Familienrecht

XIII ZB 95/19

Aktenzeichen  XIII ZB 95/19

Datum:
23.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:230321BXIIIZB95.19.0
Normen:
§ 417 Abs 2 FamFG
Art 2 Abs 2 GG
Art 6 Abs 1 GG
Art 8 MRK
Spruchkörper:
13. Zivilsenat

Verfahrensgang

vorgehend LG Bamberg, 29. April 2019, Az: 41 T 48/19vorgehend AG Bamberg, 2. April 2019, Az: 15 XIV B 71/19

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Bamberg vom 2. April 2019 und der Beschluss des Landgerichts Bamberg – 4. Zivilkammer – vom 29. April 2019 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen in allen Instanzen werden dem Freistaat Bayern auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1
I. Die Betroffene, eine russische Staatsangehörige, reiste gemeinsam mit ihren zu diesem Zeitpunkt fünfzehn- und achtjährigen Kindern am 20. Juli 2018 nach Deutschland ein. Ihren Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 9. Oktober 2018 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Frankreich an. Am 29. März 2019 scheiterte der Versuch, die Betroffene und ihre Kinder nach Frankreich zu überstellen, weil sie trotz vorheriger Ankündigung in der Unterkunft nicht angetroffen wurden.
2
Das Amtsgericht hat auf Antrag der beteiligten Behörde gegen die Betroffene am 2. April 2019 Überstellungshaft nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 6, § 2 Abs. 15 Satz 1 und 2 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (fortan: aF) bis zum 14. Mai 2019 angeordnet. Das Landgericht hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt, beantragt die Betroffene die Feststellung, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 2. April 2019 und des Beschwerdegerichts vom 29. April 2019 sie in ihren Rechten verletzt haben.
3
II. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
4
1. Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei zu Recht angeordnet worden. Der Haftantrag der beteiligten Behörde genüge den Anforderungen des § 417 Abs. 2 FamFG. Dies gelte auch für die Darstellung der voraussichtlich erforderlichen Haftdauer. Eine mehrwöchige Trennung von den minderjährigen Kindern sei nicht unzulässig. Die Tochter sei bereits 16 Jahre alt und damit in der Lage, mehrere Wochen von der Mutter getrennt zu leben. Hinsichtlich des neunjährigen Sohnes bestünden keine Bedenken, solange er mit seiner Schwester zusammenbleibe und die ständige Betreuung durch das Jugendamt gewährleistet sei.
5
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Es fehlt bereits an einem zulässigen Haftantrag.
6
a) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein; die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte müssen jedoch nachvollziehbar vorgetragen werden, so dass der Haftrichter konkrete Nachfragen stellen kann. Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 – V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 – XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 19. Oktober 2020 – XIII ZB 43/19, juris Rn. 17, und vom 15. Dezember 2020 – XIII ZB 93/19, juris Rn. 10).
7
b) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag der beteiligten Behörde weder hinsichtlich der Erforderlichkeit der Haft noch hinsichtlich der notwendigen Haftdauer gerecht.
8
aa) Zwar ist eine Haftanordnung im Interesse der Durchsetzung der Überstellung auch bei einer Trennung der betroffenen Person von ihren minderjährigen Kindern grundsätzlich gerechtfertigt, wenn ein Haftgrund vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juni 2010 – V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384 Rn. 27). Im Falle gelebter Beziehungen von Eltern zu minderjährigen Kindern darf Haft zur Sicherung einer Abschiebung oder Überstellung gegen einen Elternteil aber nur im äußersten Fall und nur für die kürzestmögliche angemessene Dauer angeordnet werden, da die Haft in diesem Fall nicht nur in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG der betroffenen Person, sondern zugleich in das Grundrecht auf den Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und das Recht auf den Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) eingreift (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 – V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318 Rn. 27; vom 19. Mai 2011 – V ZB 167/10, NVwZ 2011, 1216 Rn. 7; vom 6. Dezember 2012 – V ZB 218/11, InfAuslR 2013, 154 Rn. 11; vom 12. Dezember 2013 – V ZB 214/12, juris Rn. 12). Das folgt bei der Durchführung einer Überstellung nach der Dublin-III-Verordnung auch aus den unionsrechtlichen Vorgaben der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls, Art. 28 Abs. 4 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 11 Abs. 2 Unterabsatz 2 EU-Aufnahme-RL, Erwägungsgründe 13 und 14 Dublin-III-VO (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 732/14, juris Rn. 16; VG Bayreuth, Beschluss vom 14. November 2017 – B 6 S 17.50926, juris Rn. 44). Es gilt in ganz besonderem Maße, wenn die minderjährigen Kinder – wie hier – während der Haft des Elternteils nicht durch den anderen Elternteil oder ein anderes volljähriges Familienmitglied betreut werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2013 – V ZB 214/12, juris Rn. 14). In diesem Fall ist zur Gewährleistung des Kindeswohls besonders sorgfältig zu prüfen, welche Maßnahmen in Betracht kommen, um eine Trennung der Familie zu verhindern (vgl. auch Huber/Beichel-Benedetti, AufenthG, 2. Aufl., § 62 Rn. 22).
9
bb) Der Haftantrag enthält indes zu diesem für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkt keine Ausführungen. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung werden die Kinder der Betroffenen nicht erwähnt. Die Verhältnismäßigkeit wird nur unter dem Gesichtspunkt erörtert, ob ein milderes Mittel als die Inhaftierung der Betroffenen zur Sicherung ihrer Überstellung gegeben sei. Auch die Ausführungen zu der beantragten Haftdauer lassen nicht erkennen, dass deren Notwendigkeit nach den im Hinblick auf die Trennung der Familie geltenden strengen Maßstäben geprüft und bejaht worden wäre. Vielmehr ergibt sich aus dem Haftantrag, dass der Behörde noch nicht einmal der Aufenthaltsort der Kinder der Betroffenen bekannt war. Denn es wird lediglich erwähnt, dass nach ihnen auf dem Gelände der Unterkunft gefahndet werde und sie nach ihrem Aufgreifen in die Obhut des Jugendamtes übergeben würden.
10
c) Diese Mängel wurden nicht geheilt.
11
aa) Mängel des Haftantrags können behoben werden, indem die Behörde von sich aus oder auf richterlichen Hinweis ihre Darlegungen ergänzt und dadurch die Lücken in ihrem Haftantrag schließt oder das Gericht die erforderlichen Tatsachen in seiner Entscheidung feststellt. Die Heilung setzt stets voraus, dass der Betroffene zu den ergänzenden Angaben persönlich angehört wird (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 – V ZB 136/11, InfAuslR 2011, 471 Rn. 8, und vom 12. Februar 2020 – XIII ZB 16/19, InfAuslR 2020, 241 Rn. 12).
12
bb) Dies zugrunde gelegt, scheidet eine Heilung hier aus. Die beteiligte Behörde hat ihre Angaben vor oder während der Anhörung der Betroffenen am 2. April 2019 nicht ergänzt. Der amtsgerichtliche Beschluss enthält keine Erwägungen zu der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Trennung der Familie. Auch die Begründung des Beschwerdegerichts vermag – was mit Wirkung für die Zukunft möglich gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2016 – V ZB 24/14, juris Rn. 9 mwN) – die Mängel des Haftantrages nicht zu heilen. Die Beschwerdeentscheidung enthält schon keine Feststellungen dazu, wo sich die Kinder der Betroffenen befinden und wie und durch wen sie betreut werden. Auch das Beschwerdegericht hat die Verhältnismäßigkeit der angeordneten sechswöchigen Haft und der damit einhergehenden Trennung der Familie in diesem Zeitraum nach den obigen Maßstäben weder geprüft noch die Betroffene dazu angehört.
13
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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