Medizinrecht

Anforderungen für eine zustimmende Bewertung eines Antrages auf Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik

Aktenzeichen  M 18 K 16.1738

Datum:
10.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 118837
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ESchG § 3a Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 2
PIDV § 6 Abs. 4 S. 1
BayVwVfG Art. 1 Abs. 2
BayAGPIDV Art. 2 Abs. 6

 

Leitsatz

1. Der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik steht bei der Beurteilung des Tatbestandsmerkmals „schwerwiegende Erbkrankheit“ in § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ein Beurteilungsspielraum zu, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist. (Rn. 20)
2. Die Ethikkommission stellt eine Behörde im Sinne des Art. 1 Abs. 2 BayVwVfG dar, die in Form eines Verwaltungsaktes handeln darf. (redaktioneller Leitsatz)
3. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Ethikkommission unter Berücksichtigung und Einhaltung des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums, Einhaltung der richtigen Maßstäbe und ausgehend von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt zu dem Ergebnis gelangt, dass die myotone Dystrophie Typ 1 eine schwerwiegende Erbkrankheit im Sinne des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG darstellt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

1. Die Klage ist zulässig.
Hinsichtlich der Statthaftigkeit einer Verpflichtungsklage bestehen keine Bedenken. Die Ethikkommission stellt eine Behörde des Beklagten im Sinne des Art. 1 Abs. 2 BayVwVfG dar, die in Form eines Verwaltungsaktes handeln durfte. Behörden sind nach dem formellen Behördenbegriff alle vom Wechsel der in ihnen tätigen Personen unabhängigen, mit hinreichender organisatorischer Selbstständigkeit ausgestatteten Einrichtungen, denen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung und entsprechende Zuständigkeiten zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung, d.h. mit Handeln mit Außenwirkung in eigener Zuständigkeit und im eigenen Namen übertragen sind (Kopp/Schenke, VwVfG-Kommentar, 13. Auflage, § 1 Rn. 51). Sowohl die Unabhängigkeit der Ethikkommission vom Personenwechsel, als auch die Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wurde in Art. 2 Abs. 1 Satz 1, Absatz 4 BayAGPIDV i.V.m. §§ 5-7 PIDV festgeschrieben. Eine hinreichende organisatorische Selbstständigkeit ist anzunehmen, da Art. 2 Abs. 6 Sätze 1 und 3 BayAGPIDVG bestimmen, dass sich die Ethikkommission eine Geschäftsordnung gibt, ihren Vorsitzenden selbst ernennt und der Vorsitzende die Kommission nach außen vertritt. Eine eigenverantwortliche Wahrnehmung der ihr zugeteilten Aufgaben ergibt sich aus der Zusammenschau der Art. 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 6 Satz 3 und Abs. 8 BayAGPIDV. So vertritt der Vorsitzende die Ethikkommission nach außen und gibt rechtsverbindlich deren Bewertung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG vorliegen, ab. Der Landesgesetzgeber, dem in § 4 Abs. 4 Satz 1 PIDV die Ermächtigung zum Erlass genauer Regeln bezüglich der Ethikkommissionen eingeräumt wurde, zeigte den Willen, eine Behörde zu errichten (LT-Drs. 17/2382, S. 2 und 8). Weiter hat die Entscheidung der Ethikkommission, die für einen Verwaltungsakt nach Art. 35 Satz 1 BayVwVfG notwendige, unmittelbare Außenwirkung. Dies ergibt sich bereits aus § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG, der eine zustimmende Bewertung durch die Ethikkommission für die Legalisierungsmöglichkeit des § 3a Abs. 2 ESchG zur Voraussetzung macht.
2. Die Klage ist jedoch unbegründet.
Die Klägerin hat nach § 3a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG, § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV i.V.m. Art. 2 Abs. 6 Satz 1 BayAGPIDV keinen Anspruch auf eine zustimmende Bewertung ihres Antrages auf Durchführung einer PID. Nach § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV hat die Ethikkommissionen den Antrag auf Durchführung einer PID zustimmend zu bewerten, wenn sie (…) unter Berücksichtigung der im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten zu dem Ergebnis kommen, dass die in § 3a Abs. 2 ESchG genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
Die Voraussetzungen für eine Verpflichtung der Beklagten zur Abgabe einer zustimmenden Bewertung sind nicht gegeben. Vorliegend soll eine PID auf Grundlage des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG durchgeführt werden. Danach ist eine PID nicht rechtswidrig, wenn auf Grund der genetischen Disposition der Frau, von der die Eizelle stammt, oder des Mannes, von dem die Samenzelle stammt, oder von beiden für deren Nachkommen das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit besteht.
Zwischen den Parteien ist das Vorliegen einer genetischen Disposition des Partners der Klägerin für die Krankheit myotone Dystrophie Typ 1 und das hohe Risiko der Weitervererbung an Nachkommen (50%) unstreitig. Streitig ist jedoch, ob die myotone Dystrophie Typ 1 eine schwerwiegende Erbkrankheit im Sinne des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG darstellt.
2.1 Der Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichts ist bezüglich des Tatbestandsmerkmals „schwerwiegende Erbkrankheit“ nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG eingeschränkt. Der Ethikkommission steht nach Ansicht des Gerichts bezüglich dieses Tatbestandsmerkmals ein Beurteilungsspielraum zu, der dazu führt, dass gerichtlich lediglich nachprüfbar ist, ob die Ethikkommission von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie die Grenzen ihres Beurteilungsspielraumes eingehalten und die richtigen Wertmaßstäbe angewendet hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1971, I C 31.68, juris Leitsatz 2.1). Das Gericht kann jedoch nicht seine eigene Wertung, ob die myotone Dystrophie Typ 1 eine schwerwiegende Erbkrankheit im Sinne des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG darstellt, an die Stelle der Wertung der Ethikkommission setzen.
Ein Beurteilungsspielraum steht einer Behörde dann zu, wenn der Gesetzgeber nach dem Sinn und Zweck einer Regelung die Beurteilung der Behörde als prinzipiell maßgeblich für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes ansieht. Dabei bedarf es für die gesetzliche Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds (BVerfG, Beschluss v. 31.5.2011 – Az: BvR 857/07, Leitsätze 2. und 3.) Maßgeblich für die Auslegung ist dabei insbesondere Sinn und Zweck der entsprechenden materiell-rechtlichen Vorschriften, ferner auch die Natur der Sache oder der Gesichtspunkt, dass die Rechtsprechung sonst an Funktionsgrenzen stoßen würde (Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 18. Auflage, § 114 Rz. 24). Indizien, die für die Annahme eines Beurteilungsspielraums sprechen, sind unter anderem die besondere pluralistische Zusammensetzung und/oder Sachkunde eines mit der Entscheidung betreuten, weisungsfreien Gremiums, das Fehlen hinreichend bestimmter Entscheidungsvorgaben in der gesetzlichen Ermächtigung und/oder die Maßgeblichkeit von Erwägungen, die außerhalb des rechtlich exakt erfassbaren Bereichs liegen (Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 18. Auflage, § 114 Rz. 25).
2.1.1 Nach Sinn und Zweck der materiell-rechtlichen Vorschriften (§ 3a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ESchG, §§ 4-6 PIDV und Art. 2 BayAGPIDV) soll die Beurteilung der Ethikkommission maßgeblich für das Vorliegen einer „schwerwiegenden Erbkrankheit“ sein und nicht durch eine gerichtliche Wertung ersetzt werden.
Der Gesetzgeber traf in § 3a Abs. 1 ESchG zunächst die grundsätzliche Entscheidung, dass die Vornahme einer PID eine Straftat darstellt. Unter Berücksichtigung der „verantwortungsvollen Ausübung des den Eltern zustehenden Grundrechts auf Fortpflanzungsfreiheit“ (BT-DrS 17/5451 S. 7) wurde unter § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ein Rechtfertigungstatbestand eingefügt, der greift, wenn auf Grund einer genetischen Disposition eines Elternteils ein hohes Risiko für die Vererbung einer schwerwiegenden Erbkrankheit besteht. Schon aus dem Wortlaut der Norm „hohes Risiko“ und „schwerwiegende Erbkrankheit“, sowie aus der Tatsache, dass eine PID nur bei einer bereits vorliegenden genetischen Disposition eines Elternteils möglich sein soll, wird klar, dass der Gesetzgeber eine hohe Hürde für die Rechtfertigung der grundsätzlich strafbaren PID einrichten wollte. Noch klarer wird dieser Ausnahmecharakter, der zu einer engen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes schwerwiegende Erbkrankheit führt, wenn man die Vorstellungen des Gesetzgebers, unter welchen Voraussetzungen eine schwerwiegende Erbkrankheit anzunehmen sei, berücksichtigt. Der Bundesgesetzgeber hat in den Materialien zur Gesetzesbegründung definiert, dass eine Erbkrankheit insbesondere dann als schwerwiegend anzusehen ist, wenn sie sich durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechten Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheidet (BT-DrS 17/5451 S. 8 Abs. 2). Die Erstellung einer Positivliste von Krankheiten, die schwerwiegende Erbkrankheiten im Sinne des § 3a Abs. 2 ESchG darstellen, wurde im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich verworfen. Vielmehr wurde eine Ethikkommission für diese komplexe Entscheidung eingerichtet (BT-Drs. 17/5451 S. 7). Schon aus dem Namensbestandteil „Ethik“-Kommission ergibt sich, dass es dem Gesetzgeber nicht nur um die Subsumption eines juristischen Tatbestandsmerkmales, sondern um die Berücksichtigung der schwierigen ethischen und gesellschaftlichen Fragestellungen, die Grundlage für die Entscheidung der Kommission sind, ging.
2.1.2 Aus den folgenden gesetzlichen Vorschriften wird ersichtlich, dass es sich bei der Ethikkommission um ein weisungsfreies Gremium mit einer besonderen, pluralistischen Zusammensetzung und hoher eigenen Sachkunde handelt.
Die Zuständigkeit für die Prüfung des Vorliegens einer schwerwiegenden Erbkrankheit im Sinne des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG wurde vom Gesetzgeber in § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG einer interdisziplinär zusammengesetzten Ethikkommission zugewiesen, über deren Einrichtung, Zusammensetzung, Verfahrensweise und Finanzierung durch Rechtsverordnung entschieden werde (§ 3a Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 ESchG). Näheres wurde durch die auf Grundlage dieser Verordnungsermächtigung erlassenen PIDV bestimmt: Die Ethikkommission ist unabhängig und setzt sich aus vier Sachverständigen der Fachrichtung Medizin, jeweils einem oder einer Sachverständigen der Fachrichtungen Ethik und Recht sowie jeweils einem Vertreter der für die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe behinderter Menschen auf Landesebene maßgeblichen Organisationen zusammen (§ 4 Abs. 1 Sätze 1 und 3 PIDV). Die Mitglieder der Ethikkommission sind in ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung unabhängig und nicht weisungsgebunden (§ 4 Abs. 2 Satz 1 PIDV). Die Mitglieder der Ethikkommission haben den Antrag zustimmend zu bewerten, wenn die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG unter Berücksichtigung der im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte vorliegen (§ 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV). In Art. 2 Abs. 3 BayAGPIDV wird definiert, aus welchen Fachbereichen die Ärzte stammen sollen.
Das interdisziplinär zusammengesetzte Gremium aus Ärzten unterschiedlicher Fachrichtung und je einem Ethiker, einem Patienten- und einem Behindertenverbandsvertreter sowie einem Juristen (vgl. Art. 2 Abs. 3 Satz 1 BayAGPIDV) soll die Schwere einer Erbkrankheit aus den verschiedensten Aspekten heraus prüfen können, z.B. die Vererbungswahrscheinlichkeit verschiedener Varianten einer Erkrankung und die Bandbreite körperlicher Auswirkungen des Gendefekts durch einen Facharzt für Humangenetik, die Bedeutung der Einschränkungen und Behandlungsmöglichkeiten für das betroffene Kind durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, die Bedeutung für die körperliche Gesundheit der Kindsmutter während der Schwangerschaft durch einen Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit dem Schwerpunkt gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, die psychischen Belastungen der Eltern und des Kindes durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, die sozialen und gesellschaftlichen Möglichkeiten des betroffenen Kindes und die ethischen Implikationen der konkreten Entscheidung durch Vertreter von Behinderten- und Patientenorganisationen und durch einen Sachverständigen mit Berufserfahrung auf dem Gebiet der Medizinethik. Eine hohe Sachkunde der acht Mitglieder wird durch die in Art. 2 Abs. 3 Satz 1 BayAGPIDV bestimmten Berufsqualifikationen gewährleistet (Fachärzte, Befähigung zum Richteramt). Auch ist durch die Besetzung der Kommission mit einem Sachverständigen für Medizinethik und mit je einem Vertreter von Interessenorganisationen von Behinderten und Patienten ersichtlich, dass neben hohen medizinischen Fachkenntnissen verschiedene, durch die Entscheidung betroffene Gruppen unserer pluralistischen Gesellschaft repräsentiert werden sollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1971, I C 31.68, juris Rn. 22).
2.1.3 Ein weiteres maßgebliches Indiz für die Annahme des Beurteilungsspielraumes ist das Fehlen hinreichend bestimmter Entscheidungsvorgaben in der gesetzlichen Ermächtigung und die Maßgeblichkeit von Erwägungen, die außerhalb des rechtlich exakt erfassbaren Bereichs liegen. Bei § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ist wegen des vom Gesetzgeber gewählten Entscheidungsprogrammes nicht nur eine Tatsachenfeststellung und deren Subsumtion möglich, da ein erheblicher Einschlag wertender Elemente notwendigerweise in die Prüfung mit einfließen muss. So sind die Schwere des Krankheitsbildes einer Erbkrankheit und deren schlechte Behandelbarkeit nicht anhand objektiver Maßstäbe bestimmbar, sondern setzen eine stark wertende Betrachtung voraus. Zusätzlich zur Betrachtung, ob eine bestimmte Erbkrankheit eine schwerwiegende Erkrankung darstellt, die mit einem schweren Krankheitsbild einhergeht und schlecht behandelbar ist, muss anschließend ein Vergleich mit einer Vielzahl anderer Erbkrankheiten vorgenommen werden, die auch unter o.g. Aspekten zu prüfen sind. Denn nur, wenn die genetisch angelegte, potentielle Krankheit sich erheblich wegen ihrer Schwere von anderen Erbkrankheiten absetzt, ist das Tatbestandsmerkmal der schwerwiegenden Erbkrankheit nach dem Willen des Gesetzgebers als erfüllt anzusehen (BT-Drs. 17/5451 S.8). Die Kommission setzt sich des Weiteren nicht nur mit dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung der schwerwiegenden Erbkrankheit auseinander, sondern auch mit den im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten (§ 6 Abs. 4 PIDV). Dies führt dazu, dass eine Objektivierung der Maßstäbe für die Annahme einer schwerwiegenden Erbkrankheit unmöglich ist und Erwägungen außerhalb des exakt bestimmbaren, rechtlichen Bereichs maßgeblich sind. Was in einem Einzelfall eine schwerwiegende Erbkrankheit darstellt, kann in einem anderen Einzelfall unter Berücksichtigung der oben maßgeblichen Punkte möglicherweise nicht als schwerwiegend anzusehen zu sein.
2.1.4 Bei Vornahme einer solchen komplexen und viel Sachkunde erfordernden Abwägung stieße ein Gericht an seine Erkenntnisgrenzen, da von ihm mangels eigener Kompetenz mindestens je vier ärztliche Sachverständigengutachten für eine Vielzahl von verschiedenen, miteinander zu vergleichenden Krankheiten einzuholen wären. Insbesondere die erwünschte Wertung des Kommissionsmitglieds für Ethik und der Kommissionsmitglieder für Patienten- und Behindertenrechte könnten auf diesem Weg nicht ausreichend spezifisch einfließen.
3. Unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums der Ethikkommission ist diese von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen, hat die Grenzen ihres Beurteilungsspielraumes eingehalten und die richtigen Wertmaßstäbe angewendet (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1971, I C 31.68, juris Leitsatz 2.1).
3.1 Entgegen der Ansicht der Klägerin ist die Ethikkommission von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen. Die klinische Schwere des Krankheitsbildes beim potentiellen Kindsvaters und dessen Schwester bei gleicher CTG-Repeaterlänge wurde den vorgelegten Unterlagen entnommen und im Rahmen der Sitzung vom 23. Februar 2016 behandelt. Das Gericht geht davon aus, dass den ärztlichen Ethikkommissionsmitgliedern im Rahmen ihrer Recherchen die Tatsache bekannt war, dass die klassische myotone Dystrophie Typ 1 zu einer geringeren Lebenserwartung von durchschnittlich 52-54 Jahren führt, da dies beim Vergleich mit verschiedenen anderen Erbkrankheiten ein relevanter Prüfaspekt der Schwere der Krankheit ist. Die Manifestation erster ernster, die Lebensqualität beeinträchtigenden Symptome im Erwachsenenalter wurde von der Ethikkommission zu Grunde gelegt. Ob hierbei eine Manifestation im „jüngeren“ Erwachsenenalter oder „im höheren Lebensalter“ stattfindet, ist angesichts der sehr unterschiedlich verlaufenden klinischen Schwere der Erkrankung bei gleicher Repeatzahl für die potentiellen Nachkommen nicht vorhersehbar und daher für die Entscheidung der Ethikkommission auch nicht entscheidungsrelevant. Die Beteiligten stimmten darin überein, dass eine kurative Therapie nicht möglich ist, jedoch bezüglich einiger Symptome lindernde Maßnahmen zur Verfügung stehen.
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit für die Vererbung der schweren kindlichen Form der myotonen Dystrophie Typ 1 ist nicht ersichtlich, dass der Entscheidung falsche Tatsachen zu Grunde gelegt wurden. Zunächst ist festzuhalten, dass eine genaue Bezifferung der Wahrscheinlichkeit der Vererbung der schweren kindlichen Form durch die Ethikkommission nicht vorgenommen wurde, jedoch der eingesetzte Facharzt für Humangenetik die Wahrscheinlichkeit wegen der Anlageträgerschaft des Mannes als sehr gering einschätzte. Zum einen ergibt sich bereits aus dem Schreiben des Instituts für Humangenetik und Anthropologie der …-Universität … vom 14. März 2003, dass bei der vorliegenden Repeatlänge von 500- 1000 in der Regel bei Patienten gefunden werde, die im Erwachsenenalter erkranken. Wie im Schreiben von Frau Dr. J… – selbst Fachärztin für Humangenetik – vom 14. Juni 2013 auf Seite 2 angeführt, kann eine Repeatlänge von 1000 Repeats auch ohne eine weitere Repeatverlängerung zu einer congenitalen Form führen. Wie wahrscheinlich das ist, lasse sich jedoch nicht zuverlässig beurteilen.
Zum anderen träten laut der Ethikkommission die meisten Fälle einer Repeat-Verlängerung bei der Vererbung über eine weibliche Anlageträgerin ein. Dies wird nicht bestritten.
Dagegen konnte das als Anlage K 1 vorgelegten Schreiben von Dr. N… vom 12. April 2016 für die Bewertung der Ethikkommission keine Rolle spielen, da dieses erst nach dem maßgeblichen Treffen vom 23. Februar 2016 erstellt wurde. Dabei ist zu berücksichtigten, dass Frau Dr. N… nach § 6 Abs. 3 PIDV von einer Prüfung des streitgegenständlichen Antrags auf Durchführung einer PID ausgeschlossen wäre, da sie in dem PID-Zentrum tätig ist, das für die PID-Maßnahme vorgesehen ist. Dr. N… führte nach den eingereichten Unterlagen das humangenetische Beratungsgespräch vom 18. Dezember 2015 durch.
Weiterhin wird in dem Gutachten sehr stark die schwere Symptomatik der congenitalen Form hervorgehoben, wobei über das unstreitig klassisch-überwiegende Krankheitsbild im Erwachsenenalter lediglich eineinhalb sehr generalisierte Halbsätze auftauchen (vgl. auch den Rechtsgedanken des § 6 Abs. 3 PIDV). Daher geht das Gericht – auch angesichts der nicht scharf bestimmbaren Wahrscheinlichkeit des Auftretens (siehe Schreiben Dr. J………) davon aus, dass die Ethikkommission mit der Zugrundelegung einer geringen Wahrscheinlichkeit der Vererbung der kindlichen Form auf einer richtigen Tatsachenbasis entschied.
3.2 Ein Überschreiten der Beurteilungsgrenzen ist nicht ersichtlich. Insbesondere ein Einbezug der sozialen, psychologischen und ethischen Situation der Eltern (ob bereits ein behindertes Kind in der Familie lebt/ob bereits Abtreibungen stattfanden), ist ausdrücklich durch § 6 Abs. 4 Satz 1 PIDV gedeckt (BT-Drs. 17/5451 S.2 und 7) und aufgrund der weitreichenden und äußerst komplexen Wertentscheidungen mit einer Entscheidung über das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der schwerwiegenden Erbkrankheit verquickt.
3.3 Es sind keine Anhaltspunkte für eine Verkennung von Beurteilungsmaßstäben erkennbar.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.
5. Die Berufung war gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Eine grundsätzliche Bedeutung für weitere Fälle liegt darin, dass zur Frage eines Beurteilungsspielraumes einer Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik bisher keine Urteile vorliegen.


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