Medizinrecht

Einstweiliger Rechtsschutz gegen Entziehung der Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  11 CS 19.390

Datum:
27.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 7154
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2 Abs. 12 S. 1, § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 2 S. 1, S. 2, Abs. 8, § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3
Anlage 4 FeV Nr. 11.4

 

Leitsatz

1 Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Fahreignungsbedenken iSd § 11 Abs. 2 FeV können sich auch aus einem Nystagmus ergeben. (Rn. 12 und 15) (redaktioneller Leitsatz)
3 Der Anforderung eines Fahreignungsgutachtens steht es nicht entgegen, wenn der zugrunde liegenden polizeilichen Mitteilung kein Protokoll über die Feststellungen oder andere Unterlagen beigefügt sind. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 8 S 18.2130 2019-01-31 Bes VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 8.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der im Jahr 1948 geborene Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, A2, AM, B, BE, C, CE, C1, C1E, L und T.
Mit Schreiben vom 20. April 2018 teilte die Polizeiinspektion Hildesheim der Antragsgegnerin mit, der Antragsteller habe am 19. April 2018 mit seinem Sattelzug auf der Autobahn einen Unfall verursacht. Er sei aus ungeklärter Ursache auf die Überholspur gefahren und habe dabei einen Pkw zwischen der Mittelschutzplanke und dem Sattelzug eingeklemmt. Es seien folgende geistige und/oder körperliche Mängel festgestellt worden: verengte Pupillen; horizontaler und vertikaler Nystagmus; Rombergtest vorgegebene Zeit von 30 Sekunden auf 45 Sekunden geschätzt; Einbeinstand nicht möglich, er könne nicht über mehrere Sekunden hinweg auf einem Bein stehen; Finger-Nase-Test, bei fünf Versuchen kein einziges Mal die Nasenspitze mit der Fingerspitze getroffen.
Mit Schreiben vom 2. Mai 2018 bat die Antragsgegnerin den Antragsteller um Vorsprache bis 7. Juni 2018 und Vorlage eines ärztlichen Attests des behandelnden Arztes sowie eines Medikamentenplans.
Da der Antragsteller nicht vorsprach, forderte die Antragsgegnerin ihn mit Schreiben vom 21. Juni 2018 auf, bis 21. September 2018 ein Gutachten eines Arztes einer Begutachtungsstelle für Fahreignung vorzulegen. Es sei zu klären, ob er an einer Störung des Gleichgewichtssinns leide und weiterhin in der Lage sei, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 gerecht zu werden.
Der Antragsteller legte trotz mehrfacher Verlängerung der Vorlagefrist kein Gutachten vor. Die Antragsgegnerin entzog ihm daraufhin mit Bescheid vom 28. November 2018 die Fahrerlaubnis aller Klassen und ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die Vorlage des Führerscheins innerhalb einer Woche ab Zustellung des Bescheids sowie die sofortige Vollziehung an. Am 6. Dezember 2018 gab der Antragsteller seinen Führerschein ab.
Über die gegen den Bescheid vom 28. November 2018 erhobene Klage (RN 8 K 18.2129) hat das Verwaltungsgericht Regensburg noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 31. Januar 2019 abgelehnt. Die Antragsgegnerin habe die Fahrerlaubnis zu Recht entzogen, da der Antragsteller das rechtmäßig geforderte Gutachten nicht vorgelegt habe.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt. Der Antragsteller macht geltend, die Mitteilung der Polizei vom 20. April 2018 stelle keine Tatsache dar, die die Anordnung einer Begutachtung rechtfertigen würde. Die angeblichen Tatsachen seien nur von medizinischen Laien stichpunktartig vermerkt worden und das Verwaltungsgericht unterstelle diese Angaben gleichwohl ungeprüft als wahr. Der Antragsteller habe aber nachvollziehbar erklärt, dass er nach dem Unfall unter Schock gestanden habe, und damit die Fahreignungszweifel ausgeräumt. Über die Durchführung der Tests sei auch kein Protokoll angefertigt worden und es sei schon nicht nachvollziehbar, auf welche Körperteile sich der Nystagmus beziehen solle. Wie lange er auf einem Bein habe stehen können und wie weit die Fingerspitze von der Nasenspitze entfernt gewesen sei, sei nicht vermerkt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg. Die im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründe, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), rechtfertigen es nicht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern oder aufzuheben. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach als rechtmäßig erweisen wird.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl I S. 3202), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 3. Mai 2018 (BGBl I S. 566), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV).
Nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn er sich weigert, sich untersuchen zu lassen, oder wenn er das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – NJW 2017, 1765 Rn. 19 m.w.N.). Das war hier der Fall.
Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhaber begründen. Bedenken bestehen insbesondere dann, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur FeV hinweisen. Nach Nr. 11.4 der Anlage 4 zur FeV besteht bei einer Störung des Gleichgewichtssinnes in der Regel keine Fahreignung.
Hier ist die Antragsgegnerin zu Recht davon ausgegangen, dass die Mitteilung der Polizeiinspektion Hildesheim vom 20. April 2018 Tatsachenfeststellungen enthält, die Bedenken gegen die gesundheitliche Eignung des Antragstellers begründen und die Aufforderung zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV i.V.m. Nr. 11.4 der Anlage 4 zur FeV rechtfertigt. Aus der polizeilichen Mitteilung über eine fahrerlaubnisrelevante Feststellung, zu der die Polizei gem. § 2 Abs. 12 Satz 1 StVG verpflichtet ist, ergibt sich ein Hinweis auf eine Störung des Gleichgewichtssinns, die häufig mit einem Nystagmus der Augen sowie Schwierigkeiten beim Einbeinstand und Finger-Nase-Test einhergeht. Dass der Mitteilung kein Protokoll über die Feststellungen oder andere Unterlagen beigefügt sind, entwertet diese nicht, denn nach § 2 Abs. 12 Satz 1 StVG müssen nur die Informationen übermittelt werden, die für die Überprüfung der Eignung oder Befähigung aus Sicht der übermittelnden Stelle erforderlich sind. Dafür reichen die Ergebnisse der Tests und die übrigen Beobachtungen aus.
Der Antragsteller bestreitet auch nicht, dass er nach dem von ihm verursachten Unfall am 19. April 2018 vor der Polizei verschiedene Tests absolvieren sollte und er diese nicht ordnungsgemäß durchführen konnte, sondern trägt vor, die Ursache dafür sei ein Schockzustand nach dem Unfall gewesen. Genau um dies aufzuklären, hat die Antragsgegnerin aber ihr Ermessen dahingehend ausgeübt, zuerst eine Vorsprache und die Vorlage eines Attests des behandelnden Arztes von ihm zu verlangen. Dabei hätte der Antragsteller Gelegenheit gehabt, darzulegen und mit ärztlichen Angaben zu untermauern, dass er sich nach dem Unfall in einem Ausnahmezustand befunden hat und die Ausfallerscheinungen nicht von einer fahreignungsrelevanten Erkrankung verursacht worden sind. Die bloße Behauptung des Antragstellers, die Störungen seien durch einen Schock hervorgerufen worden, reicht nicht aus, um die Bedenken zu zerstreuen. Nachdem er diese Möglichkeit der Aufklärung der Eignungszweifel nicht wahrgenommen hat, war die Antragsgegnerin nicht gehindert, nunmehr in einem zweiten Schritt die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anzuordnen.
Soweit der Antragsteller vorträgt, bei den Polizeibeamten handele es sich nicht um medizinisch ausgebildetes Personal, kann dies seiner Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen. Die Polizisten haben keine Erkrankung i.S.d. Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision (ICD-10) bei ihm diagnostiziert, sondern nur Feststellungen darüber getroffen, was sie beobachtet haben. Mit dem Begriff „Nystagmus“ ist in dem Polizeibericht nicht die Diagnose einer Erkrankung nach ICD-10 H55 – Nystagmus und sonstige abnorme Augenbewegungen gemeint, sondern es wird der beobachtete Zustand der Augen des Antragstellers beschrieben. Dafür bedarf es keines medizinischen Sachverstands. Zu der Frage, welche Ursache dieser Augenbewegungsstörung zugrunde liegt, hat der Polizeibericht keine Aussage getroffen.
Aus dem Polizeibericht ergibt sich auch mit hinreichender Sicherheit, dass ein Nystagmus der Augen gemeint ist. Der Begriff „Nystagmus“ wird üblicherweise für ein nicht willkürlich beeinflussbares rhythmisches Zittern der Augen verwendet (vgl. www.duden.de), das verschiedene Ursachen haben kann. Zwar kann auch an anderen Organen ein Nystagmus auftreten, es ist hier aber nicht ersichtlich, welches andere Organ die Polizeibeamten hätten beobachten können. Darüber hinaus ergibt die Bezeichnung eines horizontalen und vertikalen Zitterns auch nur bei den Augen einen Sinn. Der Antragsteller hat auch nicht ausgeführt, welches andere Organ von einem Nystagmus betroffen gewesen sein könnte.
Damit war die Beschwerde mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.1, 46.3 und 46.3 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, Anh. § 164 Rn. 14).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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