Medizinrecht

Einstufung in einen Pflegegrad im Überprüfungsverfahren

Aktenzeichen  L 4 P 50/20

Datum:
19.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 45592
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XI § 14, § 15, § 37, § 44

 

Leitsatz

1. Zu den Voraussetzungen des Pflegegrades 5 im Rahmen der einzelnen Module (Pflegebedürftigkeit).
2. Zu den pflegerelevanten Veränderungen.
1. Wenn die Pflegekasse im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Richtigkeit des Bescheids vollständig überprüft hat, ist die Entscheidung auch im gerichtlichen Verfahren voll zu überprüfen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Hausbesuche des behandelnden Hausarztes sind im Modul 5 nach der Begutachtungsrichtlinie nicht zu berücksichtigen. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 9 P 104/19 2020-07-09 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 9. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG), jedoch unbegründet.
Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten vom 22.10.2020 konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden.
Die Versicherte als vormalige Klägerin und Berufungsklägerin ist 2020 während des laufenden Berufungsverfahrens verstorben. Bis dahin wurde der Rechtsstreit von ihrem Sohn als Vertreter geführt. Gemäß § 73 Abs. 6 S. 3 SGG kann bei Verwandten in gerader Linie unterstellt werden, dass sie bevollmächtigt sind.
Mit dem Tod der Mutter war das Berufungsverfahren zunächst gemäß § 202 S. 1 SGG in Verbindung mit § 239 Zivilprozessordnung (ZPO) unterbrochen. Der Sohn hat mit Vorlage des notariellen Testaments vom 04.10.2016, nach dem er als Alleinerbe eingesetzt wurde, glaubhaft gemacht, dass er Rechtsnachfolger der vormaligen Klägerin ist. Der Sohn hat als Rechtsnachfolger mit Schriftsatz vom 22.10.2020 den Rechtsstreit fortgesetzt. Im Übrigen ist der Sohn, der mit der vormaligen Klägerin, die seine Mutter war, in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, Sonderrechtsnachfolger gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I).
Streitig ist aufgrund der Gewährung der Pflegestufe 5 durch die Beklagte ab 01.10.2018 noch die Gewährung von Pflegegeld nach Pflegegrad 5 statt 4 im Zeitraum von Januar 2017 bis September 2018. Insbesondere ist damit die Berufungssumme von 750.- EUR gem. § 144 Abs. 1 S. 1 SGG erreicht. Streitig ist die Gewährung von Pflegegrad 5 (901.- EUR) statt Pflegegrad 4 (728.- EUR) für 21 Monate.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) zulässig.
Es besteht jedoch kein Anspruch des Klägers auf die Gewährung des Pflegegrades 5 statt 4 bereits ab Antragstellung im Januar 2017 bis 30.09.2018. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 19.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 02.07.2019 ist nicht rechtswidrig und verletzte die Versicherte nicht in ihren Rechten. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 09.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2017 zu Recht den damaligen Höherstufungsantrag ab.
§ 44 Abs. 1 S. 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) gibt der Verwaltung die Möglichkeit, sich über frühere negative Entscheidungen zu Gunsten der Sozialleistungsberechtigten kraft besserer Erkenntnisse hinwegzusetzen. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes – auch eines Beitragsbescheides (BSG, Urt. vom 25. April 1991, Az.: 12 RK 40/90) – das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X. Jedenfalls dann, wenn sich die Beklagte wie hier nicht auf die Bindungswirkung des Ausgangsbescheides berief, sondern die Richtigkeit dieses Bescheides vollständig überprüfte, ist die Entscheidung der Beklagten auch im gerichtlichen Verfahren voll zu überprüfen (s.a. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 9. Mai 2003, Az.: L 16/12 U 19/02).
Das Gericht war im Rahmen des Rechtsschutzes gegen den Überprüfungsbescheid der Beklagten auch nicht deswegen auf die Prüfung des neuen Vorbringens (insb. auf das ärztliche Attest vom 26.06.2018) beschränkt, da die Klagerücknahme im vorangegangenen sozialgerichtlichen Verfahren nicht zu einem Verbrauch des Sachbegehrens führte (vgl. auch Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.09.2011 – L 9 U 46/10; a. A. zuvor SG Frankfurt, Gerichtsbescheid vom 13.01.2010 – S 8 U 89/08).
Der Erwerb einer Anspruchsberechtigung auf Leistungen der Pflegeversicherung richtet sich nach dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht (§ 140 Abs. 1 Satz 2 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch – SGB XI). Da die vormalige Klägerin den hier allein streitgegenständlichen Antrag auf Höherstufung am 02.01.2017 und damit nach dem 31. Dezember 2016 gestellt hat, ist der ab dem 01.01.2017 geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff maßgeblich.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Leistung ist § 37 SGB XI. Nach § 36 SGB XI haben Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 bei häuslicher Pflege Anspruch auf körperbezogene Pflegemaßnahmen und pflegerische Betreuungsmaßnahmen sowie auf Hilfen bei der Haushaltsführung als Sachleistung (häusliche Pflegehilfe). Nach § 37 SGB XI können Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen.
Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind Personen dann pflegebedürftig, wenn sie gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten sind nach § 14 Abs. 2 SGB XI die in den folgenden sechs Bereichen (sog. Module) genannten pflegefachlich begründeten Kriterien:
1. Mobilität: Positionswechsel im Bett, Halten einer stabilen Sitzposition, Umsetzen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen;
2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld, örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen, Beteiligen an einem Gespräch;
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, Beschädigen von Gegenständen, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression, andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten, Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Ängste, Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, sozial inadäquate Verhaltensweisen, sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen;
4. Selbstversorgung: Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Oberkörpers, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Essen, Trinken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma, Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, Ernährung parenteral oder über Sonde, Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen;
5. Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen:
a) in Bezug auf Medikation, Injektionen, Versorgung intravenöser Zugänge, Absaugen und Sauerstoffgabe, Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen, Messung und Deutung von Körperzuständen, körpernahe Hilfsmittel,
b) in Bezug auf Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden, Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung,
c) in Bezug auf zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung, Arztbesuche, Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, zeitlich ausgedehnte Besuche medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, Besuch von Einrichtungen zur Frühförderung bei Kindern sowie
d) in Bezug auf das Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften;
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, Ruhen und Schlafen, Sichbeschäftigen, Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt, Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds.
Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten, die dazu führen, dass die Haushaltsführung nicht mehr ohne Hilfe bewältigt werden kann, werden bei den oben genannten Bereichen berücksichtigt (§ 14 Abs. 3 SGB XI).
Nach § 15 Abs. 1 SGB XI erhalten Pflegebedürftige nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad). Der Pflegegrad wird mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt, wobei dieses in sechs Module, entsprechend den oben genannten Bereichen, gegliedert ist. Die Kriterien der einzelnen Module sind in Kategorien unterteilt, denen Einzelpunkte entsprechend der Anlage 1 zu § 15 SGB XI zugeordnet werden. Die Kategorien stellen die in ihnen zum Ausdruck kommenden verschiedenen Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten dar (§ 15 Abs. 2 Satz 3 SGB XI). Die Einzelpunkte in den jeweiligen Modulen werden sodann addiert und entsprechend der Anlage 2 zu § 15 SGB XI einem jeweiligen Punktbereich zugeordnet, aus dem sich die gewichteten Punkte ergeben. Insgesamt wird für die Beurteilung des Pflegegrades die Mobilität mit 10 Prozent, die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 Prozent, die Selbstversorgung mit 40 Prozent, die Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen mit 20 Prozent und die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte mit 15 Prozent gewichtet (§ 15 Abs. 2 Satz 8 SGB XI).
Auf der Basis der erreichten Gesamtpunkte sind pflegebedürftige Personen in einen der nachfolgenden Pflegegrade einzuordnen:
1.ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten,
2.ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten,
3.ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten,
4.ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten,
5.ab 90 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (§ 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI).
Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Vorgaben ist der Senat nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen zu der Überzeugung gelangt, dass bei der vormaligen Klägerin im Zeitraum vom 02.01.2017 bis 30.09.2018 keine gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten bestanden, die zu einem Gesamtpunktwert von mindestens 90 Punkten führten, und damit die Voraussetzungen für die mit der Klage begehrte Einstufung in den Pflegegrad 5 in diesem Zeitraum nicht vorgelegen haben.
Für diese Überzeugung stützt sich der Senat wie bereits das Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung auf die Feststellungen aus den MDK-Gutachten vom 01.03.2017 und vom 29.05.2017 sowie auf das Gutachten der gerichtlich bestellten Pflegesachverständigen Frau G.K. in ihrem Gutachten vom 21.04.2018 aus dem vorangegangenen Klageverfahren unter dem Aktenzeichen S 9 P 102/17. Die gerichtliche Sachverständige hat die bei der damaligen Klägerin vorliegende Pflegebedürftigkeit im Zeitpunkt der Entscheidung mit 87,50 gewichteten Punkten und damit übereinstimmend mit den MDK-Gutachten vom 01.03.2017 und vom 29.05.2017 bewertet.
Danach litt die vormalige Klägerin an pflegerelevanten Gesundheitsbeeinträchtigungen in Form eines Selbstversorgungsdefizits bei fortgeschrittener Demenz, Harn- und Stuhlinkontinenz, grauem Star an beiden Augen, Bewegungseinschränkung bei Osteoporose, Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ II und Altersabbau. Deshalb bestanden bei ihr gesundheitliche Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit, die sich auf die Aktivitäten und Fähigkeiten der folgenden Bereiche beziehen:
(1) Im Modul 1 (Mobilität) bestand ein Hilfebedarf aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die die Beklagte mit 7,50 gewichteten Punkten zutreffend berücksichtigt hat.
Die Gutachterin G.K. hat im Bereich der Mobilität pflegerelevante Beeinträchtigungen beim Positionswechsel im Bett, beim Umsetzen, beim Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs und beim Treppensteigen festgestellt und dafür nachvollziehbar insgesamt 10 Einzelpunkte im Sinne der Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes berücksichtigt. Lediglich das Halten einer stabilen Sitzposition konnte von der vormaligen Klägerin selbstständig durchgeführt werden.
(2) Im Modul 2 (kognitive und kommunikative Fähigkeiten) bestanden zur Überzeugung des Senats gestützt auf das Gutachten der Sachverständigen erhebliche pflegerelevante Beeinträchtigungen.
Infolge ihrer fortgeschrittenen Demenz war die vormalige Klägerin im Modul 2 nachvollziehbar sehr stark eingeschränkt. Ein sicheres Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld gelang ihr lediglich bei ihrem mit ihr zusammenwohnenden Sohn. An andere Verwandte erinnerte sie sich gelegentlich, wenn ihr weitere Hinweise gegeben wurden. Sowohl die örtliche als auch die räumliche Orientierung gelangen nicht mehr. Die Versicherte erinnerte sich nur noch an wenige Eckdaten, wie ihren Geburtsort oder den Namen ihres Ehemanns. Andere wesentliche Ereignisse wie ihr Geburtsdatum oder die Anzahl ihrer Kinder hatte sie vergessen. Mehrschrittige Alltagshandlungen gelangen der vormaligen Klägerin nicht mehr und wurden auch gar nicht begonnen. Das Treffen von Alltagsentscheidungen, wie die Auswahl der witterungsangepassten Kleidung, gelang nicht.
Nach diesen Feststellungen sind im Modul 2 für das Gericht nachvollziehbar insgesamt 30 Einzelpunkte und damit die maximal mögliche Punktezahl von 15 gewichteten Punkten vergeben worden.
(3) Im Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) sind zur Überzeugung des Gerichts keine pflegerelevanten Beeinträchtigungen nachgewiesen. Diese wären aber ohnehin nicht entscheidungserheblich, da den Modulen 2 und 3 gemäß § 15 Abs. 3 Satz 2 SGB XI ein gemeinsamer gewichteter Punkt zuzuordnen ist, der aus den höchsten gewichteten Punkten entweder des Moduls 2 oder des Moduls 3 besteht. Da hier bereits im Modul 2 der Höchstwert von 15 gewichteten Punkten erreicht wurde, kommt es auf die Beeinträchtigungen im Modul 3 für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nicht mehr an.
(4) Im Modul 4 (Selbstversorgung) sind für das Ausmaß der Beeinträchtigungen bei den einzelnen Aktivitäten 40 gewichtete Punkte (42 Einzelpunkte) zu berücksichtigen. In diesem Modul ist zu bewerten, ob die untersuchte Person die jeweilige Aktivität praktisch durchführen kann.
Nachvollziehbar kommen die gerichtlich bestellte Gutachterin und die Gutachter des MDK zu dem Ergebnis, dass nahezu alle in diesem Modul bewerteten Aktivitäten (Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigung der Folgen von Harn- und Stuhlinkontinenz) als unselbstständig zu bewerten waren. Nur beim An- und Auskleiden des Oberkörpers, dem Essen und Trinken konnte die Aktivität nachvollziehbar als überwiegend selbstständig bewertet werden. Die Klägerin schlüpfte bereitwillig mit den Händen in die Ärmel einer Bluse oder Jacke, Fingerfood konnte bei Anbahnung noch selbst aufgenommen werden. Im Rahmen des Trinkens konnte die vormalige Klägerin bei Unterstützung auf den letzten Zentimetern zum Mund problemlos aus einem Becher oder einer Tasse trinken.
(5) Im Modul 5 (Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) sieht auch der Senat einen Punktewert von 10,0 (gewichtete Punkte) als angemessen an. In nicht zu beanstandender Weise bewertete die Gutachterin G.K. die angegebenen Arztbesuche als nicht berücksichtigungsfähig, da sie nicht auf Dauer und mindestens einmal monatlich stattfanden. Der Hausarzt wurde im Beurteilungszeitpunkt nur alle drei Monate zur Blutentnahme aufgesucht. Zum Augenarzt ging die vormalige Klägerin nur ein- bis zweimal jährlich und zum Kardiologen in unregelmäßigen Abständen. Aufgrund der einzunehmenden Medikamente (Magenschutzpräparat, Lipidsenker und ggf. zusätzlich: Ramipril und Bayotensin), der Injektionen im Rahmen der Diabeteserkrankung der ehemaligen Klägerin, des täglichen Messens des Blutdrucks und Blutzuckerspiegels kam die Gutachterin zu nicht zu beanstandenden zwei Einzelpunkten und 10 gewichteten Punkten.
Die Bewertung des Moduls 5 durch die Pflegesachverständige wurde auch nicht durch das ärztliche Attest des Hausarztes der Versicherten, Dr. M., vom 26.06.2018 erschüttert. Das Sozialgericht hat hierzu zutreffend ausgeführt, dass der Hausarzt in dem Attest zwar bestätigt, dass der Kläger bei seiner Mutter täglich zweimal 30 Minuten Übungen aus dem physiotherapeutischen Formenkreis durchführte, dreimal täglich den Blutzucker und einmal täglich den Blutdruck maß sowie dass die Ernährung der Mutter diabetesgerecht umstellte. Weiter wurde bescheinigt, dass zweimal im Monat ein Hausbesuch durch Dr. M. erfolge. Ein zeitlicher Beginn dieser Maßnahmen wurde jedoch vom behandelnden Arzt nicht genannt. Die Sachverständige G.K. setzte in ihrem Gutachten nach eingehender Anamnese die zweimalige Gabe von Medikamenten und die Injektion von Lantus-Insulin einmal täglich sowie Messung und Deutung von Körperzuständen (Messung von Blutdruck und Blutzucker) mit zweimal täglich an. Einreibungen sowie Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung wurden in keinem der Gutachten angesetzt. Dies deckt sich mit den sowohl im Verfahren S 9 P 102/17 wie auch im Verfahren S 9 P 104/19 eingeholten ärztlichen Befundberichten, in denen jeweils spezielle Therapiemaßnahmen wie z.B. Krankengymnastik als nicht verordnet bzw. nicht erforderlich aufgeführt wurden. Ebenso wurden Einreibungen von keinem der behandelnden Ärzte in einem Befundbericht als über einen längeren Zeitraum verordnet benannt. Insofern konnten hier keine weiteren Einzelpunkte bzw. gewichteten Punkte berücksichtigt werden.
Auch hinsichtlich von Arztbesuchen war eine weitergehende Berücksichtigung von Einzelpunkten bzw. gewichteten Punkten im Modul 5 nicht möglich, da der behandelnde Hausarzt zum einen von durchgeführten Hausbesuchen berichtete, die im Rahmen der Begutachtungsrichtlinie nicht berücksichtigungsfähig sind, zum anderen in den MDK-Gutachten aus dem Jahr 2017 einmal monatlich ein Arztbesuch berücksichtigt wurde bzw. gegenüber der gerichtlichen Sachverständigen, wie oben dargelegt, mitgeteilt wurde, dass der Hausarzt nicht regelmäßig aufgesucht wurde.
Durch das Attest konnte somit nicht nachgewiesen werden, dass die dort ausgewiesenen Maßnahmen bereits im streitgegenständlichen Zeitraum durchgeführt wurden. Dies erscheint dem Senat vor dem Hintergrund der langsam fortschreitenden Verschlechterung des körperlichen und geistigen Gesamtzustandes der Versicherten auch plausibel.
(6) Im Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) kam die Gutachterin nachvollziehbar zu 15 Einzelpunkten und 15 gewichteten Punkten. Die vormalige Klägerin wies keine planerischen Fähigkeiten zur Umsetzung von Alltagsroutinen auf. Sie konnte ihren Tag nicht eigenständig gestalten. Bei nächtlichen Positionsveränderungen benötigte sie Unterstützung. Sie musste ins Bett gebracht und geweckt werden. Die vormalige Klägerin sprach mit ihrem Sohn, wenn dieser sie ansprach. Sie begrüßte Fremde nach einer Orientierungsphase, gab aber unpassende Antworten. Im Bereich der Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds nahm sie von sich aus keinen Kontakt zu fremden Menschen auf. Sie wirkte aber mit, wenn der Sohn die Initiative ergriff.
Im Übrigen ergaben sich keine Anhaltspunkte für weitere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit der Versicherten, die bislang noch nicht berücksichtigt worden wären. Insbesondere wurde seitens der vormaligen Klägerin bzw. des Klägers keine substantiierte Begründung vorgebracht. Es erfolgte lediglich der Hinweis, dass von der Beklagten ein Anspruch für die Zeit vor dem 01.10.2018 abgelehnt wird. Dies entspricht jedoch dem Gutachten des MDK vom 17.12.2018, der das Vorliegen von Pflegegrad 5 erst ab 01.10.2018 bestätigte. Gegenüber dem Gutachten der Sachverständigen G.K. vom 21.04.2018 und dem MDK-Gutachten vom 26.05.2017 ergab sich eine höhere Punktebewertung im Modul 1 (Mobilität) von 10,00 statt 7,5 gewichteten Punkten und im Modul 5 (Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) von 15 statt 10 gewichteten Punkten.
Eine Verringerung der Selbstständigkeit ist hierbei im Bereich des Moduls 1 dadurch eingetreten, das der Positionswechsel im Bett nunmehr als nur mehr „unselbständig“ und die weiteren Einzelpositionen als „überwiegend unselbständig“ bewertet wurden. Die Summe der Einzelpunkte erhöhte sich damit von 7 auf 11.
Im Modul 5 war nun vor allem zu berücksichtigen, dass zwei Arztbesuche pro Monate erfolgen, die Frequenz der Arztbesuche somit gegenüber dem Gutachten der Frau G.K. zugenommen hatte. Insgesamt ergaben sich gemäß MDK-Gutachten vom 14.12.2018 nun 5 statt 2 Einzelpunkte.
Es handelt sich demnach um pflegerelevante Veränderungen – vor allem im Rahmen der Module 1 und 5 -, die der Progression der Erkrankung (vor allem der Demenzerkrankung) der vormaligen Klägerin zuzuschreiben sind und erst durch das Gutachten des MDK vom 17.12.2018 für die Zeit ab 01.10.2018 belegt wurden. Damit lässt sich ein Vorliegen einer Pflegebedürftigkeit der vormaligen Klägerin nach dem Pflegegrad 5 vor dem 01.10.2018 nicht nachweisen.
Der Senat hält die vorliegenden Sachverständigengutachten einschließlich der MDK-Gutachten (vor allem nach Hausbesuch) für gründlich, schlüssig und überzeugend. Dabei stimmt das Gutachten der im vorangegangen Verfahren gerichtlich bestellten Sachverständigen Frau G.K. mit den MDK-Gutachten im streitgegenständlichen Zeitraum überein. In allen drei Gutachten wurden 87,50 gewichtete Punkte und damit Pflegegrad 4 ermittelt. Die Gutachten des MDK vom 01.03.2017 und der Pflegesachverständigen G.K. vom 21.04.2018 erfolgten im Rahmen eines Hausbesuchs und im hier streitigen Zeitraum vom Januar 2017 bis 30.09.2018. Es war daher die Einholung eines weiteren Gutachtens, das im Übrigen nur noch nach Aktenlage ergehen könnte, nicht erforderlich.
Ein Antrag auf Begutachtung nach § 109 SGG durch einen Arzt/eine Ärztin des Vertrauens ist innerhalb der mit gerichtlichen Schreiben vom 18.08.2020 gesetzten Frist bis 15.09.2020 nicht gestellt worden. Soweit sich der Kläger nun darauf beruft, ein Antrag sei nicht gestellt worden, da er davon ausgegangen sei, Gutachtensaufträge würden vom Gericht „automatisch“ erteilt (Gesprächsvermerk vom 08.10.2020), sind dem die ausführlichen aufklärenden Hinweise des Senats mit gerichtlichem Schreiben vom 18.08.2020 entgegen zu halten.
Die Berufung war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG. Da die vormalige Klägerin im Laufe des Berufungsverfahrens verstorben ist, bleibt es ohne Weiteres bei der Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor.


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