Medizinrecht

Beweislast bei Fehlen blindheitsbedingter Mehraufwendung

Aktenzeichen  S 10 BL 4/19

Datum:
24.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 18142
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG Art. 1, Art. 2

 

Leitsatz

1. Eine Blindheit nach dem BayBlindG liegt auch bei einer entsprechend gleich schweren Störung des Sehvermögens bei zerebralen Schäden ohne spezifische Sehstörung vor, wenn es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung “Sehen” fehlt. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Zweck des Blindengeldes wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst entstehen kann.  (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei dem Einwand der Zweckverfehlung handelt es sich um einen sog. Negativbeweis, weshalb der Beklagte für die negative Tatsache, das Fehlen blindheitsbedingter Mehraufwendungen, beweispflichtig ist. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 21.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 zur Gewährung von Blindengeld für hochgradig Sehbehinderte ab Januar 2018 bis Mai 2018 und von (vollem) Blindengeld für die Zeit ab Juni 2018 bis April 2020 verurteilt.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Beklagte erstattet dem Kläger 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz durch Urteil ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden. Die Beteiligten haben sich schriftsätzlich damit einverstanden erklärt.
Dem Kläger ist in Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 21.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 ab Januar 2018 bis Mai 2018 Blindengeld für hochgradig sehbehinderte Menschen und ab Juni 2018 bis einschließlich April 2020 volles Blindengeld zu gewähren.
Soweit die Klägerseite ursprünglich bereits für die davorliegende Zeit ab Antragstellung vom 02.11.2017 die Gewährung von vollem Blindengeld begehrt hatte, wurde der Klageantrag mit Schriftsatz vom 06.10.2020 dahingehend abgeändert, dass nunmehr zuletzt für die Zeit vom Januar 2018 bis Mai 2018 das Teil-Blindengeld für hochgradig Sehbehinderte beantragt wurde. Denn das Teilblindengeld für hochgradig Sehbehinderte wurde vom bayerischen Landesgesetzgeber erst ab Januar 2018 eingeführt und nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere auch dem Gutachten der Diplom-Psychologin G., ist beim Kläger volle Blindheit im Sinne des Gesetzes erst ab der Untersuchung in der Augenklinik A-Stadt vom 13.06.2018 zweifelsfrei nachgewiesen.
Bei dem Kläger lag aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung jedenfalls ab Januar 2018 „hochgradige Sehbehinderung“ und ab Juni 2018 „Blindheit“ im Sinn des Bayerischen Blindengeldgesetztes (BayBlindG) vor und der Beklagte dringt bis einschließlich April 2020 mit dem erhobenen Einwand des Fehlens blindheitsbedingter Mehraufwendungen nicht durch.
Nach Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG ist „blind“ im Sinn dieses Gesetzes, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Diese Voraussetzung war beim Kläger bis dato nicht gegeben, da er auf Lichtreize – wenngleich nur ganz eingeschränkt – reagierte.
Gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG gelten als blind auch Personen, (Nummer 1): deren Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 1/50 beträgt oder (Nummer 2): bei denen durch Nummer 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nummer 1 gleich zu achten sind.
Diesem Personenkreis im Sinn des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Nummer 2 BayBlindG ist der Kläger zuzuordnen.
Nach Art. 1 Abs. 3 BayBlindG ist hochgradig sehbehindert, wer nicht blind im Sinne von Abs. 2 ist und (Nummer 1): wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 1/20 beträgt oder (Nummer 2): wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung von 100 nach dem SGB IX bedingen. (Art. 1 BayBlindG in der Fassung vom 07.11.2017).
Das Bundessozialgericht (BSG) hat in den beiden grundlegenden Urteilen vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) und vom 14.06.2018 (B 9 BL 1/17 R) entschieden, dass eine der Blindheit nach dem BayBlindG entsprechend gleich schwere Störung des Sehvermögens auch bei zerebralen Schäden ohne spezifische Sehstörung vorliegt, wenn es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen“ fehlt.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lag beim Kläger eine hochgradige Sehbehinderung bereits im Herbst 2017 vor und spätestens ab Juni 2018 Blindheit im Sinne des Gesetzes. Dies ergibt sich aus dem orthoptischen Beobachtungsprotokoll der Frühförderung Sehen des Blindeninstituts A-Stadt vom 21.09.2017, den Ergebnissen der gutachterlichen Untersuchung in der Augenklinik A-Stadt vom 13.06.2018, dem orthoptischen Beobachtungsprotokoll des Blindeninstituts A-Stadt vom 16.10.2018, dem orthoptischen Beobachtungsprotokoll des Blindeninstituts A-Stadt für den Beobachtungszeitraum Oktober bis Dezember 2019 in der Zusammenschau mit dem nachvollziehbaren Gutachten der Diplom-Psychologin G. vom 05.09.2020, welches diese aufgrund Hausbesuch-Untersuchung vom 06.06.2020 vorgelegt hat.
Auch der Beklagte geht aufgrund der BSG Entscheidung von 2018 zwischenzeitlich davon aus, das beim Kläger „Blindheit“ im Sinne des Gesetzes vorlag bzw. vorliegt (vergleiche auch versorgungsärztliche Stellungnahme nach Aktenlage der Dr. L. vom 27.12.2018 und Widerspruchsbescheid vom 21.02.2019). Die gewisse Diskrepanz zum Gutachten G. insoweit, als klägerseitig bereits ab Herbst 2017 das Vorliegen von Blindheit angenommen wurde, ist damit erklärbar, dass einerseits in Bezug auf den neuen Blindheitsbegriff des BSG seitens des Beklagten nur eine ärztliche Stellungnahme nach Aktenlage vorliegt und andererseits der Gutachterin G., die aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in der Diagnostik am Blindeninstitut G-Stadt über ein besonders differenziertes Beurteilungsvermögen verfügen dürfte, sowohl der persönliche Eindruck anlässlich der Untersuchung vom 06.06.2020 als auch noch weitere Erkenntnismöglichkeiten (weitere orthoptische Beobachtungsprotokolle vom Oktober 2018 und vom Dezember 2019; USB-Stick mit Videos aus den Jahren 2018 bis 2020) zur Verfügung standen.
Für die Auffassung der Gutachterin G. spricht ergänzend auch der Eindruck, den die dem Gutachten beigelegten Video- und Fotodokumente auf dem USB Stick vermitteln. Auf der dortigen, zeitlich frühesten Videoaufnahme vom 03.02.2018 erscheint andeutungsweise noch eine rudimentäre visuelle Wahrnehmungsfähigkeit des Klägers denkbar. Im Gegensatz dazu ist bei allen weiteren, zeitlich späteren Videoaufnahmen eine visuelle Fixation nicht mehr erkennbar und der Kläger reagiert dem Anschein nach ausschließlich auf auditive, auf einigen Videos auch auf taktile Reize (Videos vom 04.08.2019, 01.09.2019, 27.10.2019 und vom 13.04.2020) bzw. in einem Fall auf einen gustatorischen Reiz (Video vom 25.08.2019: Eis am D.-Platz), jedoch nicht mehr erkennbar auf visuelle Reize. Er scheint sozusagen in allen späteren Videos ab Frühsommer 2018 nur noch „nach innen zu schauen“.
Nachdem nunmehr, unter Zugrundelegung des vom BSG in den beiden genannten Entscheidungen von 2015 und 2018 neu formulierten juristischen Blindheitsbegriffes die „Blindheit“ des Klägers im Sinn des BayBlindG anzunehmen ist, konzentriert sich der Rechtsstreit im Kern auf die Frage, ob der Beklagte in Anbetracht der äußerst umfänglichen Pflegebedürftigkeit des Klägers mit dem Einwand des Fehlens blindheitsbedingter Mehraufwendungen durchdringen kann.
Das BSG hat in seinem Urteil vom 14.06.2018 (siehe oben) in Fortentwicklung seines Urteils vom 11.08.2015 (siehe oben) festgestellt, dass dem zuständigen Leistungsträger der anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung zustehe, wenn der Zweck des Blindengeldes verfehlt werde, weil aufgrund der typischen Eigenart des Krankheitsbildes ein auszugleichender blindheitsbedingter Mehrbedarf nicht entstehen kann.
Erläuternd führt das BSG in dem Urteil vom 14.06.2018 (Rn 18) aus, dass das Blindengeld zwar ohne den Nachweis eines konkreten Bedarfs pauschal gezahlt werde, also ohne dass der Anspruchsteller eine Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, ob und welche Aufwendungen er etwa zur Kontaktpflege, zur Teilnahme am kulturellen Leben oder Arbeitsleben im Einzelfall benötigt. Der Grund für die pauschale Leistung liege darin, dass bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit verzichtet werden solle. Denn es lasse sich nicht verbindlich und abschließend berechnen, welcher „Mehraufwand“ einem blinden Menschen bedingt durch sein Leiden im Einzelfall entstehen kann.
Dennoch bleibe der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung. Hieraus schließt das BSG im Urteil vom 14.06.2018 (Rn. 19), dass der Zweck des Blindengeldes dann verfehlt wird, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw. bestehen kann. Daran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies sieht das BSG am ehesten bei generalisierten Leiden als möglicherweise zutreffend an (z.B. dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma, vgl. BSG-Urteil vom 14.06.2018, Rn 19).
Weiter führt das BSG in dem Urteil vom 14.06.2018 aus, dass das Blindengeld in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, diene, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen.
So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern.
Orientiert am vorgenannten Regelungszweck des Gesetzes ist es – auch aus Sicht der hier erkennenden Kammer – sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwandes die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (z.B. dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Für den vom Gericht überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt die zuständige Behörde die Darlegungs- und Beweislast. (BSG, Urteil vom 18.06.2018, Rn. 20-21).
Im Fall des Klägers dringt der Beklagte mit dem Einwand der Zweckverfehlung erst für die Zeit ab Mai 2020 durch. Für die davorliegende Zeit (Januar 2018 bis April 2020) konnte der Beklagte den substantiierten Vortrag der Klägerseite zur Entstehung blindheitsbedingter Mehraufwendungen nicht widerlegen.
Bei dem Einwand der Zweckverfehlung handelt es sich um einen sogenannten „Negativbeweis“ (vergleiche hierzu Ahrens in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2012, Teil A. Die Verteilung der Beweislast und der Darlegungslast, im Volltext mit zahlreichen Quellenangaben veröffentlicht bei Juris, dort Rn. 131 ff). Damit ist gemeint, dass der Beklagte für eine negative Tatsache, nämlich hier das „Fehlen blindheitsbedingter Mehraufwendungen“ beweispflichtig ist. Die Prozesssituation ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die beweispflichtige Partei gewissermaßen im Beweisnotstand befindet, weil die zu beweisende Negativtatsache schwerpunktmäßig der Sphäre des Prozessgegners zugeordnet ist. Zur Auflösung dieser prozessualen Situation wurde in der Zivilrechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) eine Modifizierung der Darlegungslast entwickelt. Dabei kehrt sich die Beweislast nicht um, jedoch wird eine Beweislastverteilung in drei Schritten vorgenommen (vergleiche auch Ahrens, ebenda, Rn 132-134 mit zahlreichen Quellen aus der Rechtsprechung des BGH, hiervon sollen beispielhaft genannt werden: BGH, Urteil vom 13.12.1984 – III ZR 20/83, dort insbesondere Rn. 20; BGH, Urteil vom 24.03.2010 – XII ZR 175/08, dort Rn. 23-27; BGH, Urteil vom 05.02.1987 – IX ZR 65/86, dort insb. Rn. 16 – 17). Es ist sachgerecht, die vom BGH für die Fälle des Negativbeweises entwickelten Beweislastgrundsätze auch hier im sozialrechtlichen Prozess zugrunde zu legen, da sich die prozessuale Ausgangssituation in den Fällen des Negativbeweises in allen Rechtsgebieten gleichermaßen darstellt. Entsprechend dem Rechtsgedanken des § 202 SGG können die Grundsätze des Zivilrechts und des Zivilprozessrechts auch in sozialgerichtlichen Verfahren angewandt werden.
Nach den vom BGH für die Fälle des Negativbeweises wiederkehrend angewendeten Grundsätzen ist vorliegend vorzugehen:
Die darlegungsbelastete Partei darf sich zunächst mit der Behauptung der negativen Tatsache begnügen. Anschließend obliegt es der Gegenpartei, im Rahmen des Zumutbaren substantiierte Gegenbehauptungen mit widerlegenden Umständen aufzustellen. Aufgabe der primär beweisbelasteten Partei ist es dann, die Unrichtigkeit der Gegenbehauptungen zu beweisen.
Unter Anwendung der vorgenannten Grundsätze ist es der Klägerseite für den Zeitraum vom Januar 2018 bis zum April 2020 nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme gelungen, den beklagtenseitig erhobenen Einwand des Fehlens blindheitsbedingter Mehraufwendungen mit substantiierten Gegenbehauptungen zu widerlegen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kann allein aus der Schwere der Mehrfach-Behinderung des Klägers und der daraus resultierenden, umfänglichen Angewiesenheit auf ständige Pflegemaßnahmen nicht darauf geschlossen werden, dass kein Mehraufwand für den Ausgleich seiner fehlenden visuellen Sinneswahrnehmung entsteht.
Das Gericht nimmt hier Bezug auf die einleuchtend erscheinenden Ausführungen der Gutachterin G., insbesondere auf Seite 14-16 ihres Gutachtens, wo sie ausführt, dass aus der Perspektive der Pädagogik für Menschen mit Mehrfachbehinderung und Sehschädigung eindeutig ein Mehraufwand beschrieben werden kann, der in der Sehschädigung des Klägers begründet liegt. Hier sind die Hilfsmittel zu nennen, welche im Blindeninstitut in der Frühförderung Sehen und in der schulvorbereitenden Einrichtung (SVE) zur Förderung blinder Kinder Anwendung finden wie auditive, taktile und gustatorische Angebote. Als besonders eindrückliches Beispiel für den Fall des Klägers ist die „Morgenglocke“ zu nennen, welche im Morgenkreis zur Anwendung kommt (vergleiche Video MP4 Datei 20190927-WA 0003). Jedes Kind hat in der schulvorbereitenden Einrichtung des Blindeninstituts seine „eigene“ Morgenglocke mit dem jeweils individuellen Klang. Dieses Hilfsmittel, welches der Kläger auf dem Video mithilfe der Erzieherin in der Hand hält und schüttelt, als er zur Begrüßung an der Reihe ist, stellt eine Aufwendung dar, die dem Kläger das Empfinden von Selbstwirksamkeit und die Teilhabe am Gemeinschaftserlebnis vermitteln kann. Auf dem Video ist dies eindrücklich dargestellt. Auch die in dem Entwicklungsbericht vom 26.07.2019 beschriebenen Aufwendungen bzw. Hilfestellungen zur Teilhabe am Gemeinschaftsleben in der Gruppe (Geschmacksproben per Saugschwämmchen während der Brotzeit; Angebote mit Lichteffekten im abgedunkelten Zimmer, Angebote eines stark kontrastreichen Sehreizes, bei dem eine Aufmerksamkeitsreaktion des Klägers beschrieben wird, Aufenthalt auf dem Wasserbett, klare, insbesondere auch akustische Strukturierung des Tagesablaufes zur Ermöglichung einer – wenn auch sehr begrenzten, so doch vorhandenen – Teilhabe an der Umwelt, die der Kläger weitgehend nur auditiv wahrnehmen kann).
Auch die verschiedenen Situationen, welche aus dem Familienleben auf den Videos festgehalten sind, zeigen Aufwendungen und Hilfsmittel, die dem Kläger die Möglichkeit eröffnen, an seiner Umwelt teilzuhaben und mit ihr in Kontakt zu treten, beispielsweise die Zuführung eines Haustiers (Katze) mit dem Erspüren des Tierfells unter Assistenz der Mutter. Auf einem anderen Foto ist der Kläger mit einem Hund fotogarfiert, an den er gekuschelt ist. Auf einem Video vom 11.08.2018 wird der Kläger mit einer Spieluhr gezeigt, neben der er liegt und auf deren Klang er lauscht.
Auch die von der Gutachterin G. beschriebene Strukturierung und Verbalisierung des Geschehens, welche es den betroffenen blinden Mehrfachbehinderten ermöglicht, am sie umgebenden Leben teilzuhaben (verbale Ankündigung jeder Verrichtung, langsamer Vollzug der Verrichtungen, insbesondere, wenn es sich um neue Tätigkeiten bzw. gewohnte Tätigkeiten in einer neuen Umgebung handelt) kann aus Sicht der Kammer durchaus als blindheitsbedingter Mehraufwand in der Form eines blindheitsbedingten zeitlichen und kraftfordernden Mehraufwandes betrachtet werden. Denn diese Strukturierung und Verbalisierung kann ursächlich wegen des fehlenden Gesichtssinns in stärkerem Maß anfallen als bei einem mehrfachbehinderten Menschen, welcher sehen kann. Auf vielen der genannten Videos auf dem USB-Stick wird erkennbar, dass der Kläger auf auditive Reize reagiert und – zumindest eine Zeit lang – aufmerksam auf sie hinhört. Sein Gehörsinn wirkt durchgehend intakt. Auch wenn die Aufmerksamkeitsspanne des Klägers jeweils relativ kurz ist und sich während der streitgegenständlichen Zeit wohl weiter verkürzt hat, so ist dieser Zustand des aufmerksamen Hinhörens bis Frühjahr 2020 durchgehend dokumentiert. Insoweit kann die von der Umwelt des Klägers in der Familie und am Blindeninstitut stattfindende akustische Begleitung und Strukturierung seines Lebens, welche für die Pflegepersonen einen zusätzlichen Kraft- und Zeitaufwand bedeutet, neben den weiter oben genannten Hilfsmitteln aus der Blindenpädagogik und dem Familienalltag auch als substantiierte Darlegung eines blindheitsbedingten Mehraufwandes gelten. Dieser blindheitsbedingte Mehraufwand zur Ermöglichung und Förderung der Teilhabe an der Umwelt ist aus Sicht des Gerichtes, jedenfalls solange der Blinde eindeutig auf die akustischen Ankündigungen und Kontaktaufnahmen reagiert, einerseits nachvollziehbar und andererseits nicht widerlegbar.
Demgegenüber greift zur Überzeugung des Gerichtes für die Zeit ab Mai 2020 der anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung, da ab diesem Zeitpunkt im Zusammenhang mit der fortschreitenden Erkrankung von verschiedenen Seiten beschrieben wird, dass kaum oder keine Kontaktaufnahme zum Kläger mehr objektivierbar ist. Die Eltern des Klägers selbst haben im Juni 2020 bei der Anamnese gegenüber Frau G. mitgeteilt, dass sich der Allgemeinzustand des Klägers in den letzten 3 bis 4 Monaten weiter verschlechtert hat. Er habe in den letzten Monaten die Fähigkeit verloren, mit einem Lächeln zu reagieren. Auch die Gutachterin G. schreibt, dass sie in der Untersuchungssituation nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen habe können, ob der Kläger noch in dazu in der Lage ist, Personen aus seinem Umfeld zu erkennen. In dem Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 06.10.2020 heißt es, dass der Kläger durch die fortschreitende Krankheit zunehmend an Ausdrucksmitteln verliert und bis vor kurzem noch in der Lage war, mit seiner Umwelt aktiv zu kommunizieren. Dies stimmt auch überein mit den Angaben in dem Quartalsbericht II/2020 des seit Jahren begleitenden Kinderpalliativteams Ostbayern vom 16.06.2020, wo es heißt: „Die Kontaktfähigkeit von T. ist nahezu erloschen“. Angesichts dieser Situation kann der Beklagte zur Überzeugung des Gerichtes ab Mai 2020 mit seinem Einwand des Fehlens objektivierbarerer blindheitsbedingter Mehraufwendungen durchdringen. Daher muss die Klage für die Zeit ab Mai 2020 abgewiesen werden. Eine Assistenzleistung zum Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen erfordert eine objektivierbare Teilhabe des Klägers an seiner Umwelt. Die bloße Möglichkeit oder Vermutung einer Teilhabe kann nicht genügen (vergleiche auch die therapeutisch empfohlene Ansprache bewusstloser Menschen, vergleiche auch Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 28.07.2020, Aktenzeichen L 15 BL 2/17, Rn. 143).
Nach alldem gelang es klägerseitig ab Mai 2020 nicht mehr, den Einwand des Beklagten zum Fehlen blindheitsbedingter Mehraufwendungen mit konkreten, substantiierten Gegenbehauptungen zu widerlegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.


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