Medizinrecht

Bescheid, Gutachten, Berufung, Behinderung, Blindheit, Gerichtsbescheid, Widerspruch, Klinik, MDK, Feststellung, Betreuung, Blindengeld, Krankenpflege, GdB, Rechtsprechung des BSG, Grad der Behinderung, Ergebnis der Beweisaufnahme

Aktenzeichen  L 15 BL 12/20

Datum:
22.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8977
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

1. Allein die Durchführung von Maßnahmen der Frühförderung für mehrfach schwerstbehinderte Kinder rechtfertigt nicht die Annahme, dass für die Betroffenen blindheitsbedingte Mehraufwendungen bestehen.
2. Blindheitsbedingte Mehraufwendungen können aber dann bestehen, wenn bei den Betroffenen ein erhöhter Bedarf an Förderung der akustischen und taktilen Wahrnehmung besteht, um die blindheitsbedingten Nachteile auszugleichen, oder wenn mehrere spezielle Hilfsmittel eingesetzt werden können, um die Blindheit (teilweise) auszugleichen.
3. Dafür ist nicht erforderlich, dass die Betroffenen “zerebral gesund” sind. Maßgeblich ist, ob die Zielsetzung der sozialen Teilhabe sowie der Ausgleich der fehlenden Sinnesmodalität Sehen und damit die Zweckbestimmung des Blindengelds zumindest teilweise möglich ist.

Verfahrensgang

S 15 BL 3/18 2020-07-30 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Auf die Berufung wird der Gerichtsbescheid des SG Augsburg vom 30.07.2020 abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 24.07.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.02.2018 und des Bescheids vom 09.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.03.2018 verurteilt, der Klägerin ab März 2021 Blindengeld für blinde Menschen nach dem BayBlindG zu leisten.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 2/3 zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i.V.m. §§ 143, 151 SGG) und überwiegend auch begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin blind im Sinne des BayBlindG ist und ihr deshalb Blindengeld für blinde Menschen zusteht.
Letzteres hat das SG für die Zeit ab März 2021 zu Unrecht verneint. Die Klägerin hat seit dann Anspruch auf Blindengeld. Die streitgegenständlichen Bescheide des Beklagten sind insoweit rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,
1.deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt,
2.bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
Hochgradig sehbehindert ist gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG, wer nicht blind in diesem Sinne (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) ist und
1. wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder
2. wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bedingen.
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der DOG folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe VG, Teil A Nr. 6):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Wie der Senat wiederholt (vgl. z.B. die Urteile vom 20.12.2018 – L 15 BL 6/17 -, 06.10.2020 – L 15 BL 6/19 – und 08.02.2022 – L 15 BL 9/20) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92, Beschluss vom 29.01.2018 – B 9 V 39/17 B, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R). Auch dem Vollbeweis können gewisse Zweifel innewohnen; verbleibende Restzweifel sind bei der Überzeugungsbildung unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (z.B. BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R, m.w.N.).
Dies gilt ausdrücklich auch für die Verfahren bezüglich des BayBlindG, was das BSG in den Urteilen vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) und 14.06.2018 (B 9 BL 1/17 R) klargestellt hat. Eine andere Situation hinsichtlich der Beweislast gilt nach dieser Rechtsprechung nur für den im vorliegenden Verfahren strittigen Zweckverfehlungseinwand, der in Fällen von die Blindheit überlagernden Krankheitsbildern vom Leistungsträger erhoben werden kann.
Die Klägerin hat Anspruch auf Blindengeld für blinde Menschen ab März 2021.
Sie ist blind im Sinne des BayBlindG. Der vom Beklagten erhobene anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung des BayBlindG geht für Zeit ab März 2021 nicht durch, da Vieles dafür spricht, dass das konkrete Krankheitsbild der Klägerin blindheitsbedingte Aufwendungen (in ihrer Situation) nicht von vornherein ausschließt.
1. Bei der Klägerin liegt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung der Sinnesfunktionen aufgrund zerebraler Beeinträchtigung vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. bereits die Entscheidungen v. 31.01.1995 – 1 RS 1/93 – und 26.10.2004 – B 7 SF 2/03 R; zuletzt Urteil v. 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) stehen auch zerebrale Schäden, die – für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans – zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist die bei der Klägerin vorliegende Einschränkung von Sinnesfunktionen hochgradig. Dies folgt aus den sämtlich nachvollziehbaren und aussagekräftigen medizinischen Unterlagen, vor allem auch aus dem plausiblen Sachverständigengutachten von E, und ist auch zwischen den Beteiligten grundsätzlich nicht streitig.
Darauf, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten, kommt es nicht (mehr) an. Soweit das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hatte, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hat es im Urteil v. 11.08.2015 (a.a.O.) hieran nicht mehr festgehalten. Zur Aufgabe dieser Rechtsprechung hat sich das BSG aufgrund von Erkenntnisschwierigkeiten sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst gesehen (vgl. näher a.a.O.). Ebenfalls aufgegeben in der genannten Entscheidung hat das BSG die in der früheren Rechtsprechung getroffene Unterscheidung zwischen dem „Erkennen“ und dem „Benennen“ als so verstandene Teilaspekte bzw. Teilphasen des Sehvorgangs, da die Differenzierung gerade bei zerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen, d.h. die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 – a.a.O. – und 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) ist für den Anspruch auf Blindengeld vielmehr allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist“ (BSG, a.a.O.). Der Senat fühlt sich an diese (neuere) Rechtsprechung des BSG gebunden, wie er bereits in zahlreichen Urteilen ausdrücklich klargestellt hat (vgl. bereits das Urteil v. 19.12.2016 – L 15 BL 9/14).
Die Klägerin ist blind im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG. Es ist zur Gewissheit des Senats nachgewiesen, dass bei ihr eine Störung bei der Weiterleitung optischer Reize oder eine Verarbeitungsstörung vorliegt, so dass sie die Signale der (auch) visuellen Sinnesmodalität nicht identifizieren, mit früheren Erinnerungen nicht vergleichen und nicht benennen kann. Dabei ist unschädlich, dass nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, welche der beiden Alternativen vorliegt. Denn wie der Sachverständige E nachvollziehbar darlegt, steht fest, dass eine der beiden Varianten gegeben ist. In beiden Fällen liegt jedoch nach der Rechtsprechung Blindheit aufgrund zerebraler Störungen vor (siehe sogleich im Folgenden).
a. Durch die neuere Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 – B 9 BL 1/14 R – und 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) hat sich an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (nun: optische Reizaufnahme und Verarbeitung etc.) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen, nichts geändert (vgl. bereits die frühere Rechtsprechung des erkennenden Senats, nach der es schon bisher in den Fällen umfangreicher zerebraler Schäden auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht mehr ankam, wenn bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestanden, z.B. Urteil v. 27.11.2013 – L 15 BL 4/11; so auch die Lit., vgl. Braun, Neue Regeln für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2016, 134 : keine allgemeine „Entwarnung“). Der Blindheitsnachweis muss somit auch weiterhin erbracht werden.
b. Hinsichtlich der Klägerin ist, wie das SG zutreffend entschieden hat, der Blindheitsnachweis erbracht.
In dem genannten Urteil vom 11.08.2015 hat das BSG, wie bereits dargelegt, den Sehvorgang im Sinne des BayBlindG (neu) definiert und im Urteil vom 14.06.2018 (a.a.O.) dies bestätigt. Im Rahmen eines umfassenden Verständnisses des Sehvorgangs sieht das BSG nicht nur die optische Reizaufnahme – und wohl ebenfalls die Reizweiterleitung, ohne dass dies in der genannten Entscheidung ausdrücklich festgehalten worden wäre -, sondern auch die weitere Verarbeitung der optischen Reize im Bewusstsein des Menschen als vom Begriff des Sehens im rechtlichen Sinne mit umfasst an; dabei hat das BSG insoweit keine weitere Einschränkung gemacht. Es ist daher im Hinblick auf die Verarbeitungsvorgänge von einem weiten Begriffsverständnis auszugehen (s.u.). Dieses erklärt sich auch mit Blick auf die nach der neuen Rechtsprechung des BSG nun entfallende (in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderungen früher vorzunehmende), in Problemfällen äußerst schwierige und kaum zu leistende Differenzierung, ob das Sehvermögen (Sehen- bzw. Erkennen-Können) beeinträchtigt war, oder ob – bei vorhandener Sehfunktion – (nur) eine Störung des visuellen Benennens vorlag, sodass das Gesehene nicht richtig benannt werden konnte. Der Senat hat im Urteil vom 19.12.2016 (a.a.O.) bereits dargestellt, dass die Aufgabe dieser schwierigen Differenzierung von der Literatur denn auch als sachgerecht begrüßt und als gewisse Vereinfachung auf dem Weg zum Blindheitsnachweis verstanden worden ist (vgl. Braun, a.a.O.), und hat hervorgehoben, dass er diese Auffassung teilt.
Somit ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG (Urteile v. 11.08.2015 – B 9 BL 1/14 R – und 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R) jedenfalls in den Fällen zerebraler Schäden auch zu prüfen, ob die Fähigkeit zur „Verarbeitung im Bewusstsein“ des sehbehinderten Menschen beeinträchtigt bzw. aufgehoben ist.
Eine solche (auch) visuelle Verarbeitungsstörung oder alternativ bereits eine Reizweiterleitungsstörung ist vorliegend zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Hingegen überzeugen die Einwände des Beklagten nicht.
Seine Überzeugung hat der Senat insbesondere aufgrund des fundierten und plausiblen Sachverständigengutachtens von E gewonnen. Dieser hat in jeder Hinsicht nachvollziehbar dargestellt, dass keine Zweifel an der Blindheit der Klägerin bestehen. Der Beklagte hat nicht vermocht, durch seine Darlegungen die Feststellungen des anerkannten und versierten Fachmanns E in Frage zu stellen.
Wie der Sachverständige für den Senat nachvollziehbar dargelegt hat, zeigt die Beurteilung der vorliegenden MRT-Aufnahmen des Gehirns, dass es im Bereich des visuellen Kortex der Klägerin im Zeitverlauf seit der Schädigung zu einer messbaren Atrophie der Hirnrinde gekommen ist. Auch ist deutlich erkennbar, dass die massiv aufgeweiteten Ventrikel in Verbindung mit der erheblichen Störung im Bereich der weißen Substanz (u.a. im Bereich des Scheitel- und des Schläfenlappens) diejenigen Gehirnbereiche betreffen, in denen die Sehstrahlung zur Sehrinde verläuft. In der klinisch-neurologischen Untersuchung durch den Sachverständigen haben sich nach dessen plausibler Darlegung zudem keine Hinweise auf eine bewusste Verarbeitung visueller Reize ergeben. Der OKN ist (erneut) negativ gewesen. Dem Senat ist bereits aus früheren Gutachten bekannt, dass der Ausfall des OKN einen sehr starken Hinweis für eine funktionelle kortikale Blindheit darstellt, da dieser beim Menschen insbesondere im kortikalen Bereich der Sehrinde und in assoziierten Hirnregionenen verschaltet ist. Die Tatsache, dass aktuell wie auch in den Voruntersuchungen an der L-Universität die Lichtreaktion der Pupillen auslösbar gewesen ist, beweist entsprechend den nachvollziehbaren Feststellungen von E im Umkehrschluss nicht, dass die Klägerin nicht blind ist, da die Umschaltung dieses Reflexes bereits im Hirnstammbereich erfolgt. Eine erhaltene Lichtreaktion erlaubt keinesfalls Rückschlüsse auf die optische Wahrnehmung. Die Tatsache, dass sich durch Lichtreize epileptische Anfälle provozieren ließen, beweist im Umkehrschluss auch nicht, dass keine Blindheit vorliegt, da es durchaus über den Thalamus zu einer Weiterleitung an die kortikalen Areale kommen kann. Weiter hat E zutreffend darauf hingewiesen, dass 2019 bei der VEP-Blitz-Untersuchung (in M1) keine reproduzierbaren kortikalen Reizantworten abgeleitet haben werden können, wobei der Sachverständige die ausgedruckte Original-Ableitung persönlich einsehen hat können. In der eigenen klinisch-neurologischen Untersuchung durch den Gutachter ist bei der Klägerin neben dem OKN auch der visuelle Drohreflex ausgefallen; die Klägerin hat weder fixieren noch mit dem Blick folgen können.
Der Senat kann den Feststellungen des Sachverständigen auch uneingeschränkt folgen, wenn dieser darlegt, er vermöge nicht zu sagen, an welcher Stelle im System der optischen Reizweiterleitung im Gehirn die hierfür maßgebliche Schädigung aufgetreten ist und es könne bei der Klägerin nicht differenziert werden, ob eine Weiterleitung optischer Reize oder die unmittelbare Reizverarbeitung im Gehirn oder eine Kombination beider Faktoren aufgehoben bzw. gemindert ist. Wie E ohne jeden Zweifel und in jeder Hinsicht plausibel feststellt, ist jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Weiterleitung und/oder deren kortikale Verarbeitung im Bereich der Sehrinde des Gehirns der Klägerin aufgehoben. Diese Funktionsstörung besteht seit Februar 2014 (Entstehung der kompliziert verlaufenden Listerien-Meningoencephalitis mit Ventrikulitis und erheblichem Hydrocephalus).
Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Gutachten von P. Dies folgt bereits daraus, dass dieser keine neurologische Untersuchung durchgeführt hat, zu welcher der Sachverständige als Augenarzt auch nicht in der Lage gewesen wäre. Die Blindheit der Klägerin beruht jedoch gerade auf den genannten und im Einzelnen nachgewiesenen neurologischen Störungen.
Soweit im Übrigen vom Beklagten mit Blick auf die Schulzeugnisse der Klägerin auf das (angebliche) Erkennen von Farben abgestellt wird, kann dies keine ernsthaften Zweifel an der Blindheit begründen, da dem Senat aufgrund zahlreicher weiterer vergleichbarer Sachverhalte die beschönigenden Beschreibungen in Berichten/Zeugnissen von Schulen für mehrfach schwerstbehinderte Kinder durchaus bekannt sind (s. hierzu im Einzelnen unten), vor allem aber, da in dem Zeugnis gar nicht die Rede davon ist, dass die Klägerin die Grundfarben gesehen hätte. Eine weitere Nachfrage hat sich daher aus Sicht des Senats erübrigt. Gleiches gilt ferner im Übrigen auch für die in den Unterlagen befindliche Einschätzung der Mutter der Klägerin, dass diese „lieber in aufrechter Position im Rollstuhl“ sitze, „damit sie besser sehen könne“. Denn ohne Weiteres liegt nahe, dass hier von einer günstigeren Position die Rede ist, die es der Klägerin lediglich ermöglichen soll, mehr von der Umgebung „mitzubekommen“.
2. Einem Anspruch der Klägerin auf Blindengeld nach dem BayBlindG steht ab März 2021 auch nicht entgegen, dass der Beklagte den Einwand der Zweckverfehlung erhoben hat.
Wie das BSG in dem genannten Urteil vom 14.06.2018 dargelegt hat, stellt die in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG enthaltene Formulierung des Gesetzgebers hinsichtlich des Ausgleichs blindheitsbedingter Mehraufwendungen keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung dar, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung. Dennoch bleibe, so das BSG (a.a.O.), der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung, was sich auch an anderer Stelle aus dem Gesetz erschließe. So sehe das BayBlindG Regelungen zur Vermeidung einer Überversorgung des blinden Menschen vor (Art. 4 Abs. 3 BayBlindG). Der Zweck des Blindengelds werde aber, so das BSG in der genannten Entscheidung, auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbilds des Betroffenen gar nicht erst ent- bzw. bestehen könne. Das BSG hat in der Entscheidung vom 14.06.2018 im Einzelnen Folgendes festgestellt:
„Hieran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zB dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma).
Das Gesetz geht in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG ausdrücklich vom Vorliegen der Blindheit und von bestehenden Mehraufwendungen aus. Es setzt typisierend voraus, dass überhaupt ein „Mehraufwand“ aufgrund der Blindheit bestehen kann. Mit dem Blindengeld soll weniger ein wirtschaftlicher Bedarf gesteuert werden. Das BVerwG hat hierzu zur früheren Blindenhilfe nach § 67 Abs. 1 BSHG bereits ausgeführt, dass Aufwendungen, die einem Blinden durch Kontaktpflege und Teilnahme am kulturellen Leben entstehen, nur einen Teil dessen ausmachen, was ein Blinder bedingt durch sein Leiden im Verhältnis zu einem Sehenden vermehrt aufwenden muss (so BVerwG Urteil vom 4.11.1976 – V C 7.76 – BVerwGE 51, 281, 287). Das Blindengeld dient in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen […]. Eine Eingliederung blinder Menschen in die Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile erfolgt (vgl Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 35), weil diese in der zunehmend visualisierten Umwelt besonderen Beeinträchtigungen unterliegen (vgl Braun, MedSach 3/2016, 134, 135 mwN). So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass ua blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern (vgl Bayerisches LSG, aaO; BayLT-Drucks 17/17055 S. 1 zu A und 17/21510 S. 1 zu A).
Orientiert am vorgenannten Regelungszweck des Gesetzes ist es sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwands den Anwendungsbereich für die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (zB dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Denn deren Zweck wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw. bestehen kann.“
Vorliegend hat der Beklagte den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung zwar erhoben. Es spricht aber Vieles dafür, dass (ab März 2021) der Mangel an Sehvermögen der Klägerin zumindest teilweise ausgeglichen werden kann.
Dies folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere der Auswertung aller vorliegenden einschlägigen medizinischen und pflegerischen Unterlagen. Der Senat beruft sich hier vor allem auf die o.g. sachverständigen Feststellungen des von ihm beauftragten Sachverständigen E und macht sich diese nach eigener Prüfung zu eigen. Vor allem die weiteren Unterlagen, u.a. der A-L-Schule und deren Gutachten und auch die Angaben der Klägerseite (schriftlich und auch in der mündlichen Verhandlung am 22.03.2022) selbst, zeigen daneben ebenfalls, dass aufgrund des Gesundheitszustands der Klägerin ein Ausgleich des Mangels an Sehvermögen zumindest in Betracht kommt und naheliegt.
Bei der Klägerin liegt MCS mit erhaltener Kontaktfähigkeit, spastische Tetraparese, Dysphagie (versorgt mit Tracheostoma), PEG-Ernährungssonde, Harninkontinenz, Stuhlinkontinenz, generalisierte Epilepsie (mit rezidivierenden Status epilepticus und Photosensibilität, Hydrocephalus malresorptivus mit Shuntsystem sowie Blindheit vor.
a) Maßgeblich sind die tatsächlichen bei der Klägerin bestehenden Verhältnisse (vgl. bereits das Urteil des Senats v. 12.11.2019 – L 15 BL 1/12). Auch wenn in dem o.g. Urteil des BSG von einer „näheren Bestimmung aller relevanten Krankheitsbilder …, welche blindheitsbedingte Aufwendungen ausschließen“ die Rede ist, würde es nicht genügen, wenn der Beklagte abstrakt alle insoweit einschlägigen Krankheitsbilder auflisten würde. Aus naheliegenden Gründen ist ein Verweis auf die jeweilige Diagnose nicht ausreichend, um dem Einzelfall gerecht zu werden (vgl. bereits das Urteil des erkennenden Senats v. 17.07.2012 – L 15 BL 11/08, in dem im Einzelnen dargelegt worden ist, dass auch bei der Diagnose eines „vollständigen Apallischen Syndroms“ die individuellen Verhältnisse mit Blick auf die der Feststellung immanenten diagnostischen Unsicherheit und der Begrenztheit medizinischer Erfahrungssätze im Einzelnen untersucht werden müssen); es sind die Voraussetzungen zu überprüfen, ob bei der konkreten Ausprägung des Krankheitsbildes blindheitsbedingte Mehraufwendungen in Betracht kommen (so auch Braun, Die neuen Kriterien für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 3/2019, 94 ).
b) Mit dem BSG geht der Senat davon aus, dass der Begriff der blindheitsbedingten Mehraufwendungen weit auszulegen ist (vgl. bereits das Urteil des Senats vom 12.11.2019, a.a.O.). Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus den Darlegungen des BSG (s.o.) sowie aus den vom BSG ebenfalls genannten Motiven des Landesgesetzgebers (s.o.; so auch Braun, a.a.O.).
Dabei genügt es, wenn nur geringerer Mehraufwand im Raum steht. Denn weder aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 BayBlindG noch aus seinem Zweck lässt sich folgern, dass Blindengeld ausgeschlossen sein soll, wenn neben der Blindheit noch weitere (schwere) Behinderungen vorliegen. Dies ergibt sich im Übrigen auch aus der Feststellung des BSG (Urteil vom 11.08-2015 – B 9 BL 1/14 R), dass es der allgemeine Gleichheitssatz im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 und 3 S. 2 GG; Art. 5 UN-Behindertenrechtskonvention) nicht zulässt, bei schwer zerebral geschädigten Menschen zu verlangen, dass die zu Blindheit führende Beeinträchtigung ihres Sehvermögens deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung ihrer sonstigen Sinneswahrnehmungen wie Hören, Tasten etc.). Auch ein (deutlich) geringeres Gewicht der Sehbehinderung im Rahmen der schweren Gesamtbehinderung wie vorliegend der Fall lässt damit den Anspruch auf Blindengeld nicht entfallen.
c) Wie vom Senat bereits entscheiden worden ist (vgl. z.B. die Urteile v. 12.11.2019, a.a.O., und 26.11.2019 – L 15 BL 2/19), stellen entgegen einer in der Literatur geäußerten Auffassung (vgl. Dau, in: jurisPR-SozR 9/2019 Anm. 4) Aufwendungen für die allgemeine pflegerische Betreuung, wie sie hier hauptsächlich bestehen, jedoch keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar. Der Senat kann der Argumentation (Dau, a.a.O.) nicht folgen, es sei zweifelhaft, ob es einen Fall mit einem anspruchsvernichtenden Zweckverfehlungseinwand im Freistaat Bayern jemals geben werden könne, weil das BayBlindG unter blindheitsbedingten Mehraufwendungen entsprechend den gesetzgeberischen Motiven in erster Linie Aufwendungen für die pflegerische Betreuung verstehe, Wachkomapatienten und zerebral schwerstgeschädigte Menschen jedoch in jedem Fall intensiver pflegerischer Betreuung bedürften, so dass sich der Leistungszweck des BayBlindG bei ihnen deshalb gar nicht verfehlen lasse. Denn zum einen lässt sich aus den Motiven des Gesetzgebers (vgl. Bayer. Landtag, Drs. 13/458, S. 5) eine Verengung auf die – wie auch immer verstandene – pflegerische Betreuung gar nicht ableiten. Zum anderen kann sich der Senat dieser formalen Argumentation auch nicht anschließen, da in den einschlägigen Fällen naheliegenderweise auf blindheitsspezifische Betreuung abzustellen ist. Anderenfalls würden übrigens die Vorgaben des BSG im Wesentlichen ins Leere laufen.
d) Für den gerichtlich überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt nach der Entscheidung des BSG die Behörde die Darlegungs- und die Beweislast. Dabei ist sie verpflichtet, soweit möglich den – wie oben dargelegt individuellen – Sachverhalt zu ermitteln, steht jedoch vor der Schwierigkeit, dass sie die Darlegungs- und Beweispflicht hinsichtlich einer negativen Tatsache trifft, eben hinsichtlich des Nichtvorhandenseins blindheitsbedingter Mehraufwendungen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass zur Ermittlung daher neben den medizinischen/pflegerischen Unterlagen vor allem die Angaben der Personen heranzuziehen sind, die die Verhältnisse hinsichtlich des betroffenen blinden Menschen aufgrund der Sach- und Ortsnähe zutreffend beurteilen können. Die Antragsteller trifft dabei eine Mitwirkungsobliegenheit.
Maßgeblich bei der Beurteilung der Frage, ob im konkreten Fall blindheitsbedingte Mehraufwendungen möglich sind, ist die objektive Situation des betroffenen blinden Menschen. Ob blindheitsbedingte Mehraufwendungen von dem Betroffenen tatsächlich getragen werden, ist dabei nur ein Indiz; so kann unnötiger Aufwand o.ä. keine Berücksichtigung finden.
Entscheidend nach der Rechtsprechung des BSG ist, dass der Mangel an Sehvermögen durch spezielle Maßnahmen ausgeglichen werden kann. In der konkreten Situation des Betroffenen objektiv nicht möglicher blindheitsbedingter Mehraufwand muss außer Betracht bleiben.
e) Wie sich aufgrund der vorliegenden medizinischen Befunde ergibt, leidet die Klägerin an einer gravierenden Gesundheitsstörung. Der Senat geht davon aus, dass die Klägerin in jeder Hinsicht schwerstpflegebedürftig und in allen Verrichtungen des täglichen Lebens vollständig von fremder Hilfe abhängig ist. Auf die zur Überzeugung des Senats nachgewiesenen und zwischen den Beteiligten grundsätzlich auch nicht streitigen schweren Einschränkungen der Klägerin wird verwiesen.
Dennoch spricht im Fall der Klägerin Vieles dafür, dass blindheitsbedingte Mehraufwendungen bestehen. Diese dürften sich ergeben, weil bei der Klägerin ganz offensichtlich ein erhöhter Bedarf an Förderung der akustischen und taktilen Wahrnehmung besteht, um ihre blindheitsbedingten Nachteile auszugleichen. Im Übrigen dürfte mit der Klägerseite davon auszugehen sein, dass bei der Klägerin eine Vielzahl von speziellen Hilfsmittel eingesetzt werden müssen, jedoch auch eingesetzt werden können, um auch die Blindheit (teilweise) auszugleichen.
Zwar hat der Senat jüngst bereits entschieden (Urteil vom 08.02.2022 – L 15 BL 9/20), dass blindheitsbedingter Mehraufwand nicht schon dann angenommen werden kann, wenn bei Betroffenen (ggf. seit langem) Maßnahmen der Frühförderung durchgeführt werden. Denn dies genügt aus Sicht des Senats nicht bereits per se, um hieraus sicher auf das Vorliegen blindheitsbedingter Mehraufwendungen schließen zu können. Im Hinblick auf den umfassenden Förderungs- und Gleichstellungsauftrag, der dem Staat auch aufgrund von Verfassungsrecht obliegt, bildet die Durchführung von Frühförderungsmaßnahmen keinen verlässlichen Anhalt dafür, dass tatsächlich ein blindheitsbedingter Mehrbedarf besteht, weil eben (gerade) auch gefördert werden muss, wer ein schweres (die Blindheit überlagerndes) Krankheitsbild aufweist (a.a.O.). Auszuschließen ist ferner nicht, dass Förderungen durchgeführt werden, deren Erfolgsaussichten minimal sind, auch wenn es sich auch aus Senatssicht bei Maßnahmen der Frühförderung regelmäßig nicht um Aufwendungen handelt, die lediglich in der vagen Hoffnung getätigt werden, sie führten zu einer Besserung des Gesundheitszustands etc. (im obigen Sinn). Denn Maßnahmen der allgemeinen Frühförderung beruhen auf anerkannten Konzepten und werden von den zuständigen Kostenträgern auch im Wesentlichen – in der Regel als sogenannte Komplexleistungen – übernommen; blindheitsbedingter Mehraufwand sind Frühförderungsmaßnahmen damit selbst nicht.
Vielmehr sind im Einzelnen die der Klägerin verbliebenen Möglichkeiten, ist also ihr konkretes Behinderungsbild zu prüfen.
Diese Prüfung zeigt vorliegend gute Gründe dafür auf, hinsichtlich beider genannten Aspekte – Förderung der anderen Sinne und Nachteilsausgleiche im weiteren Sinn – die Klägerin insoweit auch für förderungsfähig zu halten bzw. bei ihr einen entsprechenden Ausgleich als möglich anzusehen. Dafür ist nicht erforderlich, dass sie „zerebral gesund“ ist. Wichtig ist, dass die Zielsetzung der sozialen Teilhabe sowie der Ausgleich der fehlenden Sinnesmodalität Sehen und damit die Zweckbestimmung des Blindengelds bei ihr zumindest teilweise möglich sein dürfte. Dies scheint – anders als in zahlreichen weiteren beim Senat ehemals anhängigen Fällen mehrfach schwerstbehinderter Kinder – nicht von vornherein unerreichbar bzw. aussichtslos. Bei der Klägerin liegen insbesondere kein Wachkoma und kein Syndrom reaktionsloser Wachheit vor.
So ist im oben genannten Gutachten der A-L-Schule zur Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfs vom 08.06.2015 festgehalten worden, dass es zwar sehr schwer sei, die kognitiven Fähigkeiten der Klägerin zu bewerten; die Klägerin befinde sich (aber) im Kommunikationsniveau, sodass sie einzelne Handlungsschritte willkürlich durchführen und von sich aus mit ihrer Umwelt in Kontakt treten könne. Auch hat der Sachverständige E nachvollziehbar festgestellt, dass die Klägerin auditive Reize bewusst verarbeitet und entsprechende verbale Aufforderungen zielgerichtet umgesetzt habe und dass sich in der technischen Untersuchung die funktionelle Intaktheit wichtiger Strukturen als notwendige Voraussetzung für eine bewusste Sprachverarbeitung gezeigt habe. Der Sachverständige hat auch eine taktile Reizverarbeitung nachgewiesen.
Dass hierbei insbesondere die von der Klägerseite aufgezeigten Maßnahmen (Geräte etc., vgl. im Einzelnen oben) gerade auch der Förderung der Klägerin hinsichtlich der anderen Sinne und auch des Ausgleichs der blindheitsbedingten Nachteile dienen, hält der Senat für naheliegend. Letztlich wird eine exakte Abschätzung, inwieweit die Klägerin von den einzelnen Maßnahmen profitiert, freilich nicht möglich sein.
Im vorliegenden Fall ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass das gravierende Krankheitsbild der Klägerin blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein doch ausschließt, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden könnte. Die Klägerin ist schließlich in jeder Hinsicht schwerstpflegebedürftig und in allen Verrichtungen des täglichen Lebens vollständig von fremder Hilfe abhängig. Weder eine verständliche Sprachproduktion noch eine stabile Art der Kommunikation ist feststellbar. Für die Annahme des Ausschlusses jeglicher durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen fehlt es aber jedenfalls am notwendigen Beweis. Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt zunächst der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. z.B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ders., SGG, 13. Aufl. 2020, § 103, Rn. 19a mit Nachweisen der höchstrichterlichen Rechtsprechung). Für den Einwand der Zweckverfehlung trägt nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 14.06.2018 – B 9 BL 1/17 R), an die sich der erkennende Senat gebunden fühlt, wie oben ausgeführt die Behörde die Darlegungs- und Beweislast. Der Beklagte muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen daraus tragen, dass vorliegend eine Ungewissheit bezüglich des Zweckverfehlungseinwands im vorliegenden Zeitraum (s. nachfolgend Ziff. 3) verblieben ist.
3. Für den Zeitraum zwischen Antragstellung (Januar 2016) und Untersuchung durch E im März 2021 steht der Klägerin kein Blindengeld zu. Insoweit hat der Zweckverfehlungseinwand des Beklagten Erfolg.
Wie oben bereits mehrfach dargelegt litt die Klägerin auch in dem insoweit streitgegenständlichen Zeitraum an gravierenden Gesundheitsstörungen und war in jeder Hinsicht schwerstpflegebedürftig und in allen Verrichtungen des täglichen Lebens vollständig von fremder Hilfe abhängig. Der Mangel an Sehvermögen konnte auch nicht teilweise ausgeglichen werden. Wie sich aus den zahlreichen dem Gericht vorliegenden Unterlagen ergibt, u.a. aus den einschlägigen, aussagekräftigen des MDK vom 08.07.2015 und 20.03.2018, bestand rund um die Uhr eine Intensivpflegebedürftigkeit mit der Notwendigkeit spezieller Krankenbeobachtung. Eine in der speziellen Pflegesituation versierte Pflegeperson musste sich stets in der Nähe aufhalten, um jederzeit eingreifen zu können. Zerebrale Krampfanfälle haben nach Angaben der Mutter der Klägerin 10 bis 15 mal täglich stattgefunden. Die Klägerin konnte insbesondere nicht auf Ansprache reagieren und auch keine Grundbedürfnisse und Stimmungen ausdrücken. Eine verständliche Sprachproduktion oder stabile Art der Kommunikation war selbst bei exakter, spezialisierter Untersuchung der Klägerin nicht feststellbar.
Diese Überzeugung wird nicht durch eine qualifizierte Befunderhebung und Beurteilung durch E, wie dann im März 2021 erfolgt, erschüttert. Die bloße Möglichkeit, dass sich die Klägerin bereits vor März 2021 in einem besseren Zustand befunden haben könnte, begründet lediglich Restzweifel im oben geschilderten Sinn. Diese verdichten sich jedoch nicht zu gewichtigen Zweifeln, da eine solche entsprechende Annahme letztlich bloße Spekulation bleiben muss.
Erst durch die qualifizierte Untersuchung sind Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Klägerin mehr Möglichkeiten verblieben sind und somit das Entstehen blindheitsbedingter Mehraufwendungen nicht von vornherein ausscheidet. Der Sachverständige hat plausibel aufgezeigt, dass insoweit nur ein qualifizierter klinischer Test geeignet ist; allein der klinische Eindruck oder das Ergebnis einer „normalen“ neurologischen oder pädiatrischen Untersuchung ist keinesfalls geeignet, um eine adäquate Bewusstseinsdiagnose zu stellen. Dem schließt sich der Senat in vollem Umfang an. Im Übrigen rechtfertigen auch die vorliegenden Unterlagen und früheren Angaben (aus der Zeit vor der Untersuchung durch E) nicht die Annahme eines besseren Gesundheitszustands der Klägerin bzw. von blindheitsbedingten Mehraufwendungen. Zwar zeichnen die Zeugnisse der A-L-Schule von der Klägerin ein Bild, das einen weit besseren Gesundheitszustand und ein weniger schweres Behinderungsbild nahelegt als aufgrund der medizinischen Unterlagen dokumentiert und das sogar Zweifel am Vorliegen von Blindheit – würde man die dortigen Feststellungen wörtlich nehmen – begründet. Wie das SG jedoch zutreffend hervorgehoben hat, sind maßgeblich die medizinisch-wissenschaftlichen Feststellungen, die sämtlich in gewissem Widerspruch zu den Feststellungen in den Zeugnissen stehen. Dem Senat ist aber aus zahlreichen vergleichbaren Fällen bekannt, dass entsprechenden Schulzeugnissen aufgrund beschönigender Elemente nur geringere Aussagekraft bei der Auflösung blindengeldrechtlicher Problematiken zukommt. Vor allem aber ergibt sich aus den Angaben der Klägerseite selbst ein anderes, den medizinischen Unterlagen erheblich näher kommendes Bild, wenn z.B. die Mutter bei der Begutachtung durch P angibt, dass die Klägerin ausschließlich bei Anfällen und Schmerzreizen und nicht als Reaktion auf andere Ereignisse (ohne geformte Worte) lautiert und das sie zur Beantwortung einer geschlossenen Frage mit einem langen Augenschluss mit „ja“ antworten könne, dies allerdings oft extrem verspätet und dann nicht mehr sicher zuordenbar oder aber gar nicht.
Die Berufung ist daher insoweit unbegründet und zurückzuweisen.
Nach alldem hat die Klägerin (erst) für die Zeit ab März 2021 einen Anspruch auf die Gewährung von Blindengeld (für blinde Menschen) nach dem BayBlindG durch den Beklagten. Auf die Berufung sind der Gerichtsbescheid des SG vom 30.07.2020 und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen des Beklagten somit insoweit abzuändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis des Verfahrens, in dem die Klägerin überwiegend erfolgreich gewesen ist.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben