Handels- und Gesellschaftsrecht

Einschränkung der Ausschlussfrist in § 21 Abs. 3 S. 1 VVG erfordert Zusammenhang zwischen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit und vor Ablauf der Frist eingetretenem Versicherungsfall

Aktenzeichen  25 U 851/18

Datum:
28.9.2018
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 48770
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG § 19, § 21 Abs. 3 S. 1

 

Leitsatz

Im Rahmen der Ausschlussfrist des § 21 Abs. 3 S. 1 VVG hindert ein vor Fristablauf eingetretener Versicherungsfall den Ablauf der Frist nach dem Rechtsgedanken des § 21 Abs. 2 VVG nicht, sofern sich die Verletzung der Anzeigepflicht auf einen Umstand bezieht, der weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalles noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich ist. (Rn. 11 – 15) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

73 O 3522/16 2018-02-09 Endurteil LGLANDSHUT LG Landshut

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Landshut vom 09.02.2018, Az. 73 O 3522/16, wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Landshut ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des je zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Gründe

I.
Die Parteien streiten um eine im Wege der Vertragsanpassung gemäß § 19 Abs. 4 S. 2 VVG nachträglich aufgenommene Ausschlussklausel in einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitszusatzversicherung.
Der Kläger schloss gemäß Versicherungsvorschlag vom 30.04.2009 (Anlage K 1) bei der Beklagten einen Vertrag über eine kapitalbildende Lebensversicherung mit einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Die im Antragsformular unter Punkt 6.16 gestellte Frage nach Unfällen mit dem Klammerzusatz „(unerheblich sind einfache, folgenlos verheilte Knochenbrüche ohne Gelenkbeteilung)“ verneinte der Kläger, der geltend macht, er habe unter Erwähnung einer im Jahre 2008 gegenüber dem Zeugen D. als Vertreter der Beklagten erlittenen Wadenbeinfraktur die Frage nach seinem damaligen Kenntnisstand zutreffend beantwortet. Nachdem der Kläger wegen einer Erkrankung, die unstreitig nicht im Zusammenhang mit der im Jahre 2008 erlittenen Fraktur steht, Leistungen aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung beantragt hatte, welche die Beklagte gemäß Schreiben vom 07.01.2015 (Anlage K 9) rückwirkend ab 01.11.2013 bis 31.05.2015 gewährt hat, teilte diese dem Kläger mit Schreiben vom 23.12.2014 (Anlage K 4) mit, sie habe im Rahmen der durchgeführten Gesundheitsprüfung in Erfahrung gebracht, dass der Kläger am 08.11.2008 eine Fraktur am linken Außenknöchel erlitten habe. Bei zutreffender Beantwortung dieser erfragten gesundheitlichen Beeinträchtigung hätte sie den Kläger nur mit einer Vereinbarung versichern können, wonach sämtliche Ansprüche wegen Berufsunfähigkeit vom Versicherungsschutz ausgeschlossen seien, sofern die Unfallverletzung am linken Außenknöchel des Fußes oder nachgewiesene Folgen dieses Leidens die Ursache bilden würden. Wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht schließe die Beklagte hiermit nach § 19 VVG die genannte Vereinbarung rückwirkend ab Beginn der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung ein. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Anlage K 4 Bezug genommen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage. Hinsichtlich des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien, der Prozessgeschichte sowie der gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des Ersturteils vom 09.02.2018 (S. 2/5; Bl. 108/111 d.A.; Bd. I) Bezug genommen.
Das Landgericht hat dem Hauptantrag des Klägers entsprochen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme gehe das Gericht von einer schuldlosen bzw. allenfalls leicht fahrlässigen Anzeigepflichtverletzung durch den Kläger aus. Die Rechte des Versicherers aus § 19 Abs. 2 – 4 VVG seien daher gemäß § 21 Abs. 3 VVG nach Ablauf von 5 Jahren seit Vertragsschluss erloschen, soweit nicht Versicherungsfälle vorliegen würden, die vor Ablauf dieser Frist eingetreten seien. Letzteres sei weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Versicherungsurkunde (Anlage K 3) datiere vom 11.05.2009. Zum Zeitpunkt der Ausübung des Anpassungsrechts durch Schreiben vom 23.12.2014 sei die 5 – Jahresfrist daher bereits abgelaufen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf S. 6/8 des Ersturteils (Bl. 112/114 d.A.; Bd. I) Bezug genommen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, welche rügt, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt, dass ein Versicherungsfall im Oktober 2013 eingetreten sei und eine Leistungsverpflichtung der Beklagten ab 01.11.2013 begründet habe, was sich aus der vom Kläger selbst vorgelegten Anlage K 9 ergebe. Versicherungsbeginn sei der 01.05.2009 gewesen. Nachdem der Versicherungsfall damit vor Ablauf der 5 – Jahresfrist eingetreten sei, seien die Rechte nach § 19 Abs. 2- 4 gemäß § 21 Abs. 3 S.1 2. Halbsatz VVG nicht nach Ablauf von 5 Jahren erloschen und die mit Schreiben vom 23.12.2014 erklärte Vertragsanpassung selbst bei schuldloser vorvertraglicher Anzeigepflichtverletzung jedenfalls rückwirkend ab der laufenden Versicherungsperiode zum 01.05.2014 berechtigt gewesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung vom 12.04.2014 und den Schriftsatz der Beklagten vom 30.05.2018 (Bl. 7/10 und Bl. 17/17 d.A.; Bd. II) Bezug genommen.
Die Beklagte beantragt im Berufungsverfahren:
Das Urteil des Landgerichts Landshut vom 09.02.2018, Aktenzeichen: 73 O 3552/16, abzuändern und die Klage vollen Umfangs abzuweisen.
Hilfsweise wird beantragt,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Bewilligung der Berufsunfähigkeitsleistungen beruhe auf einer psychischen Ursache und daher nicht auf dem Unfall aus dem Jahr 2008. Die Voraussetzungen für eine Anpassung nach § 19 VVG würden nicht vorliegen. Da dem Kläger nachweislich keine zu vertretende Pflichtverletzung zur Last gelegt werden könne, sei eine Anpassung ohnehin allenfalls für die Zukunft möglich. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungserwiderung vom 15.05.2018 und den Schriftsatz des Klägers vom 28.06.2018 (Bl. 13/15 und Bl. 23/24 d.A.; Bd. II) Bezug genommen.
Der Senat hatte zunächst die Ansicht vertreten, dass die Berufung der Beklagten Aussicht auf Erfolg habe. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 05.06.2018 (Bl. 19/21 d.A.; Bd. II) sowie die Ladungsverfügung vom 02.07.2018 (Bl. 25 d.A.; Bd. II, Ziff. 2) Bezug genommen. An dieser, auf die zitierte Kommentierung bei Prölss/Martin gestützte Rechtsansicht, hat der Senat in der Folge nicht festgehalten, worauf er die Parteien im Termin vom 31.07.2018 (S. 2 des Protokolls; Bl. 29 d.A.; Bd. II) hingewiesen hat.
Die Beklagte hat zu diesem Hinweis mit Schriftsatz vom 27.08.2018 (Bl. 31/32 d.A.) Stellung genommen.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Der Eintritt des Versicherungsfalls im Jahr 2013, anlässlich dessen die Beklagte im Rahmen der Leistungsprüfung die Informationen über eine Fraktur mit Gelenkbeteiligung beim Kläger im Jahr 2008 erhalten hat, die zu der von ihr vorgenommenen, hier streitigen Vertragsanpassung führte, steht dem Ablauf der 5 – Jahresfrist gemäß § 21 Abs. 3 S. 1 VVG nicht entgegen, weil diese Informationen für die Regulierung des Versicherungsfalls keine Bedeutung hatten. Dies ergibt die Auslegung der Regelung in § 21 Abs. 3 S.1 VVG. Danach erlöschen die Rechte des Versicherers nach § 19 Abs. 2 bis 4 VVG nach Ablauf von fünf Jahren nach Vertragsschluss; dies gilt nicht für Versicherungsfälle, die vor Ablauf dieser Frist eingetreten sind. Zu klären ist im Rahmen der Auslegung, ob der objektive Eintritt eines Versicherungsfalls, auch wenn dieser ohne Bezug zu einer Anzeigepflichtverletzung steht, genügt, um den Ablauf der 5 – Jahresfrist zu hindern (Variante A; so etwa die im Beschluss vom 05.06.2018 zitierte Kommentierung bei Prölss/Martin/Armbrüster, 30. Aufl. 2018, VVG § 21 Rn. 45), oder ob vor Fristablauf eingetretene Versicherungsfälle den Ablauf der Frist nicht hindern, sofern sich die Verletzung der Anzeigepflicht auf einen Umstand bezieht, der weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalles noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich ist (Rechtsgedanke des § 21 Abs. 2 VVG; Variante B).
In der Literatur wird, soweit ersichtlich, diese Frage überwiegend zur Gunsten der Variante A beantwortet: Für die Variante A Prölss/Martin/Armbrüster, 30. Aufl. 2018, VVG § 21 Rn. 45; Rolfs in Bruck/Möller, VVG, 9. A. 2008; § 21 VVG, Rn.49; Knappmann in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungshandbuch, 3. A. 2015, § 14 Rn. 89, für die Variante B wohl Langheid/Wandt/Muschner, 2. Aufl. 2016, VVG, § 21 Rn. 65.
Der Senat erachtet die Auslegung gemäß Variante B für zutreffend. Die Formulierung „…dies gilt nicht für Versicherungsfälle, die vor Ablauf dieser Frist eingetreten sind.“zeigt, dass der Gesetzgeber einen Bezug zwischen der die Rechte des Versicherers gemäß § 19 Abs. 2 – 4 VVG auslösenden Anzeigepflichtverletzung und dem vor Ablauf der Frist eingetretenen Versicherungsfall herstellen wollte. Andernfalls hätte die Formulierung „…dies gilt nicht, wenn ein Versicherungsfall vor Ablauf dieser Frist eingetreten ist“, wesentlich näher gelegen. Dass der Gesetzgeber keine Formulierung wie in § 21 Abs. 2 S. 1 VVG verwendet hat, spricht, entgegen der Ansicht der Beklagten vor dem Hintergrund der vorgenannten Ausführungen nicht gegen dieses Auslegungsergebnis.
Zutreffend ist allerdings der Einwand (vgl. die zitierte Kommentierung bei Prölss/Martin/Armbrüster), dass die Regelung unklar formuliert ist, da sich die in § 19 Abs. 2 -4 VVG genannten Rechte des Versicherers nicht auf bestimmte Versicherungsfälle beziehen und es auch nicht möglich ist, diese Rechte nur mit Wirkung für einen Versicherungsfall auszuüben, sondern diese Rechte, namentlich Rücktritt und Vertragsanpassung nicht nur zur Leistungsfreiheit des Versicherers führen können, sondern auch das Vertragsverhältnis als Ganzes erfassen. Der Wortlaut der Regelung spricht nach Auffassung des Senats jedenfalls eindeutig dafür, dass der Gesetzgeber den Ablauf der 5 – Jahresfrist nur für solche Anzeigepflichtverletzungen ausschließen wollte, die im Zusammenhang mit dem vor Ablauf dieser Frist eingetretenen Versicherungsfall stehen und für dessen Regulierung relevant sind.
Sinn und Zweck der Regelung bestätigen dieses Auslegungsergebnis. Zweck der Ergänzung des § 21 VVG durch Einfügung des § 21 Abs. 3 S. 1 2. Halbsatz VVG ist es, Missbräuche zu verhindern. Es soll vermieden werden, dass die Meldung eines Versicherungsfalls, für den wegen einer Anzeigepflichtverletzung nicht eingetreten werden müsste, bis nach Ablauf der Ausschlussfrist verzögert wird und der Versicherer seine Rechte deshalb nicht mehr geltend machen kann (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/5862 v. 28. 06. 2007 zu § 21 Abs. 3 VVG; dort S. 99). Ein solcher Missbrauch ist indes nur dann zu besorgen, wenn der Versicherer Leistungen für einen Versicherungsfall erbringen müsste, für den er wegen einer Anzeigepflichtverletzung nicht einzutreten hätte (so auch OLG Braunschweig, NJW-RR 2016, 479; allerdings für die abweichende Fallkonstellation, in welcher der Versicherungsnehmer nach Ablauf der Fünfjahresfrist Leistungen für einen Versicherungsfall beansprucht, der vor Ablauf der Frist eingetreten sein soll, tatsächlich aber wegen fehlender Leistungsvoraussetzungen nicht vorliegt). Dass der Versicherungsnehmer die Anzeige eines Versicherungsfalls im Hinblick auf etwa mögliche, in der Zukunft liegende Versicherungsfälle hinausschieben würde, liegt demgegenüber eher fern.
Die Beklagte hat den Vortrag des Klägers im Schriftsatz vom 15.05.2018 (S. 2; Bl. 13 d.A.; Bd. II), die Bewilligung der Berufsunfähigkeitsleistungen beruhe auf einer psychischen Ursache und daher nicht auf dem Unfall aus dem Jahr 2009, nicht bestritten. Dass sich die Verletzung der Anzeigepflicht auf einen Umstand bezieht, der entweder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalles, für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich ist, wird von der Beklagten nicht geltend gemacht. Konsequenterweise hat die Beklagte auch ihre Leistungspflicht mit Schreiben vom 07.01.2015 (Anlage K 9) rückwirkend ab 01.11.2013 anerkannt.
Daher war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision war zuzulassen, § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Auslegung des § 21 Abs. 3 S. 1 2. Halbsatz VVG wird in der Kommentarliteratur überwiegend abweichend beurteilt. Eine Sache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfragen aufwirft, die sich über den Einzelfall hinaus in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen können und deshalb für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind.
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Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 8.767,33 € festgesetzt.  


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