IT- und Medienrecht

Vergütungsanspruch der Apotheke für Wirkstoffzubereitungen

Aktenzeichen  S 21 KR 333/14

Datum:
13.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 3686
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 2 Abs. 2 S. 3, § 129 Abs. 2, Abs. 5 S. 1
BGB § 387

 

Leitsatz

1 Eine Regelung in der Hilfstaxe, dass nach einer gewissen Zeit ein Verwurf abgerechnet werden darf, kann zwar einen Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenversicherung ergeben, befreit die Apotheke jedoch nicht von einer eigenen Prüfung der Haltbarkeit eines Arzneimittels. (redaktioneller Leitsatz)
2 Ist die die Apotheke überzeugt, dass eine Zubereitung entgegen der Regelung in der Hilfstaxe nicht mehr haltbar ist, so darf sie dieses nicht in den Verkehr bringen und darf dies nicht unter Berufung auf reine Abrechnungsregeln an Patienten ausliefern. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
3 Im Rahmen der Abrechnungsprüfung muss geprüft werden, ob ein unvermeidbarer Verwurf vorliegt, also insbesondere ob die Haltbarkeit überschritten ist. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt 3.308,12 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.08.2014 zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
IV. Der Streitwert wird auf 3321,11 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG zulässig (§§ 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG, 54 Abs. 5 SGG, 57 Abs. 1) und überwiegend begründet. Die Klägerin hat einen Zahlungsanspruch gegenüber der Beklagten in Höhe von 3310,12 EUR nebst ZInsen.
Eines Vorverfahrens gemäß § 78 ff SGG bedurfte es nicht, so dass auch keine Klagefrist einzuhalten war (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rn.. 41).
Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Gemäß § 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 SGG kann ein Urteil ohne mündliche Verhandlung ergehen, wenn die Beteiligten ausdrücklich zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung angehört wurden und hierzu von ihnen auch ausdrücklich ein Einverständnis mit dieser Entscheidung erklärt wurde. Diese Voraussetzung ist gegeben. Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis zu Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28.04.2017 erteilt.
Die Klage ist zulässig und überwiegend begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung der noch ausstehenden Vergütung aus unstreitigen Wirkstoffzubereitungen in Höhe von 3310,12 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit, der Anspruch ist nur in Höhe von 12,99 Euro durch Aufrechnung erloschen. Im Übrigen steht der Beklagten kein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen die Klägerin zu.
1. Der Vergütungsanspruch der Klägerin aus mehreren nicht näher benannten Arzneimittellieferungen bestimmt sich nach § 129 SGB V i. V. m. dem nach § 129 Abs. 2 SGB V abgeschlossenen Rahmenvertrag. Nach § 129 SGB V geben die Apotheker nach Maßgabe der ergänzenden Rahmenvereinbarungen und Landesverträge (§ 129 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 SGB V, vergleiche auch § 2 Abs. 2 Satz 3 SGB V) vertragsärztlich verordnete Arzneimittel an Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung ab. Diese Vorschrift begründet in Verbindung mit den konkretisierenden vertraglichen Vereinbarungen eine öffentlich-rechtliche Leistungsberechtigung und -verpflichtung für die Apotheker, vertragsärztlich verordnete Arzneimittel an die Versicherten abzugeben. Die Apotheker erwerben im Gegenzug für die Erfüllung ihrer öffentlich-rechtlichen Leistungspflicht einen durch Normenverträge näher ausgestalteten gesetzlichen Anspruch auf Vergütung gegen die Krankenkassen, der schon in § 129 SGB V vorausgesetzt wird (st. Rspr, BSG, Urteil vom 03.07.2012, B 1 KR 16/11 R, Juris Rn. 9 m.w.Nachw.). Für die Beteiligten gilt der Arzneimittelversorgungsvertrag Bayern (AV-Bay) in der Fassung vom 27.02.2012. Die Klägerin ist Mitglied im Bayerischen Apothekerverband e. V. (BAV). Gemäß § 2 Abs. 2 AV-Bay hat der Vertrag Rechtswirkung für öffentliche Apotheken, deren Inhaber dem BAV angehören. Die Beklagte ist u. a. Vertragspartnerin des AV-Bay. Somit sind die Beteiligten an den AV-Bay vertraglich gebunden.
Der Zahlungsanspruch aus weiteren nicht näher benannten Arzneimittellieferungen, mit dem die Beklagte aufgerechnet hat, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Einwendungen wurden in dieser Hinsicht von den Beteiligten nicht erhoben. Im Übrigen sind Anhaltspunkte für eine unzutreffende Leistungsabrechnung auch nicht ersichtlich. Eine nähere Prüfung der erkennenden Kammer erübrigt sich insoweit (vgl. zur Zulässigkeit dieses Vorgehens bei Abrechnungen eines Krankenhauses z.B. BSG, 21.04.2015, B 1 KR 8/15 R).
2. Der Zahlungsanspruch der Klägerin aus den unstreitigen Versorgungen mit Arzneimitteln ist nur in Höhe von 12,99 EUR dadurch erloschen, dass die Beklagte mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen Abrechnung vermeidbarer Verwürfe analog § 387 Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) die Aufrechnung erklärt hat (zur entsprechenden Anwendung von § 387 BGB auf überzahlte Krankenhausvergütung: BSG, 23.06.2015, B 1 KR 26/14; BSG, 21.4.2015, B 1 KR 8/15 R).
Die sich aus der Erbringung von Leistungen für nach dem SGB V Versicherte ergebenden Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Apothekern sind öffentlich-rechtlicher Natur (vgl. BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr. 6, Rn. 11 ff m. w. N.). Bei derartigen öffentlich-rechtlich geprägten Rechtsbeziehungen tritt an die Stelle des zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs nach § 812 BGB der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch (vgl. BSG, Urteil vom 03.07.2012, B 1 KR 16/11 R; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17 b Nr. 2, Rn. 9, 11 f m. w. N.). Der im öffentlichen Recht auch ohne ausdrückliche Normierung seit langem anerkannte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch setzt u.a. voraus, dass der Berechtigte im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht hat (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSG SozR 4-2500 § 264 Nr. 3 RdNr. 15). Dies ist hier jedoch nur teilweise der Fall. Die von der Klägerin im März 2012 durch die Beklagte beanstandeten Verwürfen waren – bis auf den Verwurf bezüglich der Patientin H. am 07.03.2012 – nach Auffassung des Gerichts nach der Hilfstaxe abrechnungsfähig. Die Beklagte hat daher keinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gegenüber der Klägerin.
a) Die Beanstandung der Beklagten war grundsätzlich formell ordnungsgemäß. Grundlage für den vorliegenden Abrechnungsstreit ist zunächst § 9 des AV-Bayern, wonach die Krankenkasse jedoch das Recht die Abrechnung der Klägerin zu prüfen. Dementsprechend beanstandete die Beklagte mit Schreiben vom 13.03.2013 die Abrechnung der Klägerin vom März 2012 in Höhe von 3.402,73 € und übersandte als Anlage Imageausdrucke zu den Taxberichtigungen. Gegen diese Beanstandung legte die Klägerin mit Schreiben vom 10.04.2013 Einspruch ein. Die Frist für den Einspruch beginnt daher am 11.04.2013 und endet am 10.08.2013. Da der 10.08.2013 ein Samstag war, verschiebt sich in analoger Anwendung der §§ 193 BGB, § 64 SGG das Fristende auf den nächsten Werktag, hier Montag, den 12.08.2013, so dass die Einspruchsentscheidung der Beklagten vom 12.08.2013 fristgemäß war. Im Übrigen hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung auf den Einwand nach § 9 Abs. 5 Satz 3 des AV-Bayern verzichtet.
b) Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich bei der Hilfstaxe um reines Preisrecht. Die Hilfstaxe regelt damit nur die Maßstäbe zur Ermittlung der Höhe der Krankenhausvergütung und die Einzelheiten der Abrechnung. Dies bestätigt die Regelung in § 1 „Gegenstand des Vertrags“, wonach in der Hilfstaxe die Preisbildung für Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen geregelt ist. Die Vertragspartner der Hilfstaxe haben Vorgaben für die Abrechnung gemacht und zum Teil für konkrete Arzneimittel für die Abrechnung Zeitspannen festgelegt. Eine Regelung in der Hilfstaxe, dass die Klägerin nach einer gewissen Zeit einen Verwurf abrechnen darf, kann der Klägerin zwar einen Vergütungsanspruch gegenüber der Beklagten geben, befreit sie jedoch nicht von einer eigenen Prüfung der Haltbarkeit eines Arzneimittels. Ist die Klägerin aufgrund ihrer pharmazeutischen Kompetenz überzeugt, dass eine Zubereitung entgegen der Regelung in der Hilfstaxe nicht mehr haltbar ist, so darf sie dieses nicht in den Verkehr bringen und darf dies nicht unter Berufung auf reine Abrechnungsregeln an Patienten ausliefern.
c) Ein unvermeidbarer Verwurf ist nach der Hilfstaxe grundsätzlich abrechnungsfähig. Die Hilfstaxe definiert in Anlage 3 Ziffer 3.6 den unvermeidbaren Verwurf als eine nicht mehr weiterverarbeitungsfähige Teilmenge. Nicht mehr weiterverarbeitungsfähig sind Anbrüche, deren Haltbarkeit überschritten ist oder die aus rechtlichen Gründen nicht in einer anderen Rezeptur verarbeitet werden dürfen. Nach Ziffer 3.8 sind unvermeidbare Verwürfe nach Ziffer 3.6 abrechnungsfähig für die im Anhang 1 zu Anlage 3 Teil 1 aufgeführten Stoffe gemäß den dort getroffenen Regelungen, für die im Anhang 2 zu Anlage 3 Teil 1 aufgeführten Stoffe gemäß den dort getroffenen Regelungen und für nicht im Anhang 1 oder 2 zu Anlage 3 Teil 1 aufgeführte Stoffe, falls nach Anbruch der entsprechenden Packung die Teilmenge nachweislich nicht innerhalb von 24 Stunden in einer weiteren Rezeptur verwendet werden konnte.
Das Gericht geht grundsätzlich davon aus, dass auch im Rahmen der Abrechnungsprüfung geprüft werden muss, ob ein unvermeidbarer Verwurf vorliegt, also insbesondere ob die Haltbarkeit überschritten ist. Die Regelung in Anlage 3 Ziffer 3.8 nimmt in ihrem Obersatz Bezug auf die Ziffer 3.6, die wiederum einen unvermeidbaren Verwurf definiert als eine nicht mehr weiterverarbeitungsfähige Teilmenge, also eine Teilmenge deren Haltbarkeit überschritten ist. Die Überschreitung der Haltbarkeit ist daher Voraussetzung für einen unvermeidbaren Verwurf. Auf die Frage, wie in einem standardisierten Abrechnungsverfahren geprüft werden soll, wie lange ein Arzneimittel haltbar ist, gibt die Regelung allerdings keine Antwort. Für die Fallgruppe der Anlage 3 Ziffer 3.8a) und 3.8b) ist dies nach Auffassung des Gerichts unproblematisch, da in Anhang 1 und 2 für die Abrechnung verbindliche Angaben zu der Haltbarkeit gemacht werden, die der Abrechnung zugrundzulegen sind. Im Gegensatz zu den Regelungen in 3.8a) und 3.8b) werden in 3.8c) jedoch keine konkreten für bestimmte Arzneimittel der Abrechnung zugrunde zu legenden Haltbarkeiten definiert. Die Frage, wie der Begriff der Haltbarkeit für die Prüfung der Abrechnung zu definieren ist, spielt daher nur für die Fallgruppe der Ziffer 3.8.c) eine Rolle.
Unter dieser Prämisse sind im vorliegenden Fall nach Ansicht des Gerichts bezüglich der Abrechenbarkeit unvermeidbarer Verwürfe zwei Fallgruppen zu unterscheiden: Zum einen diejenigen Stoffe, die im Anhang 1 oder 2 mit konkreten zeitlichen Regelungen belegt sind und zum anderen diejenigen, die der Auffangregelung in Ziffer 3.8 c) unterfallen, wonach ein unvermeidbarer Verwurf abrechenbar ist, wenn er nicht innerhalb von 24 h in einer Rezeptur verwendet werden kann.
aa) Die streitgegenständlichen Verwürfe, die unter Anlage 3 Ziffer 3.8a) und 3.8b) und damit korrespondierend Anhang 1 und 2 der Anlage 3 Teil 1 fallen, sind nach Ansicht des Gerichts unvermeidbar, sobald die im Anhang 1 oder 2 konkret festgelegte Zeitspanne abgelaufen ist. Dies betrifft im vorliegenden Fall im Rahmen des Anhang 1 das Arzneimittel Bortezomib und im Anhang 2 die im März 2012 verwendeten Arzneimittel Epirubicin und Irinotecan, mithin Retaxierungen in Höhe von 1291,04 Euro. In dieser Höhe hat die Beklagte nach Auffassung des Gerichts zu Unrecht mit unstreitigen Forderungen der Klägerin aufgerechnet. Ihr stand kein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegenüber der Klägerin zu.
Die Klägerin muss sich entgegen der Ansicht der Beklagten für die Abrechnung der Verwürfe aus dieser Fallgruppe weder auf die (ggf. anderslautende) Fachinformation noch auf andere wissenschaftliche Auseinandersetzungen zu den jeweiligen Arzneimitteln verweisen lassen. Sie darf einen Verwurf dann abrechnen, wenn das Arzneimittel innerhalb der in Anhang 1 und 2 definierten Zeitspanne nicht mehr weiterverarbeite werden konnte.
Die Angaben in Anhang 1 und 2 der Hilfstaxe sind insoweit problematisch, als in den Fachinformationen oder in sonstigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Teil erheblich längere Haltbarkeit Angaben zu finden sind, zum Teil jedoch auch kürzere. Dennoch ist das Gericht der Auffassung, dass für die Fälle, die unter Anhang 1 und 2 fallen aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit für die Abrechnung ausschließlich auf die in den Anhängen benannten Zeitspannen abzustellen ist. Die Vertragspartner der Hilfstaxe haben sich in diesen Fällen nach eigener Prüfung auf eine konkrete Zeitspanne festgelegt, nach Ablauf derer es sich um einen unvermeidbaren Verwurf nach 3.6 handelt. Die Vertragsparteien haben damit definiert, wann ein abrechenbarer unvermeidbarer Verwurf vorliegt. Mit der Angabe einer konkreten Zeitspanne haben die Vertragspartner für die Abrechnung fiktive Haltbarkeiten für die Abrechnung definiert. Daran muss die Beklagte sich auch festhalten lassen und der Klägerin den Verwurf vergüten (vgl. dazu SG Würzburg, 14.04.2016, S 17 KR 260/14).
Anders als in dem vom SG Würzburg (S 17 KR 260/14) entschiedenen Fall weichen im vorliegenden Fall jedoch die Haltbarkeitsangaben in den Fachinformationen und die in der Hilfstaxe angegebene Zeitspannen voneinander ab. Maßgeblich ist in einem solchen Fall, also bei Benennung einer konkreten Zeitspanne in der Hilfstaxe, nach Auffassung des Gerichts allein die Angabe in der Hilfstaxe. Es entspricht dem eindeutigen und explizit geäußerten Willen der Vertragsparteien der Hilfstaxe, dass nach der in dem Anhang 1 und 2 angegebenen Zeitspanne ein unvermeidbarer Verwurf vorliegt, der abgerechnet werden kann. Bei Abfassung der Hilfstaxe lagen den Vertragsparteien sämtliche Informationen zur Haltbarkeit von Zytostatika sei es Fachinformationen oder Krämer-Liste oder sonstiges vor. In Kenntnis dessen und auch in Kenntnis dessen, dass diese Angaben zum Teil voneinander abweichen, haben die Vertragsparteien dennoch explizite Zeitspannen festgelegt, nach denen ein Verwurf abrechenbar ist. Selbst wenn dies der kleinste gemeinsame Nenner war, sieht das Gericht im Rahmen der Abrechnung keinen Anlass über die Hilfsfaxe hinaus die Haltbarkeit anhand der Fachinformation oder anderer Erkenntnisquellen zu prüfen. Denn bei den konkret benannten Fällen haben sich die Vertragspartner der Hilfstaxe bereits Gedanken über die Haltbarkeit und diese explizit geregelt.
Auf den konkreten Fall übertragen, bedeutet dies, dass die Beklagte gegenüber der Klägerin – abgesehen von der Versorgung der Patientin H. in Höhe von 12,99 EUR – keinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch hat. Es bestehen – außer bei der Zubereitung von Epirubicin bei Frau H. – keine Anhaltspunkte dahingehend, dass die Klägerin den Anbruch innerhalb der von der Hilfstaxe angegebenen Zeitspannen hätte weiter verwenden können, insoweit trägt auch die Beklagte nichts vor. Bei der Zubereitung von Epirubicin erfolgte am 07.03.2012 eine weitere Zubereitung bei einer anderen Patientin, so dass der Verwurf bei dieser hätte abgerechnet werden müssen. Die Beklagte hat daher gegenüber der Klägerin in Höhe von 12,99 EUR einen Rückzahlungsanspruch bezüglich des Verwurfs von Epirubicin bei der Patientin H.. Dieser Verwurf war vermeidbar. Bezüglich der übrigen unter die Regelung Anlage 3 in 3.8 a) und 3.8 b) fallenden Verwürfe steht der Beklagten kein Erstattungsanspruch zu.
bb) Bei den unter Anlage 3 Teil 1 Nr. 3.8 c) fallenden Verwürfen ist nach Auffassung des Gerichts ergänzend zu der Regelung, die eine Abrechenbarkeit des Verwurfs innerhalb von 24 Stunden vorsieht, zu prüfen, welche Haltbarkeit die Fachinformation vorsieht (so auch LSG Saarland, L 2 KR 1029/14, wobei sich in dem vom LSG Saarland entschiedenen Fall keine exakte Angabe zur Haltbarkeit der Stammlösung aus den Fachinformationen ergab). Für diese Fälle haben sich die Vertragspartner der Hilfstaxe nicht eindeutig mit dem jeweiligen Arzneimittel beschäftigt, sondern eine Auffangregelung geschaffen. Finden sich in den gem. § 11 a AMG für die Zulassung verpflichtend zu erstellenden Fachinformationen in einem standardisierten Abrechnungsverfahren verwertbare Angaben zur Haltbarkeit, so sind diese für die Prüfung der Haltbarkeit heranzuziehen. Ergeben sich aus diesen keine verwertbaren Informationen, so ist im Rahmen der Prüfung der Abrechnung nicht klärbar, ob die Haltbarkeit überschritten ist und daher ausschließlich auf die 24 Stunden Regelung in Ziffer 3.8c) abzustellen.
Die Regelung in Anlage 3 Ziffer 3.8. nimmt in ihrem Obersatz Bezug auf die Ziffer 3.6, die wiederum einen unvermeidbaren Verwurf definiert als eine nicht mehr weiterverarbeitungsfähige Teilmenge, also eine Teilmenge deren Haltbarkeit überschritten ist. Die Überschreitung der Haltbarkeit ist daher Voraussetzung für einen unvermeidbaren Verwurf. Das Gericht sieht in durch die Bezugnahme auf 3.6 das Einfallstor dafür, dass auch im Rahmen der Abrechnung die Frage der Haltbarkeit geprüft werden muss. Im Gegensatz zu den Regelungen in 3.8a) und 3.8b) werden in 3.8c) keine konkreten Haltbarkeitszeitspannen für bestimmte Arzneimittel definiert. Auf die Frage, wie in einem standardisierten Abrechnungsverfahren die Frage der Haltbarkeit zu prüfen ist, gibt die Regelung keine Antwort. Vor dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots und auch um den Verwurf noch eindeutig haltbarer und ohne Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Patienten verwendbarer Arzneimittel zu vermeiden, muss nach Ansicht des Gerichts der Apotheker in den Fällen des 3.8 c) auf Basis seiner pharmazeutischen Kenntnisse und der Kenntnis über die konkreten Herstellungsbedingungen prüfen, ob das Arzneimittel noch haltbar ist. Für die Prüfung der Abrechenbarkeit eines unvermeidbaren Verwurfs hat er sich an den Fachinformationen zu orientieren. Geben diese keine Hinweise bezüglich der Haltbarkeit, so ist erst dann auf die Regelung in der Hilfstaxe zurückzugreifen. Dieses Vorgehen erscheint der Kammer auch vor dem Hintergrund der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit möglich.
Entgegen der Ansicht der Beklagten kann zur Prüfung der Frage der Vermeidbarkeit eines Verwurfs nicht auf andere Rechtsquellen (Stabil-Liste, Krämer-Liste, Stabilitätsdatenblätter) als die Hilfstaxe und die Fachinformation zurückgegriffen werden. Dies hätte eine nicht hinzunehmende Rechtsunsicherheit bei den herstellenden Apotheken zur Folge. Abrechnungsregeln müssen klar, präzise und einfach handhabbar sei, um eine ordnungsgemäße Umsetzung in der Praxis zu gewährleisten. Die Angaben zur Haltbarkeit weichen zum Teil – wie dies die Beklagte ausführlich dargestellt hat – erheblich voneinander ab. Es stellt sich dann schon die Frage auf welche Erkenntnisquelle außerhalb von Hilfstaxe und Fachinformation abzustellen ist, diejenige, die die längste oder diejenige, die die kürzeste Haltbarkeit angibt. Der Abrechnungsalltag soll jedoch gerade nicht von pharmazeutischen-wissenschaftlichen Diskussionen geprägt sein, sondern praktikabel umsetzbar sein. Dies entnimmt das Gericht auch den Äußerungen des GKV-Spitzenverbandes und des DAV, die betonen, dass nur die Fachinformationen Berücksichtigung bei der Erstellung der der Hilfstaxe gefunden haben und eine wissenschaftliche Diskussion im Rahmen der Abrechnungspraxis vermieden werden soll.
Auf den konkreten Fall übertragen, bedeutet dies Folgendes: Zunächst ist festzuhalten, dass die Klägerin unter validierten, kontrollierten aseptischen Bedingungen arbeitet der Reinraumklasse A arbeitet, so dass hinsichtlich der mikrobiellen Stabilität der Zubereitungen keinerlei Bedenken bestehen. Es kann also ausschließlich auf die chemisch-physikalische Stabilität ankommen.
Für folgende von der Klägerin verwendete Arzneimittel ergibt sich aus den Fachinformationen hinsichtlich der chemisch-physikalischen Stabilität eine von 24 h abweichende Angabe:
Für Cetuximab (Arzneimittel Erbitux) ist eine chemische und physikalische Stabilität der angebrochenen Erbitux 5 mg/ml Infusionslösung über 48 Stunden belegt. Da ausweichlich der Abrechnungsübersicht der Beklagten über den Monat März Cetuximab jeweils erst später als 48 h erneut verwendet wurde (01.03. nächste Verwendung 05.03.; 05.03. nächste Verwendung 12.03.; 12.03. nächste Verwendung 15.03.; 15.03. nächste Verwendung 19.03.; 22.03. nächste Verwendung 29.03.; 29.03. nächste Verwendung nicht mehr im März) ist auch unter Zugrundelegung der Fachinformation der Verwurf unvermeidbar gewesen.
Für Trastuzumab (Herceptin) ist nach der Fachinformation die rekonstituierte Lösung physikalisch und chemisch 48 Stunden bei 2°C – 8°C stabil. Da ausweichlich der Abrechnungsübersicht der Beklagten über den Monat März Trastuzumab jeweils erst später als 48 h erneut verwendet wurde (15.03. nächste Verwendung 19.03.; 28.03. nächste Verwendung nicht mehr im März) ist auch unter Zugrundelegung der Fachinformation der Verwurf unvermeidbar gewesen.
Für Fluorouracil (5-FU medac) ist nach der Fachinformation die chemische und physikalische In-use-Stabilität der gebrauchsfertigen Infusionslösung bei 2-8 °C oder Raumtemperatur (20 °C bis 25 °C) für bis zu 7 Tage nachgewiesen.
Für Doxorubicinhydrochlorid (Adrimedac) ist nach der Fachinformation die chemische und physikalische Inuse-Stabilität der gebrauchsfertigen Infusionslösung bei 2-8°C oder Raumtemperatur (20°C bis 25°C) für bis zu 7 Tage nachgewiesen.
Für die übrigen Arzneimittel ergibt sich entweder gar keine Angabe oder eine Stabilität von maximal 24 h.
Soweit von der Beklagten vorgetragen wurde, dass die Fachinformationen keine Angaben zu der Haltbarkeit von Anbrüchen machen, sondern nur von den gebrauchsfertigen Infusionslösungen, so scheint dies zumindest bei Cetuximab (Erbitux) und Trastuzumab (Herceptin) nicht der Fall zu sein, denn die Fachinformation spricht von der Stabilität der angebrochenen Infusionslösung bzw. der rekonstituierten Lösung. In beiden Fällen war der Verwurf jedoch nicht unvermeidbar, da auch unter Zugrundelegung der Fachinformation der Verwurf unvermeidbar war.
Für die beiden übrigen Arzneimittel (Fluorouracil und Doxurubicin) liegt eine relevante Abweichung zwischen Hilfstaxe (24 h) und Fachinformation (7 Tage) vor. Da jedoch diese Fachinformationen keine Angabe zu der Haltbarkeit des Anbruchs machen, sondern sich ausschließlich auf die gebrauchsfertige Lösung beziehen, kann mangels konkreter Angaben kein Verstoß gegen die Angaben in der Fachinformation festgestellt werden. Die Beklagte hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich die chemisch-physikalische Stabilität der gebrauchsfertigen Infusionslösung und diejenige der Stammlösung unterscheiden. Die Angaben zur physikalischen-chemischen Stabilität der gebrauchsfertigen Infusionslösung können daher nicht auf diejenige der Stammlösung wissenschaftlich extrapoliert werden. Dies zugrunde gelegt liegen daher keine verwertbaren Daten zur Haltbarkeit der Stammlösung in den Fachinformationen vor, so dass mangels verwertbarer anderer Angaben auf die Auffangregelung in der Hilfstaxe zurückgegriffen werde muss.
Die Retaxierungen der Beklagten erfolgten daher zu Unrecht. Der Klage war daher ganz überwiegend stattzugeben. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung weiterer 3310,12 EUR gegenüber der Beklagten.
3. Schließlich kann die Klägerin in entsprechender Anwendung der §§ 288 Abs. 1, 291 Satz 1 BGB Prozesszinsen (5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz, vgl. hierzu grundlegend: BSG, Urteil vom 02.11.2010 – B 1 KR 11/10 R; Urteil vom 25.11.2010 – B 3 KR 6/10 R) ab Rechtshängigkeit (hier: § 94 SGG) beanspruchen, was sie bei verständiger Würdigung des Klageantrages auch beantragt hat (vgl. dazu SG Düsseldorf, Urteil vom 08. September 2016 – S 27 KR 629/16 -, Rn. 37, juris; SG Hannover, Urteil vom 29. Januar 2016 – S 86 KR 383/11 – Rn. 38, juris).
4. Die Sprungrevision gem. § 161 SGG war nicht zuzulassen, da die Klägerin dem nicht zugestimmt hat.
5. Die Kostenentscheidung resultiert aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 und § 155 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Nach § 154 VwGO hat der Unterliegende die Kosten zu tragen sowie nach § 155 Abs. 2 VwGO derjenige, der einen Rechtsbehelf zurücknimmt. Wenn die Klage nicht in vollem Umfang abgewiesen wird, werden die Kosten nach § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO verhältnismäßig verteilt. Davon abweichend können einem Beteiligten die Kosten gemäß § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze waren der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Die Klägerin hat mit ihrem Antrag im Wesentlichen obsiegt.
6. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit dem Gerichtskostengesetz (GKG). Da der Klageantrag auf eine bezifferte Geldleistung gerichtet war, ist deren Höhe maßgeblich (§ 52 Abs. 3 GKG).


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