IT- und Medienrecht

Zur Berücksichtigung einer geplanten Rechtsänderung bei der Ermessensausübung; zum Nachschieben von Ermessenserwägungen; neue Ermessenserwägungen für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung

Aktenzeichen  8 C 48/12

Datum:
20.6.2013
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
Spruchkörper:
8. Senat

Leitsatz

1. Die Behörde muss eine geplante Rechtsänderung bei der Ermessensausübung nur berücksichtigen, wenn diese mit hinreichender Sicherheit zu einem bestimmten, absehbaren Zeitpunkt zu erwarten ist. Bei Gesetzesänderungen setzt dies regelmäßig einen Gesetzesbeschluss des Parlaments voraus.
2. Ob ein Nachschieben von Ermessenserwägungen zulässig ist, bestimmt sich nach dem materiellen Recht und dem Verwaltungsverfahrensrecht. § 114 Satz 2 VwGO regelt lediglich, unter welchen Voraussetzungen derart veränderte Ermessenserwägungen im Prozess zu berücksichtigen sind (im Anschluss an das Urteil vom 13. Dezember 2011 – BVerwG 1 C 14.10 – BVerwGE 141, 253 ).
3. Verwaltungsakte mit Dauerwirkung dürfen für die Zukunft auf neue Ermessenserwägungen gestützt werden.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 15. Mai 2012, Az: 6 A 11455/11, Urteilvorgehend VG Mainz, 25. November 2011, Az: 6 K 1654/11.MZ, Gerichtsbescheid

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen eine ordnungsbehördliche Verfügung, mit der ihr die Vermittlung von Sportwetten an private Wettanbieter untersagt wurde.
2
Nachdem ihr Ehemann, der Kläger des Verfahrens – BVerwG 8 C 47.12 -, die Wettvermittlung in seiner Betriebsstätte in der U.straße … in M. zeitweise eingestellt hatte, vermittelte die Klägerin dort Sportwetten an den auf Malta ansässigen und konzessionierten Wettanbieter T. Mit sofort vollziehbarem Bescheid vom 12. November 2007 untersagte ihr die Stadt M. als Rechtsvorgängerin des Beklagten diese Tätigkeit unter Androhung eines Zwangsgeldes. Zur Begründung verwies sie auf § 9 Abs. 1 Satz 1 des rheinland-pfälzischen Polizei- und Ordnungsgesetzes (POG) i.V.m. § 12 Abs. 1, § 14 Abs. 3 des Staatsvertrags zum Lotteriewesen in Deutschland vom 13. Februar 2004 (Lotteriestaatsvertrag – LoStV – GVBl S. 325), § 2 des Landesgesetzes über das öffentliche Glücksspiel – LGlüG – vom 14. Juni 2004 (GVBl S. 322). Die Klägerin gefährde die öffentliche Sicherheit, weil sie das staatliche Sportwettenmonopol unterlaufe und zumindest den Straftatbestand der Beihilfe zur unerlaubten öffentlichen Veranstaltung eines Glücksspiels (§ 284 StGB) verwirkliche. Außerdem werbe sie ordnungswidrig für unerlaubte Sportwetten. Eine Zwangsgeldfestsetzung vom 10. April 2008 wurde nach der Ankündigung der Klägerin, ihr Gewerbe abzumelden, am 21. April 2008 wieder aufgehoben.
3
Ihren Widerspruch gegen die Untersagungsverfügung wies die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Trier mit Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2008 zurück. Am 22. Oktober 2008 hat die Klägerin Anfechtungsklage erhoben.
4
Mit Bescheid vom 4. März 2010 änderte der inzwischen zuständig gewordene Beklagte die Ordnungsverfügung vom 12. November 2007. Er hob die bisherige Ziffer 2 – die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit – auf und fügte die neuen Ziffern 2 a, 2 b und 3 bis 9 ein. Sie ergänzten die in Ziffer 1 geregelte stadtgebietsbezogene Untersagung um eine landesweite Untersagung (Ziffer 2 a), verboten eine Überlassung der Betriebsräume an Dritte zum Zweck der Weiterführung der Sportwettenvermittlung (Ziffer 2 b), verpflichteten die Klägerin, sichtbar auf die Einstellung der untersagten Tätigkeit hinzuweisen (Ziffer 4), und trafen weitere Anordnungen zu Hilfsmitteln und Werbung (Ziffern 3 und 5). Außerdem wurden erneut Zwangsmittel angedroht (Ziffern 6 bis 9). Zur Begründung führte der Beklagte unter anderem aus, eine landesweite Untersagung sei geeignet und erforderlich, um eine Umgehung ortsbezogener Verbote effektiv zu unterbinden und den Gefahren des unerlaubten Glücksspiels entgegenzuwirken. Ein milderes Mittel komme nicht in Betracht. Ziffer 2 b solle eine Weiterführung der Tätigkeit durch einen “Strohmann” unterbinden.
5
Gegen den Änderungsbescheid legte die Klägerin unter dem 1. April 2010 Widerspruch ein. Im November 2010 kam es zu einer kurzfristigen Versiegelung von Geräten der Klägerin, die der Wettvermittlung dienten.
6
Mit Gerichtsbescheid vom 25. November 2011 hat das Verwaltungsgericht Mainz der Anfechtungsklage stattgegeben.
7
Im Berufungsverfahren hat der Beklagte vorgetragen, die Untersagung sei wegen des Erlaubnisvorbehalts gerechtfertigt. Die materielle Erlaubnisfähigkeit der Wettangebote sei jedenfalls nicht offensichtlich. Außerdem sei das staatliche Sportwettenmonopol nach wie vor rechtmäßig.
8
Das Oberverwaltungsgericht hat den Gerichtsbescheid mit Urteil vom 15. Mai 2012 geändert, den Bescheid der Stadt M. vom 12. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 15. Oktober 2008 sowie des Änderungsbescheids des Beklagten vom 4. März 2010 aufgehoben und deren Rechtswidrigkeit in der Vergangenheit festgestellt. Die Anfechtungsklage sei begründet, weil die Untersagungsverfügung im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung ermessensfehlerhaft sei. Die ursprünglich maßgebende Ermessenserwägung, die fehlende Erlaubnis könne in Rheinland-Pfalz nicht erteilt werden, sei durch die Erwägung ersetzt worden, das Wettangebot sei materiell illegal. Dabei habe der Beklagte insbesondere auf die Unzulässigkeit der Internet- und Live-Wetten abgestellt. Er habe jedoch versäumt zu berücksichtigen, dass die Landesregierung dem Landtag Rheinland-Pfalz den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Landesglücksspielgesetzes (LTDrucks 16/1179) zugeleitet habe, das am 1. Juli 2012 in Kraft treten solle. Der Entwurf sehe vor, in Übereinstimmung mit dem Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag die Veranstaltung und Vermittlung von Wetten im Internet sowie Endergebniswetten während des laufenden Sportereignisses zuzulassen. Dies habe der Beklagte nicht zuletzt wegen des Unterliegens des Klägers im Eilverfahren in seine Ermessensausübung einbeziehen müssen. Für eine Ermessensreduzierung auf Null zulasten des Klägers sei nichts ersichtlich. Hinsichtlich des seit Erlass der Verfügung vergangenen Zeitraums sei die Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig und begründet. Ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untersagung ergebe sich aus einem Präjudizinteresse der Klägerin. Die Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen insbesondere nach § 68 Abs. 1 Satz 2 POG sei nicht offensichtlich aussichtslos. Die Fortsetzungsfeststellungsklage sei auch begründet, weil die Untersagung bereits in der Vergangenheit ermessensfehlerhaft gewesen sei. In der Zeit vom Erlass der Verfügung bis 2010 sei das Sportwettenmonopol, auf das der Beklagte sich maßgeblich berufen habe, schon wegen der Werbung, die die L. GmbH für die Sportwette ODDSET betrieben habe, verfassungs- und unionsrechtswidrig gewesen. Auch im Zeitraum seit 2010, in dem der Beklagte das Erlaubnisverfahren für Private geöffnet und das Aufrechterhalten der Verbotsverfügung mit dem Fehlen einer Vermittlungserlaubnis und der fehlenden Erlaubnisfähigkeit des Wettangebots gerechtfertigt habe, sei die Untersagung rechtswidrig gewesen. Insoweit liege ein nach § 114 Satz 2 VwGO unzulässiger Austausch wesentlicher Ermessenserwägungen vor, da der ursprünglich tragende Gesichtspunkt des Sportwettenmonopols keine Rolle mehr spiele. Überdies sei auch die unzulässig nachgeschobene Begründung aus den zur Anfechtungsklage ausgeführten Gründen ermessensfehlerhaft. Der Änderungsbescheid vom 4. März 2010 habe die Ermessensfehler des ursprünglichen Bescheides nicht geheilt. Selbst wenn man ihn bereits als Abkehr von der ursprünglichen, auf das Sportwettenmonopol gestützten Ermessensausübung ansehe, werde die Untersagung dadurch wegen § 114 Satz 2 VwGO nicht rechtmäßig.
9
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hat der Senat die Revision zugelassen, soweit das Verfahren den Untersagungszeitraum seit Oktober 2010 betrifft. Mit Beschluss vom 11. Dezember 2012 hat der Senat das Verfahren betreffend den Untersagungszeitraum seit dem 1. Juli 2012 unter dem Aktenzeichen – BVerwG 8 C 55.12 – abgetrennt.
10
Bezüglich des hier verfahrensgegenständlichen Zeitraums vom 1. Oktober 2010 bis zum 30. Juni 2012 macht der Beklagte mit seiner Revision geltend, das Berufungsgericht habe zu Unrecht ein Präjudizinteresse der Klägerin bejaht. § 68 Abs. 1 Satz 2 POG, der im Verwaltungsprozess ebenso revisibel sei wie im zivilgerichtlichen Verfahren, greife offensichtlich nicht ein. Er begründe keine Haftung für legislatives Unrecht einschließlich des Vollzugs rechtswidriger Gesetze. In materiell-rechtlicher Hinsicht sei der Verwaltungsgerichtshof zu Unrecht von einer Inkohärenz des Monopols ausgegangen. Er habe den Werbebegriff verkannt und die unionsrechtlichen Grenzen kanalisierender Werbung zu eng gezogen. Gegebenenfalls sei dazu eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen. Für den Wortlaut der vorgeschlagenen Vorlagefragen wird auf die Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 18. Juni 2013 verwiesen. Der Beklagte trägt weiter vor, bei Dauerverwaltungsakten wie der hier angegriffenen Untersagung stehe § 114 Satz 2 VwGO einem Auswechseln der Ermessenserwägungen nicht entgegen. Unabhängig davon seien auch die allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grenzen des Nachschiebens von Gründen gewahrt. Das Berufungsurteil verkenne die Rechtsfigur des intendierten Ermessens und übersehe, dass das Ermessen des Beklagten zulasten der Klägerin auf Null reduziert gewesen sei. Gesetze im Entwurfsstadium müssten bei der Ermessensausübung nicht berücksichtigt werden.
11
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Mai 2012 und den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Mainz vom 25. November 2011, soweit diese den Zeitraum vom 1. Oktober 2010 bis zum 30. Juni 2012 betreffen, zu ändern und die Klage insoweit abzuweisen.
12
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass festgestellt wird, dass die Untersagungsverfügung der Stadt M. vom 12. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Trier vom 15. Oktober 2008 und des Änderungsbescheides der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Trier vom 4. März 2010 – über den bereits rechtskräftig entschiedenen Zeitraum bis zum 30. September 2010 hinaus – auch in der Zeit vom 1. Oktober 2010 bis zum 30. Juni 2012 rechtswidrig war.
13
Sie verteidigt das angegriffene Urteil und trägt ergänzend vor, nach der Einführung des Erlaubnisverfahrens für Private habe in Rheinland-Pfalz nur noch ein faktisches Monopol bestanden, da den privaten Wettanbietern wegen ihrer Weigerung, auf Internetwetten zu verzichten, keine Erlaubnis erteilt worden sei. Auf die Vereinbarkeit des § 10 Abs. 2 und 5 GlüStV mit dem Unionsrecht komme es danach nicht mehr an.


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