J. im Beisein der Verfahrensbeiständin persönlich an. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen. Weiter erhielten die Verfahrensbeiständin und das Jugendamt Weilheim – Schongau sowie die Parteivertreter Gelegenheit zur Stellungnahme.
Es wird auf alle gewechselten Schriftsätze nebst aller Anlagen und sonstigen Aktenbestandteile Bezug genommen.
B.
I., Gemäß § 49 FamFG war eine Regelung im Wege der einstweiligen Anordnung zu treffen, da ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht.
Angesichts des Umstandes, dass die mitsorgeberechtigten Eltern kein Einvernehmen in der Frage der Corona Schutzimpfung des Kindes Joshua getroffen haben, besteht ein Regelungsbedürfnis.
Auch die in der Vorschrift vorausgesetzte Dringlichkeit des Regelungsbedürfnisses ist hier gegeben. Es liegt insbesondere dann vor, wenn ein Zuwarten bis zur Entscheidung in einer etwaigen Hauptsache nicht ohne Eintritt erheblicher Nachteile möglich wäre (BT-Drs. 16/6308, 199; OLG Brandenburg, ZKJ 2010, 251). Angesichts der vierten Infektionswelle in Deutschland besteht aus Sicht des Kindes unzweifelhaft ein dringendes Bedürfnis zur Klärung der Entscheidungskompetenz über die Frage der Corona Schutzimpfung. Ein Zuwarten auf eine Hauptsacheentscheidung beinhaltet das Risiko, das sich das betroffene Kind mit dem Corona-Virus infiziert und möglicherweise schwer erkrankt.
Die Entscheidung des Gerichts beruht auf § 1628 Satz 1 BGB. Danach kann das Familiengericht, wenn sich die Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge in einer einzelnen Angelegenheit oder in einer bestimmten Art von Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, nicht einigen können, auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen.
Die Durchführung der Schutzimpfung gegen das Corona – Virus SARS-CoV-2 ist eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 1628 Satz 1 BGB (vgl. BGH, Beschluss vom 3.5.2017 – XII ZB 157/16, NJW 2017, 2826).
Die Kindeseltern können sich nicht einigen.
Dem Antrag der Antragstellerin wird stattgegeben, da es dem Kindeswohl am besten entspricht, wenn die Angelegenheit durch sie entschieden wird.
Maßstab für eine Entscheidung nach § 1628 BGB ist allein das Kindeswohl, § 1697a BGB, sodass die Entscheidung dem Elternteil zu übertragen ist, dessen Ansicht dem Kindeswohl in der streitigen Frage am besten gerecht wird (Döll in: Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 1628 BGB, Rn. 13). Im Rahmen der Kindeswohlprüfung sind sämtliche Aspekte des Einzelfalls zu würdigen und auch die Folgewirkungen der Entscheidung für das Wohl und die Sozialisation des Kindes einzubeziehen (Staudinger/Lettmaier (2020) BGB § 1628, Rn. 73).
Vorliegend spricht für die Übertragung der Alleinentscheidungsbefugnis auf die Antragstellerin zum einen der geäußerte Wille des Kindes. J. ist fast 13 Jahre alt (geboren am xx.xx.2008). Er hat sich in seiner Anhörung ausdrücklich dafür ausgesprochen, die Impfung zu erhalten. Er hat seine Entscheidung damit begründet, dass er zum einen wieder seinen normalen Alltag leben und sich mit Freunden treffen möchte. Und zum anderen will er sich selbst und andere schützen vor einer Infektion mit dem Corona Virus.
Zudem hat die ständige Impfkommission (STIKO) in der 9. Aktualisierung der Covid-19-Impfempfehlung eine allgemeine Covid-19-Impfempfehlung für alle 12 – 17 – Jährigen ausgesprochen. Die Impfempfehlungen der STIKO sind in der Rechtsprechung des BGH als medizinischer Standard anerkannt worden. Daran nimmt die den Empfehlungen zugrunde liegende Einschätzung teil, dass der Nutzen der jeweils empfohlenen Impfung das Impfrisiko überwiegt (vgl. BGH, Beschluss vom 3.5.2017 – XII ZB 157/16, NJW 2017, 2826; vgl. dazu auch OLG München vom 18.10.2021, FamRZ 2021, 1980, 1981; AG Bensheim Beschluss vom 22.6.2021 – 71 F 257/21 EASO, BeckRS 2021, 22883 Rn. 8-26, beck-online; NZFam 2021, 767, beck-online). Hat die STIKO eine bestimmte Impfung empfohlen, gibt dies den medizinischen Standard wieder, da diese Empfehlungen auf einer unabhängigen und sachverständigen Einschätzung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses auf Basis der aktuell verfügbaren Erkenntnisse beruhen. Daher ist im Regelfall die Entscheidung dem Elternteil zu übertragen, der den Empfehlungen der STIKO folgen möchte (BGH, FamRZ 2017, 1057 Rz. 22 ff.; OLG Frankfurt/M., FamRZ 2021, 853 f.; zum medizinischen Standard Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl. 2021, Kap. X Rz. 5 ff.). Es besteht auch keine Veranlassung, von diesem Grundsatz abzuweichen aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Covid-19-Impfung mit einem mRNA Impfstoff nicht um eine langjährig bewährte Standardimpfung, sondern um einen völlig neuen Impfstoff handelt. Denn es ist ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Expertenkommission der STIKO auch und gerade bei der Impfung gegen Covid-19 eine sehr sorgfältige Prüfung angestellt und unter Abwägung aller sachverständigen Erkenntnisse die entsprechende Impfempfehlung für 12-17-Jährige ausgesprochen hat (vgl. OLG München, Beschluss vom 08. September 2021 – 26 UF 928/21 und OLG München, Beschluss vom 18.10.2021, Az. 26 UF 928/21, FamRZ 2021, 1980, 1981). Es können allerdings im Einzelfall besondere Impfrisiken vorliegen. Diese sind – wie auch bei anderen medizinischen Maßnahmen – in die Nutzen-Risiko-Abwägung einzustellen. Das ist primär eine Aufgabe des behandelnden Arztes bei der Stellung der Indikation für die Impfung im konkreten Fall (zur Indikation Lipp, MedR 2015, 762 ff.). Es ist aber auch bei der gerichtlichen Entscheidung nach §§ 1628, 1697a BGB zu berücksichtigen, welcher Elternteil solche besonderen Umstände beachten und ggf. gegenüber dem Arzt vorbringen wird (vgl. OLG Frankfurt/M., FamRZ 2021, 853, 854; FamRZ 2021, 1533, 1536). Besondere Risiken bezogen auf das Kind J. wurden weder vom Vater noch von der Mutter vorgebracht. Der Vater spricht sich im Allgemeinen gegen eine Impfung mit einem sog. mRNA Impfstoff aus. Begründet dies aber nicht mit besonderen Umständen betreffend das Kind J.. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Mutter etwaige besondere Umstände bezogen auf das Kind J. dem behandelnden Arzt nicht vorbringen könnte.
Es liegt alleine in der Verantwortung des behandelnden Arztes, die konkreten Impfrisiken für das Kind J. zu berücksichtigen und dementsprechend die Impfung durchzuführen oder nicht. Aufgrund der als medizinischer Standard anerkannten Empfehlungen der STIKO ist die Erholung eines Sachverständigengutachtens nicht erforderlich (vgl. BGH aaO; OLG München vom 08.09.2021 und 18.10.2021, 26 UF 928/21, FamRZ 2021, 1980, 1981)
Weiter ist die Mutter die Hauptbezugsperson des Kindes J., die sich um seinen Alltag und seine medizinische Versorgung, auch im Krankheitsfall, kümmert (FamRZ 2021, 1980, 1981).
Die Festsetzung des Verfahrenswertes für das Verfahren der einstweiligen Anordnung wegen elterlicher Sorge beruht auf §§ 41, 45 FamGKG.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 51 Abs. 4, 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Für die Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung gelten die allgemeinen Vorschriften.


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