Medizinrecht

behördliche Beschränkung eines Aufzugs auf 200 Personen, zu erwartende Einhaltung der Hygienevorgaben, Verpflichtung zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für 1.000 Teilnehmer

Aktenzeichen  AN 4 S 21.00806

Datum:
30.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 11939
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVersG Art. 15
BayIfSMV § 7 12.
GG Art. 8
GG Art. 19 Abs. 4

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, dem Antragsteller eine Ausnahmegenehmigung für die Versammlung am 1. Mai 2021 auf der Wegstrecke … – … – … – … – … … – … – … – … – … – … – … mit einer maximalen Teilnehmerzahl von 1.000 Personen mit folgenden Maßgaben zu erteilen:
a) Es ist ein Ordner pro 25 Teilnehmer einzusetzen.
b) Der Aufzug bewegt sich in Blöcken fort. Ein Block hat eine Maximalgröße von 200 Personen.
c) Zwischen den Blöcken ist ein Abstand von mindestens 20 m einzuhalten.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 30.04.2021 gegen Ziffer 2.1.8 des Bescheids der Antragsgegnerin von 29.04.2021 wird insoweit angeordnet.
3. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
4. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Mit seinem Antrag begehrt der Antragsteller eine Ausnahmegenehmigung zur Durchführung eines Aufzugs am 1. Mai 2021 mit 1.000 Teilnehmern.
Der Antragsteller zeigte mit Schreiben vom 29. Dezember 2020 und vom 18. März 2021 eine Versammlung mit dem Thema „1. Mai“ des Veranstalters „…“, vertreten durch den Antragsteller, mit Versammlungsdatum 01.05.2021, 11:00 – 14:00 Uhr und einer erwarteten Teilnehmerzahl von 1.000 Personen als Aufzug mit der Wegstrecke … – … – … – … – … – … (Zwischenkundgebung) – … – … – … – … – … – … – … – … – … – … – … – … – … – … – … – … an.
Die Antragsgegnerin erließ am 17. April 2021 eine Allgemeinverfügung, bekanntgegeben im Amtsblatt Nr. 8b vom 17. April 2021, in der unter anderem weitergehende Regelungen gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 der 12. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (12. BayIfSMV) getroffen wurden. Diese Allgemeinverfügung hat auszugsweise folgenden Inhalt:
I.
Festlegungen:
(…)
7. Einschränkung von Versammlungen im Sinne des Art. 8 des Grundgesetzes
7.1 Die Teilnehmerzahl von Versammlungen, die nicht ausschließlich ortsfest stattfinden, wird auf maximal 200 Personen beschränkt.
(…)
II.
Ausnahmen:
Ausnahmen von den vorgenannten Beschränkungen können erteilt werden, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.
Nach einem Kooperationsgespräch am 23. April 2021 und einer weiteren E-Mail-Kommunikation am 27. und 28. April 2021 teilte der Antragsteller mit, er wolle am Aufzug mit 1.000 Teilnehmern festhalten. Für den Fall einer gerichtlichen Bestätigung der Ablehnung eines Aufzuges von 1.000 Personen melde er folgende alternative Veranstaltung an:
„Eckdaten: Kundgebung 11:00 (beworben 11:30) bis 13:45 Demo 12:30 – ca. 14:45
Route: … – … – … – … – … – … – … – … – … – … und Abschlusskundgebung ab ca. 14:00 Plärrer …“
Die Antragsgegnerin erließ am 29. April 2021 folgenden Bescheid:
1. Der Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach der Allgemeinverfügung der Stadt … vom 17.04.2021 für die o. g. Versammlung wird abgelehnt.
2. Die Versammlungsanzeige vom 29.12.2020/18.03.2021 wird mit Änderungen wie folgt bestätigt:

1. 11:00 Uhr – 13:45 Uhr, 1000 TN, … (auf der von der Polizei zugewiesenen Fläche)
2. 12:30 Uhr – 14:45 Uhr, 200 TN aus der o. g. stationären Versammlung im …, … – … – … – … – … – … – … – … – … – … – … (Abschlusskundgebung bis max. 14:45 Uhr)

2. Es ergehen folgende Beschränkungen:

2.1.8 Am Aufzug dürfen maximal 200 Personen teilnehmen.
…“
Zur Begründung wurde ausgeführt, das Verwaltungsgericht Ansbach habe mit Beschluss vom 26. April 2021 einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die entsprechende Regelung der Allgemeinverfügung abgelehnt. Die Regelung folge der grundsätzlichen normativen Wertung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Hs. 2 12. BayIfSMV und diene dem Schutz vor Gefahren für die Gesundheit und das Leben einzelner sowie dem Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung. Für den 1. Mai alleine seien 13 Versammlungen im Stadtgebiet angemeldet worden, sie stellten ohne Beschränkungen einen potentiellen Infektionsherd dar.
Eine Ausnahme nach Ziffer II. der Allgemeinverfügung könne nicht erteilt werden. Die Versammlung habe weder von der Anzahl der Teilnehmer noch von der Länge der Wegstrecke oder dem zu erwartenden Versammlungsgeschehen ein wesentlich geringeres Infektionsrisiko als andere Aufzüge. Sie übersteige mit 1.000 Personen die festgelegte Grenze von 200 Personen erheblich. Die Wegstrecke mit 6,4 km Länge, wechselnden Straßenbreiten, vielen Abbiegungen und zwei Tunneln biete keine wesentliche Verringerung der mit langen Aufzügen einhergehenden Versammlungsabläufe und zusätzlichen Infektionsgefahren. Auch unter Berücksichtigung des Ablaufs im Vorjahr könne keine geringere Gefahr begründet werden. Damals sei nach entsprechender Rechtslage eine ortsfeste Versammlung mit 50 Personen festgesetzt worden, im Anschluss sei von den Veranstaltern zu einem „individuellen Stadtspaziergang“ aufgerufen worden, dem sich ca. 1.000 Personen angeschlossen hätten und der von Bannerträgern angeführt worden sei. Dabei sei von zahlreichen Teilnehmern gegen Abstandspflicht und Ansammlungsverbot verstoßen worden, die den Zug anführenden Personen hätten zu keinem Zeitpunkt mäßigend auf das Geschehen Einfluss nehmen wollen. Die Nichterteilung einer Ausnahme sei daher auch als verhältnismäßig anzusehen.
Mit einem am 30. April 2021 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenen Schriftsatz seines Bevollmächtigten lässt der Antragsteller gegen diesen Bescheid Klage erheben mit dem Ziel der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für einen Aufzug mit 1.000 Teilnehmern auf der geänderten Wegstrecke. Zudem wird gemäß § 80 Abs. 5 VwGO beantragt,
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung wird ausgeführt, es sei ein detailliertes Hygienekonzept vorgelegt worden, außerdem habe sich der Antragsteller sehr kooperativ hinsichtlich der Wegstrecke gezeigt. Auch aus dem teilnehmenden Teilnehmerspektrum sei von einem großen Coronabezogenen Problembewusstsein auszugehen, weshalb von einer erforderlichen Mitwirkung auszugehen sei. Die Veranstaltung aus dem letzten Jahr könne hingegen nicht zu berücksichtigen sein, weil der Antragsteller hierfür nicht verantwortlich gewesen sei.
Der Antragsgegner beantragt,
Der Antrag wird abgelehnt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag wird im Lichte des Rechtsschutzziels (§ 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO) dahingehend ausgelegt, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gemäß Ziffer 2 der Allgemeinverfügung für die streitgegenständliche Versammlung zu verpflichten.
Hingegen könnte alleine mit einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO allenfalls die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der in der Hauptsache erhobenen Klage gegen die Versammlungsbeschränkung in Ziffer 2.1.8 erreicht werden, ohne jedoch die weiterhin nach Ziffer I.7.1 bzw. II. der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 17.04.2021 (Allgemeinverfügung) erforderliche Ausnahmegenehmigung entbehrlich zu machen.
Die Auslegung des gestellten Antrags in einen solchen nach § 123 VwGO und einen weiteren nach § 80 Abs. 5 VwGO war bereits deshalb geboten, weil in der Hauptsache zugleich eine Verpflichtungsklage erhoben wurde und der Antragsteller insoweit sein Begehren deutlich gemacht hat.
Soweit mit dem Antrag nach § 123 VwGO eine Vorwegnahme der Hauptsache bewirkt wird, ist diese wegen der hohen Bedeutung der Art. 8 Abs. 1 und 2 GG, sowie Art. 19 Abs. 4 GG im konkreten Fall gerechtfertigt.
Der so ausgelegte Antrag ist zulässig und begründet.
Hinsichtlich der Rechtswirksamkeit der Allgemeinverfügung hat die Kammer mit Beschluss vom 26. April 2021 (AN 4 S 21.00728) folgendes aufgeführt:
„Neben der Verhältnismäßigkeit muss die gewählte Maßnahme auch mit höherrangigem Recht vereinbar sein. Im Rahmen der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung kann nicht mit hinreichender Sicherheit geklärt werden, ob Ziffer I.7.1 der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 17. April 2021 die Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG verletzt und die Wahl dieses Mittels durch die Antragsgegnerin damit ermessensfehlerfrei erfolgt ist.
(1) Ziffer I.7.1 der Allgemeinverfügung stellt einen Eingriff in den sachlichen Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG dar.
Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis zu versammeln. Ziffer I.7.1 der Allgemeinverfügung beschränkt die Teilnehmerzahl von nicht ausschließlich ortsfesten Versammlungen auf 200 Personen. Eine Ausnahme von dieser Beschränkung kann gemäß Ziffer II der Allgemeinverfügung erteilt werden, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist. Damit wird im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Allgemeinverfügung für die Durchführung eines Aufzuges mit mehr als 200 Teilnehmern ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt normiert, was eine Abweichung von der in Art. 8 Abs. 1 GG grundsätzlich vorgesehenen Erlaubnisfreiheit von Versammlungen darstellt. Zwar wird nicht die Durchführung einer Versammlung an sich von der vorherigen Erteilung einer Ausnahme durch die Antragsgegnerin abhängig gemacht, sondern nur die Durchführung einer Versammlung in einer bestimmten Art und Weise (als Aufzug mit mehr als 200 Teilnehmern). Jedoch unterliegen auch die Modalitäten einer Versammlung (z.B. Teilnehmerzahl) bisher keiner Erlaubnispflicht.
(2) Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann die Versammlungsfreiheit für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
Gesetzliche Grundlage für Ziffer I.7.1 der Allgemeinverfügung ist § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 i.V.m. § 28a Abs. 1 Nr. 10 IfSG. Als Regelbeispiel möglicher notwendiger Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG werden in § 28a Abs. 1 Nr. 10 IfSG die Untersagung von oder Erteilung von Auflagen für das Abhalten von Versammlungen aufgezählt.
Art. 8 Abs. 1 GG statuiert die Anmelde- und Erlaubnisfreiheit von Versammlungen ausdrücklich und folgt damit der schon in Art. 123 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung getroffenen Normierung.
Die Einführung einer Anmeldepflicht für Versammlungen unter freiem Himmel in dem zu der Zeit geltenden Versammlungsgesetz führte zu heftigen verfassungsrechtlichen Diskussionen und wurde vom Bundesverfassungsgericht nur dann für verfassungsgemäß erachtet, wenn die Anmeldepflicht nicht ausnahmslos gilt, sondern Spontan- oder Eilversammlungen zulässt, und ein Verstoß gegen sie nicht automatisch das Verbot der Versammlung zur Folge hat (grundlegend: BVerfG, B.v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81 – BVerfGE 69, 315 – „Brokdorf“ – juris Rn. 73 ff.; U.v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 – BVerfGE 128, 226 – juris Rn. 89).
Aus der Brokdorf-Entscheidung folgt im Umkehrschluss, dass der Zusatz „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ grundsätzlich am Gesetzesvorbehalt für Versammlungen unter freiem Himmel des Art. 8 Abs. 2 GG teilnimmt. Im Kontext der kommunikativen Freiheitsrechte dürfte der entsprechende Zusatz, soweit dies im Eilverfahren gesagt werden kann, systematisch mit dem Zensurverbot aus Art. 5 GG verwandt sein und vor allem darauf zielen, dass eine präventive behördliche Einflussnahme auf Inhalte der kollektiven Meinungsäußerung ausgeschlossen sein soll (vgl. Stein, Erläuterungen zu Art. 8 Grundgesetz und zum Versammlungsgesetz, 2. Auflage, S. 201).
Es ist bisher gerichtlich nicht entschieden, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen eine Erlaubnispflicht für Versammlungen – generell oder nur bezogen auf einzelne Modalitäten – eingeführt werden kann. Soweit die Gerichte sich im Rahmen von Eilverfahren mit Vorschriften zur Bekämpfung der Corona-Pandemie befasst haben, welche generelle Versammlungsverbote mit Zulassungs-/Ausnahme-/Erlaubnisvorbehalt regelten (vgl. Übersicht bei Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 1. Aufl. 2020, IV. 3. Fn. 138), wurde die Frage, ob die damit verbundene Umkehr des in Art. 8 Abs. 1 GG vorgesehenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses bezüglich der Erlaubnisfreiheit von Versammlungen verfassungsgemäß ist, zumeist offengelassen (so BVerfG, B.v. 17.4.2020 – BvQ 37/20 – juris Rn. 23; BbgVerfG, B.v. 3.6.2020 – 9/20 EA – juris Rn. 41; BayVGH, B.v. 30.4.2020 – 10 CS 20.999 – juris Rn. 23; B.v. 22.5.2020 – 10 CE 20.1236 – juris Rn. 11; B.v. 29.05.2020 – 10 CE 20.1291 – juris Rn. 11; OVG Hamburg, B.v. 16.4.2020 – 5 Bs 58/20 – BeckRS 2020, 5951 Rn. 7; tendenziell eher bejahend: VGH BW, B.v. 15.4.2020 – VGH 1 S 1078/20 – BeckRS 2020, 5956 Rn. 14) oder gar nicht thematisiert (so BayVGH, B.v. 9.4.2020 – 20 CE 20.755 – juris Rn. 4, 6 ff.). Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht Hamburg die Verfassungswidrigkeit eines repressiven Versammlungsverbots mit Befreiungsvorbehalt angenommen (B.v. 16.4.2020 – 17 E 1648/20 – BeckRS 2020, 9930), wurde jedoch in zweiter Instanz vom Oberverwaltungsgericht Hamburg aufgehoben, das die entscheidende Frage wegen Zeitmangels ebenfalls offenließ (B.v. 16.4.2020 – 5 Bs 58/20 – BeckRS 2020, 5951 Rn. 7).
Vorliegend wird zwar kein genereller Erlaubnisvorbehalt für Versammlungen normiert, welcher in der Rechtsprechung und Literatur (bisher) auch nicht für zulässig erachtet wurde (BVerfG, U.v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 – BVerfGE 128, 226 – juris Rn. 89; Depenheuer in Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 8 Rn. 167 f.; Gusy in von Mangoldt/Klein/Stark, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 8 Rn. 36; Hong in Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 1. Aufl. 2015, B. Rn. 63), dafür aber ein Erlaubnisvorbehalt für bestimmte Modalitäten der Versammlung (Aufzug mit mehr als 200 Teilnehmern).
Falls es möglich sein sollte, durch oder aufgrund eines Gesetzes eine Erlaubnispflicht für die Durchführung einer Versammlung in einer bestimmten Art und Weise zu normieren, stellt sich dem Gericht weitergehend die Frage, ob § 28a Abs. 1 Nr. 10 IfSG den Anforderungen an das dafür erforderliche Gesetz im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GG gerecht wird.
In diesem Zusammenhang wird die Wesentlichkeitslehre relevant. Nach dieser beurteilt sich zum einen, ob ein parlamentarisches Gesetz erforderlich ist und bestimmt sich zum anderen die erforderliche Regelungsdichte des Gesetzes (Grzeszick in Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 106). Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen (BVerfG, B.v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 – juris Rn. 39; B.v. 8.8.1978 – 2 BvL 8/77 – BVerfGE 49, 89 – juris Rn. 90). Die Wesentlichkeitstheorie beantwortet nicht nur die Frage, ob überhaupt ein bestimmter Gegenstand gesetzlich geregelt sein muss, sondern ist auch dafür maßgeblich, wie weit diese Regelungen im Einzelnen gehen müssen (BVerfG, B.v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 – juris Rn. 74). In einem Hauptsacheverfahren wird zu klären sein, ob § 28a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 28a Abs. 1 Nr. 10 IfSG den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie genügt.
Ziffer I.7.1 der Allgemeinverfügung stellt keine Untersagung von Versammlungen im Sinne von § 28a Abs. 1 Nr. 10 IfSG dar, sondern eine präventive Beschränkung bestimmter Modalitäten einer Versammlung, mithin eine „Auflage“ im Sinne des § 28a Abs. 1 Nr. 20 IfSG (vgl. OVG SH, B.v. 16.04.2021 – 3 MR 21/21 – juris Rn. 29 zur Regelung einer Rechtsverordnung, nach der öffentliche Versammlung nur bei Einhaltung bestimmter Teilnehmerobergrenzen zulässig sind und für Versammlungen unter freiem Himmel mit bis zu 150 Teilnehmenden auf Antrag Ausnahmen zugelassen werden können). Durch die präventive Beschränkung der Versammlungsmodalitäten mit Ausnahmevorbehalt in der Allgemeinverfügung wird eine Erlaubnispflicht für die beschränkten Versammlungsmodalitäten eingeführt. Diesem Instrument der Erlaubnispflicht steht der ausdrückliche Wortlaut der Verfassung „ohne Erlaubnis“ entgegen. Das Wort „Erlaubnis“ wird in § 28a Abs. 1 Nr. 10 IfSG nicht erwähnt. Insofern müsste die Normierung eines Erlaubnisvorbehalts unter den Begriff „Auflage“ subsumiert werden, wobei der Begriff „Auflage“ bereits irreführend ist. Es handelt sich entgegen dem Wortlaut nicht um eine Nebenbestimmung nach Art. 36 Abs. 2 Nr. 4 BayVwVfG zu einem begünstigenden Verwaltungsakt, an dem es im Versammlungsrecht angesichts der Erlaubnisfreiheit von Versammlungen gerade fehlt. Vielmehr ist damit eine beschränkende Verfügung gemeint (BVerfG, B.v. 21.3.2007 – 1 BvR 232/04 – juris Rn. 22).
Die Kammer hält an ihrer in diesem Beschluss geäußerten Rechtsauffassung unverändert fest.
Die Antragsgegnerin verkennt bei Anwendung der im Streit stehenden Vorschrift Ziffer I.7.1 und II. ihrer Allgemeinverfügung jedoch grundlegend, dass diese nur dann als recht- und verfassungsmäßig angesehen werden kann, wenn bei der Entscheidung über die Ausnahmegenehmigung die gleichen rechtlichen Maßstäbe angelegt werden, die auch bei einer Versammlungsbeschränkung nach Art. 15 BayVersG unter Berücksichtigung der Wertung des Art. 8 Abs. 1 und 2 GG zu beachten gewesen wären, zumal anders als bei einer Eil- oder Spontanversammlung für die Antragsgegnerin die Möglichkeit bestanden hat, sich mit dem Hygienekonzept des Antragstellers differenziert auseinandersetzen.
Dabei ist die Ablehnung deshalb ermessensfehlerhaft, weil die für die infektionsschutzrechtliche Vertretbarkeit sprechenden Gründe nicht hinreichend gewürdigt wurden. Insbesondere hat die Antragsgegnerin bei der Beurteilung der Erteilung der Ausnahmegenehmigung nicht berücksichtigt, dass der Antragsteller sich zum einen hinsichtlich der Wegstrecke kooperativ gezeigt hat (Weglassen des Aufzugsabschnittes innerhalb der Stadtmauern) und insoweit eine geänderte Wegstrecke ohne Zwischenhalte und ausschließlich auf überdurchschnittlich breiten Straßen angemeldet hat und zum anderen – anders als bei anderen Veranstaltungen in der Vergangenheit – wohl nicht von einem durch die Veranstalter geduldeten Verstoß gegen die Hygienevorschriften auszugehen ist. Der bloße Hinweis an Interessierte, man hoffe für den Fall einer Teilnehmerbeschränkung, die Adressaten „auf der Route spazierend oder Rad fahrend zu sehen“ (https://www. …*), reicht demgegenüber nicht aus, von einer fehlenden Mitwirkungsbereitschaft in Bezug auf die Hygieneanforderungen auszugehen, zumal insbesondere nachdem an gleicher Stelle sogar glaubhaft auf die Notwendigkeit derartiger Hygienemaßnahmen hingewiesen und das Tragen von FFP2-Masken empfohlen wurde.
Soweit die Antragsgegnerin eine Ausstrahlungswirkung auf andere Versammlungen befürchten sollte oder von der Nichtbefolgung der erforderlichen Hygienevorschriften gerade durch die Teilnehmer an der streitgegenständlichen Versammlung des Antragstellers ausgeht, finden sich im Bescheid hierzu keine genügenden Anhaltspunkte, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, zumal jede Versammlung individuell für sich zu beurteilen ist. Soweit in der Antragserwiderung hierzu vorgetragen wurde, wurden keine hygienespezifischen Aspekte angeführt.
Damit kommt es bereits nicht mehr streitentscheidend darauf an, dass grundsätzlich auch die hohe Bedeutung des 1. Mai für die Gruppierung des Antragstellers mit zu berücksichtigen ist.
Unter Beachtung des so verstandenen Maßstabs für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung ist deren Ablehnung durch Bescheid vom 29. April 2021 als rechtswidrig anzusehen.
Die gerichtlichen Maßgaben dienen dabei der Sicherstellung der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit, weil durch eine stärkere räumliche Trennung/Segmentierung des Gesamtaufzuges in Gruppen von 200 Personen ein gewisser „Bremsweg“ ermöglicht wird. Dabei wird berücksichtigt, dass die Antragsgegnerin selbst einen Aufzug mit 200 Teilnehmern als noch infektionsschutzrechtlich vertretbar ansieht, und eine Einhaltung dieser Abstände konkret zu erwarten ist. Wegen der Kürze der noch vor Beginn der Versammlung bleibenden Zeit und des effektiven Rechtsschutzes erscheint eine Konkretisierung durch das Gericht angezeigt.
Wegen der erforderlichen Maßstabsgleichheit und zur Verhinderung sich widerstreitender Anordnungen war insoweit auch die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 2.1.8 des Bescheides anzuordnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Da die vorliegende Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnimmt, wurde der Empfehlung in Ziffer 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 folgend der Streitwert auf die Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Wertes angehoben.


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