Familienrecht

Keine Erteilung der Pflegeerlaubnis bei Überforderung der Pflegeperson mit der Betreuung eines weiteren Kindes

Aktenzeichen  Au 3 K 16.793

Datum:
28.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII SGB VIII § 27, § 33, § 35, § 36 Abs. 1 S. 4, § 44 Abs. 2 S. 1, § 49
AGSG AGSG Art. 35 S. 2 Nr. 2

 

Leitsatz

1 Die landesgesetzliche Regelvermutung des Art. 35 S. 2 Nr. 2 Hs. 1 Alt. 2 AGSG steht mit Bundesrecht im Einklang (ebenso BayVGH BeckRS 2009, 43583). (redaktioneller Leitsatz)
2 § 44 Abs. 2 S. 1 SGB VIII ist nicht etwa so zu verstehen, dass das Wohl des Kindes nur dann nicht gewährleistet ist, wenn die Voraussetzungen einer konkreten Kindeswohlgefährdung gegeben sind. Vielmehr ist ausreichend, dass bei der zu treffenden Prognoseentscheidung genügend Anhaltspunkte vorliegen müssen, die eine positive Entwicklung („Wohl des Kindes“) mit großer Sicherheit („Gewährleistung“) erwarten lassen. (redaktioneller Leitsatz)
3 Das in § 36 Abs. 1 S. 4 SGB VIII geregelte Wunsch- und Wahlrecht des Personensorgeberechtigten und des Kindes erstreckt sich nur auf Pflegeeltern, die in der Lage sind, die im Einzelfall gebotene Hilfe uneingeschränkt zu erbringen (ebenso BayVGH BeckRS 2009, 33949). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist das Rechtsschutzinteresse zu bejahen, weil die Erteilung der Pflegeerlaubnis für das Kind … vom 5. April 2016 bis 9. Mai 2017 Voraussetzung dafür ist, dass es sich damals bei der Unterbringung des Kindes in der Familie der Kläger um eine geeignete Hilfe zur Erziehung gehandelt hat und damit ein Anspruch auf Übernahme der Kosten nach §§ 27, 35 und 39 SGB VIII besteht.
2. Die Klage ist jedoch unbegründet.
Einem Anspruch auf Erteilung der begehrten Pflegeerlaubnis (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) steht die gesetzliche Regelvermutung des Art. 35 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 2 AGSG entgegen, wonach in der Regel von einer Überforderung der Pflegeperson auszugehen ist, wenn sich bereits drei Pflegekinder in der Pflegestelle befinden. Den Klägern ist es nicht gelungen, diese Regelvermutung zu widerlegen.
Gemäß Art. 35 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 1 Alt. 2 AGSG ist eine Pflegeerlaubnis insbesondere zu versagen, wenn eine Pflegeperson mit der Betreuung eines weiteren Kindes überfordert ist. Davon ist in der Regel auszugehen, wenn sich bereits drei Pflegekinder in einer Pflegefamilie befinden (Art. 35 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 2 AGSG). Diese landesgesetzliche Regelvermutung steht mit Bundesrecht im Einklang (vgl. BayVGH, B.v. 19.8.2009 – 12 C 09.953 – juris Rn. 6). § 49 SGB VIII bestimmt ausdrücklich, dass das Landesrecht das Nähere über die Pflege eines Kindes in Familien und in Einrichtungen regelt. Wie ein Vergleich mit § 44 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII zeigt, der die Rücknahme und den Widerruf einer bereits erteilten Pflegeerlaubnis regelt, ist § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nicht etwa so zu verstehen, dass das Wohl des Kindes nur dann nicht gewährleistet ist, wenn die Voraussetzungen einer konkreten Kindeswohlgefährdung gegeben sind (vgl. Mörsberger in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 44 Rn. 18a). Entgegen der Auffassung der Kläger ist deshalb nicht zu fordern, dass die Überforderung der Pflegeeltern tatsächlich belegt ist. Vielmehr ist aus der Formulierung des § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zu folgern, dass bei der zu treffenden Prognoseentscheidung genügend Anhaltspunkte vorliegen müssen, die eine positive Entwicklung („Wohl des Kindes“) mit großer Sicherheit („Gewährleistung“) erwarten lassen (Mörsberger a.a.O. Rn. 10). Dies ist verfassungsrechtlich unbedenklich, weil das Aufenthaltsbestimmungsrecht der sorgeberechtigten Mutter dort seine Grenze findet, wo das Kindeswohl nicht gewährleistet ist. Abgesehen davon können sich die Kläger bei der Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nur auf die Verletzung eigener Rechte mit Erfolg berufen, nicht aber auf solche der sorgeberechtigten Mutter (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Kläger haben die gesetzliche Regelvermutung, dass sie durch die Aufnahme des vierten Pflegekindes überfordert sind, nicht widerlegt. Hierbei hat besonderes Gewicht, dass zwei der drei bereits aufgenommenen Pflegekinder einen erhöhten bzw. besonderen Förderbedarf haben (vgl. Stellungnahme des Fachdienstes Pflegekinderwesen vom 15.4.2016). Ein solcher qualifizierter Förderbedarf besteht auch bei, die sich wegen traumatischer Erlebnisse (u.a. Tod des Vaters) in psychotherapeutischer Behandlung befindet (vgl. Psychotherapeutische Stellungnahme des Dr. … vom 15.3.2016). Es kommt hinzu, dass der Fachdienst Pflegekinderwesen, dem bei der Einschätzung der Situation vor Ort eine besondere Sachkompetenz zukommt, aufgrund der dargelegten einzelfallbezogenen Umstände die (konkrete) Gefahr sieht, dass sich die Kläger mit der Aufnahme eines weiteren Kindes überfordern und sich damit die Situation für alle Kinder in der Familie deutlich verschlechtert. Diese Einschätzung wurde nicht „vom grünen Tisch aus“ getroffen. Vielmehr konnte sich der zuständige Dipl. Sozialpädagoge des „Fachdienstes Pflegekinderwesen“ im Rahmen der regelmäßig im Halbjahresrhythmus stattfindenden Hilfeplangespräche ein persönliches Bild von der Belastungssituation machen, in der sich die Pflegefamilie bereits vor der Aufnahme von … befunden hat. Die durch den wiederholten persönlichen Kontakt gewonnenen Erkenntnisse führten zu der Einschätzung, dass die Kläger mit den bereits vorhandenen drei Pflegekindern im Wesentlichen ausgelastet waren. Insbesondere die Betreuung des deutlich verhaltensauffälligen Pflegekindes, bei dem schwerpunktmäßig eine schwere Bindungsstörung diagnostiziert worden war und der trotz des großen Einsatzes der Pflegeeltern von der Regelgrundschule in … in eine Schule zur Erziehungshilfe in … wechseln musste, stellte die Pflegeeltern vor eine große Herausforderung. Ähnliches drängte sich bezüglich des Pflegekindes … auf, für das der Bezirk … aufgrund verschiedener, den Pflege- und Erziehungsaufwand erheblich erhöhender Defizite ein erhöhtes Pflegegeld einschließlich einer Monatspauschale für familienentlastende Maßnahmen gewährte. Die Hilfeplangespräche wurden in der Folgezeit, also nach der Aufnahme von … in der Familie der Kläger, in dem Halbjahresrhythmus fortgesetzt, wobei der Eindruck der Fachkraft im Hinblick auf eine drohende Überforderung im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Auch wenn es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gab, dass durch das weitere Verbleiben von … in der Pflegefamilie das Kindeswohl gefährdet war, weil insbesondere die Klägerin die Lage weiterhin „im Griff“ hatte, bestand das Risiko einer mittel- bis langfristig eintretenden Überforderung. Im Gegensatz zu der Fachkraft des Beklagten kannte die Mitarbeiterin des Jugendamts des Landkreises, die den Kontakt zwischen den Klägern und der Kindsmutter vermittelte, die Verhältnisse vor Ort offenkundig nicht aus eigener Anschauung. Abgesehen davon teilen sowohl das Jugendamt des Landkreises … als auch die Regierung von … nach wie vor uneingeschränkt die Auffassung des Beklagten (siehe Bescheid vom 30.3.2016 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 21.7.2016 über die Ablehnung des Antrags der sorgeberechtigten Mutter des Kindes auf Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung des Kindes bei der Pflegefamilie der Kläger und Übernahme der dafür anfallenden Kosten).
Demgegenüber sind die vorgelegten Äußerungen, die überwiegend von Privatpersonen stammen, nicht geeignet, die fachkundige Einschätzung des Fachdienstes Pflegekinderwesen ernstlich in Zweifel zu ziehen oder gar zu widerlegen. Die Mutter von … und … selbst waren offenkundig nicht in der Lage, die Belastung der Kläger objektiv einzuschätzen. Schon deshalb war der Beklagte nicht verpflichtet, sie anzuhören. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 36 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII. Das dort geregelte Wunsch- und Wahlrecht des Personensorgeberechtigten und des Kindes erstreckt sich nur auf Pflegeeltern, die in der Lage sind, die im Einzelfall gebotene Hilfe uneingeschränkt zu erbringen (vgl. BayVGH, U.v. 30.3.2006 – 12 B 04.1261 – juris Rn. 12). Auch die Stellungnahmen und Eindrücke von Verwandten, guten Bekannten und Nachbarn sind naturgemäß nur sehr eingeschränkt aussagekräftig. Selbst die psychotherapeutische Stellungnahme vom 15. März 2016, die offenbar am Tag der Aufnahme von … in die Pflegefamilie der Kläger abgegeben wurde, lässt nur sehr begrenzt Rückschlüsse auf die tatsächliche Belastung der Kläger durch die Betreuung der Pflegekinder und der eigenen Kinder zu. Gleiches gilt für die Stellungnahme des Förderzentrums … in … vom 1. Juni 2016, die sich ausschließlich mit dem Pflegekind … und seinem (sehr guten) Verhältnis zur Klägerin befasst, und die E-Mail einer Dipl. Pädagogin des Stadtjugendamts … vom 19. Mai 2016 an die Klägerin. Zwar lässt das Gesamtbild der vorgelegten Äußerungen darauf schließen, dass die sehr engagierte und für die Betreuung von Pflegekindern qualifizierte Klägerin die Lage damals „im Griff“ hatte. Da sich die Belastungssituation in der Folgezeit nicht wesentlich entspannt hat, besagt dies aber nicht, dass die Kläger aus damaliger Sicht mittel- bis langfristig die Lage weiterhin „im Griff“ haben würden.
Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen, weil sie unterlegen sind (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Eine Streitwertfestsetzung ist nicht veranlasst, weil Gerichtskosten nicht erhoben werden (§ 188 Abs. 2 Halbs. 1 VwGO).


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