Medizinrecht

Erfolglose Beschwerde in einem versammlungsrechtlichen Verfahren (Änderung der Route eines Fahrradkorsos)

Aktenzeichen  10 CS 21.1590

Datum:
4.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
RÜ – 2021, 599
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 8 Abs. 1
BayVersG Art. 15 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Die Einstufung einer Straße als Bundesautobahn oder Bundesstraße entscheidet nicht darüber, ob auf dieser Straße grundsätzlich eine Versammlung stattfinden darf und entbindet Versammlungsbehörden und Gerichte nicht von einer Güterabwägung, sondern entfaltet allenfalls Indizwirkung für das Gewicht der gegen eine Versammlung sprechenden Interessen der Öffentlichkeit oder Dritter. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Sperrung einer Bundesstraße für 30 Minuten stellt keine zeitliche Grenze dar, oberhalb derer die Abwägung zwangsläufig zu Lasten der Versammlungsfreiheit ausfallen müsste; ausschlaggebend sind stets die konkreten Umstände des Einzelfalls. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Recht „schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen“ findet seine Grenzen auch in den verfassungsmäßigen Rechten anderer. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 8 S 21.1265 2021-06-04 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Antragsgegnerin gegen einen Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg, mit dem dieses die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 31. Mai 2021 verfügte Änderung der Route einer von diesem für den 6. Juni 2021 angemeldeten Versammlung (Fahrradkorso) teilweise angeordnet hat.
Der Antragsteller zeigte am 25. Mai 2021 per E-Mail bei der Antragsgegnerin eine Versammlung unter freiem Himmel für den 6. Juni 2021, 14:00 Uhr bis 19:00 Uhr zum Thema „Klimaschutz durch Mobilitätswende (…)“ in Form eines Demonstrationszugs mit Fahrrädern und stationären Kundgebungen mit rund 200 Teilnehmern an. Als Wegstrecke wurde eine Route unter anderem über die Autobahn … und die Bundesstraße … angezeigt, alternativ eine Route ohne Benutzung der …, jedoch mit Nutzung der B. … vorgeschlagen.
Mit Bescheid vom 31. Mai 2021 bestätigte die Antragsgegnerin die angezeigte Versammlung, ordnete aber gleichzeitig verschiedene Beschränkungen an. Insbesondere wurde in Ziffer 2.1.1 ein Streckenverlauf unter Ausschluss sowohl der BAB . als auch der B. … angeordnet. Zur Begründung ist im Bescheid ausgeführt, aus den im Verwaltungsverfahren eingeholten Stellungnahmen gehe hervor, durch die beidseitige Sperrung der B. … und der A. für einen Zeitraum von mehreren Stunden entstehe eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere für die überragend wichtigen Güter Leben und Gesundheit, da in Notfällen für Feuerwehr und Rettungsdienste durch die Vollsperrung ein erheblicher Zeitverlust zu befürchten sei.
Am 2. Juni 2021 erhob der Antragsteller Klage gegen die Änderung der Aufzugsroute beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg und beantragte zugleich, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Mit Beschluss vom 4. Juni 2021 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage an, soweit durch die geänderte Routenführung die Benutzung der B. … zwischen den Anschlussstellen A. …-P. … und A. …-K. … ausgeschlossen sei und lehnte den Antrag des Antragstellers im Übrigen ab. Wegen des Ausnahmecharakters der Versammlung, die in eine bundesweite Aktion eingebunden sei, der innerhalb des Stadtgebiets verlaufenden Teilstrecke der B. …, des auf 60 bzw. 70 km/h angepassten Tempolimits, der Kürze der beanspruchten Strecke von ca. 1,1 km, der Dauer dieser Beanspruchung von etwa 10 Minuten sowie der von Antragsgegnerseite wenig konkretisierten Besorgnis von Unfällen und erheblichen Verkehrsbehinderungen falle die vorzunehmende Abwägung zugunsten des Antragstellers und des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin. Zur Beschwerdebegründung trägt sie vor, das Verwaltungsgericht habe die räumliche und zeitliche Dimension des angezeigten Fahrradkorsos sowie dessen Auswirkungen auf die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sowie die Schutzgüter Leben und Gesundheit verkannt und daher eine fehlerhafte Abwägung zugunsten der Versammlungsfreiheit vorgenommen. Ebenso wie Autobahnen sei auch die B. … in dem betroffenen Abschnitt nur für den Verkehr mit Kraftfahrzeugen bestimmt und freigegeben und einem kommunikativen Verkehr durch Versammlungen grundsätzlich nicht eröffnet. Die B. … habe als einzige Nord-Süd-Verbindung im Stadtgebiet erhebliche überörtliche Verkehrsbedeutung. Die durch die Verkehrspolizeiinspektion A. … ermittelte Dauer der notwendigen Sperrung dieser autobahnähnlichen Straße mindestens in einer Fahrtrichtung für ca. 100 Minuten übersteige das in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs für zulässig erachtete Ausmaß (30-minütige Sperrung, vgl. BayVGH, B.v. 13.11.2020 – 10 CS 20.2655 – juris) erheblich. Ein Ausweichen der betroffenen Autofahrer seien nur auf kleinere Nebenstrecken oder Wohngebiete und Ortsdurchfahrten möglich. Gerade am Versammlungstag, dem letzten Tag der Pfingstferien, sei mit starkem Reiseverkehr zu rechnen. Die dadurch entstehende Verkehrsproblematik sei den übrigen Verkehrsteilnehmern nicht zumutbar; zudem entstehe ein zusätzliches Unfallrisiko. Ähnlich ausgebaute Ausweichrouten im Falle der Sperrung dieser Strecke bestünden im Stadtgebiet der Antragsgegnerin nicht. Sämtliche im Falle einer Sperrung erforderlichen Maßnahmen seien allein kausal durch die Versammlung bedingt. Die ca. 100-minütige Dauer der Beanspruchung dieser Bundesstraße durch die Versammlung falle auch mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 GG so erheblich aus, dass die Beschränkung der Versammlungsfreiheit gerechtfertigt sei. Dass auch eine kürzere Inanspruchnahme dieser Teilstrecke möglich sei, hätten der Antragsteller und das Verwaltungsgericht nicht aufgezeigt. Zudem sei zu befürchten, dass die Versammlungsteilnehmer eine Blockade der Straße beabsichtigten und diese Blockade als Druckmittel zur Erreichung ihres politischen Ziels benutzten, was jedoch nicht vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit gedeckt sei. Weiter werde durch die beidseitige Vollsperrung der B. … sowie das daraus resultierende Rückstau- und Umleitungsverkehrsgeschehen der Einsatz von Feuerwehr, Rettungsdiensten und Polizei stark behindert und verzögert. Insoweit bestehe auch eine unmittelbare Gefahr für die Schutzgüter Leben und Gesundheit.
Die Antragsgegnerin beantragt,
unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 4. Juni 2021 den Eilantrag des Antragstellers vollumfänglich abzulehnen.
Der Antragsteller tritt der Beschwerde entgegen und verwahrt sich insbesondere gegen die Behauptung einer von ihm beabsichtigten Blockade. Er sei vielmehr gemeinsam mit der Polizei an einem reibungslosen Ablauf der Demonstration interessiert.
Der am Verfahren beteiligte Vertreter des öffentlichen Interesses hält, ohne einen eigenen Antrag zu stellen, die Beschwerde der Antragsgegnerin unter Hinweis auf die zutreffende Antragserwiderung in erster Instanz und die Beschwerdebegründung für begründet.
Ergänzend wird auf die vorgelegten Behördenakten und die Gerichtsakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die von der Antragsgegnerin in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen nicht die Abänderung des angefochtenen Beschlusses und die Ablehnung des Eilantrags des Antragstellers in vollem Umfang.
1. Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn die Klage – wie hier (vgl. Art. 25 BayVersG) – keine aufschiebende Wirkung hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat bei seiner Entscheidung eine originäre Interessenabwägung auf der Grundlage der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage darüber zu treffen, ob die Interessen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, oder diejenigen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, überwiegen. Dabei sind die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren wesentlich zu berücksichtigen, soweit sie bereits überschaubar sind. Nach allgemeiner Meinung besteht an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer voraussichtlich aussichtslosen Klage kein überwiegendes Interesse. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen.
2. Gemessen daran führen die in der Beschwerdeschrift dargelegten Gründe nicht zu einer Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts und einer Ablehnung des Eilantrags des Antragstellers in vollem Umfang.
a) Die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage ist in dem vom Verwaltungsgericht angenommenen Umfang voraussichtlich begründet. Die Änderung der Versammlungsroute im angegriffenen Bescheid ist nach summarischer Prüfung insoweit rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
aa) Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen (hierzu und zum Folgenden zuletzt BVerfG, B.v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20 – juris Rn. 14 m.w.N.). Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. Damit die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können, gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung (stRspr, vgl. etwa BVerfG, B.v. 20.12.2012 – 1 BvR 2794/10 – juris Rn. 16).
Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Derartige Beschränkungen sind im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen. Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig (vgl. zuletzt BVerfG, B.v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20 – juris Rn. 14 m.w.N.). Rechtsgüterkollisionen ist im Rahmen versammlungsrechtlicher Verfügungen durch Auflagen oder Modifikationen der Durchführung der Versammlung Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, B.v. 24.10.2001 − 1 BvR 1190/90 − BVerfGE 104, 92 – juris Rn. 54, 63). Insoweit gilt die Regel, dass kollektive Meinungsäußerungen in Form einer Versammlung umso schutzwürdiger sind, je mehr es sich bei ihnen um einen Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt (stRspr, vgl. BVerfG, U.v. 11.11.1986 – 1 BvR 713/83 – BVerfGE 73, 206 – juris Rn. 102).
Gem. Art. 15 Abs. 1 BayVersG kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.
Der Schutz der „öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 BayVersG umfasst die gesamte Rechtsordnung und damit auch straßenverkehrsrechtliche Vorschriften, die die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs regeln (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.1989 – 7 C 50/88 – BVerwGE 82, 34 – juris Rn. 15). Kollidiert die Versammlungsfreiheit mit dem Schutz der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, ist – wie auch sonst – eine Abwägung der betroffenen Positionen zur Herstellung praktischer Konkordanz erforderlich. Wichtige Abwägungselemente sind dabei unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der blockierten Tätigkeit Dritter, aber auch der Sachbezug zwischen den beeinträchtigten Dritten und dem Protestgegenstand. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen Bezug zum Versammlungsthema haben (BayVGH, B.v. 13.11.2020 – 10 CS 20.2655 – juris Rn. 22; HessVGH, B.v. 30.10.2020 – 2 B 2655/20 – juris Rn. 5 unter Verweis auf BVerfG, B.v. 24.10.2001 − 1 BvR 1190/90 − BVerfGE 104, 92 – juris Rn. 64).
Auch Bundesfernstraßen sind, obwohl sie von ihrem eingeschränkten Widmungszweck her anders als andere öffentliche Verkehrsflächen nicht der Kommunikation dienen, sondern ausschließlich dem Fahrzeugverkehr, nicht generell ein „versammlungsfreier Raum“ (OVG NW, B.v. 30.1.2017 – 15 A 296/16 – juris Rn. 17, 19; HessVGH, B.v. 30.10.2020 – 2 B 2655/20 – juris Rn. 6; B.v. 9.8.2013 – 2 B1740/13 – juris). Zu berücksichtigen ist aber, dass jedenfalls Verkehrsinteressen im Rahmen von versammlungsrechtlichen Anforderungen nach § 15 Abs. 1 BayVersG erhebliche Bedeutung beigemessen werden darf (HessVGH, B.v. 30.10.2020 – 2 B 2655/20 – juris Rn. 6 für Bundesautobahnen). Das Interesse des Veranstalters und der Versammlungsteilnehmer an der ungehinderten Nutzung einer Bundesfern straße hat je nach Lage der Dinge hinter die Belange der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zurückzutreten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob es sich nach § 1 Abs. 3 FStrG um eine nur für den Schnellverkehr von Kraftfahrzeugen bestimmte Bundesautobahn handelt oder (nur) um eine Bundesstraße (OVG NW, B.v. 30.1.2017 – 15 A 296/16 – juris Rn. 19). Die Einstufung einer Straße als Bundesautobahn oder Bundesstraße entscheidet mit anderen Worten nicht darüber, ob auf dieser Straße grundsätzlich eine Versammlung stattfinden darf und entbindet Versammlungsbehörden und Gerichte nicht von einer Güterabwägung. Sie entfaltet allenfalls Indizwirkung für das Gewicht der gegen eine Versammlung sprechenden Interessen der Öffentlichkeit oder Dritter.
bb) Gemessen an diesen verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Vorgaben erweist sich die noch streitige Änderung der Versammlungsroute auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens voraussichtlich als unangemessener Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Antragstellers.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht und von der Beschwerde nicht beanstandet festgestellt, dass die Inanspruchnahme eines Teilabschnitts der B. … einen starken Bezug zu einem die Öffentlichkeit wesentlich interessierenden Versammlungsthema aufweist und insofern besonders schutzwürdig ist (vgl. dazu bereits BayVGH, B.v. 13.11.2020 – 10 CS 20.2655 – juris Rn. 24). Es hat weiter zu Recht angenommen, dass eine nicht hinnehmbare Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Falle der Befahrung der B. … durch rund 200 Fahrradfahrer zwischen den Anschlussstellen „A. … P. …“ und „A. …-Straße/B. …“ und die hierfür erforderliche Vollsperrung von der Antragsgegnerin nicht hinreichend konkret und substantiiert dargelegt ist. Insofern schließt sich der Senat den Ausführungen des Verwaltungsgerichts an (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
Zum Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin ist ergänzend Folgendes anzumerken:
Zu Unrecht rügt die Antragsgegnerin, das Verwaltungsgericht habe die besondere Bedeutung der Bundesfernstraßen für den Schnellverkehr mit Kraftfahrzeugen einerseits und den Ausbau sowie die konkrete verkehrliche Bedeutung des von der Versammlung in Anspruch genommenen Teilstücks der B. … andererseits verkannt. Das Verwaltungsgericht hat in Übereinstimmung mit der dargestellten Rechtsprechung die maßgeblichen Kriterien zugrunde gelegt (Rn. 48 des Beschlusses), den Ausbau der B. … in Rechnung gestellt und die Bedeutung der B. … für den örtlichen und überörtlichen Verkehr zutreffend berücksichtigt (Rn. 49 des Beschlusses). Es trifft nicht zu, dass das Verwaltungsgericht von einer Bedeutung „nur“ für den örtlichen Verkehr ausgegangen wäre (vgl. Rn. 49 des Beschlusses: „sodass die B. … – anders als eine Bundesautobahn wie die A. – auch einem örtlich beschränkten Verkehr dient“, Hervorhebung nicht im Original). Das Verwaltungsgericht hat der Abwägung im Einzelfall demnach sowohl einen grundsätzlich rechtlich zutreffenden Rahmen als auch nicht zu beanstandende Sachverhaltsannahmen zu Grunde gelegt.
Auch das vom Verwaltungsgericht gefundene Abwägungsergebnis im konkreten Einzelfall wird mit dem Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Zweifel gezogen. Dabei weist der Senat zunächst darauf hin, dass die von der Antragsgegnerin angeführte Sperrung einer Bundesstraße für 30 Minuten keine zeitliche Grenze darstellt, oberhalb derer die Abwägung zwangsläufig zu Lasten der Versammlungsfreiheit ausfallen müsste. Die entsprechende Passage im Beschluss des Senats vom 13. November 2020 (10 CS 20.2655 – juris Rn. 27) betraf eine konkrete Abwägungsentscheidung im Einzelfall und ist nicht – wie die Antragsgegnerin meint – verallgemeinerungsfähig. Ausschlaggebend sind stets die konkreten Umstände des Einzelfalls.
Insofern ist der Antragsgegnerin zwar zuzugeben, dass unvermeidbare Beeinträchtigungen von Rechtsgütern Dritter durch staatliche Schutzmaßnahmen auch vor und nach der (regelmäßig kürzeren) eigentlichen Inanspruchnahme der Strecke durch die Versammlungsteilnehmer (hier unstreitig etwa 10 Minuten) in die Güterabwägung einbezogen werden müssen. Der Senat kann jedoch die Annahme der Antragsgegnerin, für die ungefähr zehnminütige Durchfahrt der Versammlungsteilnehmer müsse der Streckenabschnitt für rund 100 Minuten gesperrt werden, anhand der vorgelegten Stellungnahmen nicht hinreichend nachvollziehen. Die Stellungnahme der Verkehrspolizeiinspektion A. … vom 4. Juni 2021 listet zwar Maßnahmen auf, die in ihrer Gesamtheit ca. 100 Minuten in Anspruch nehmen dürften. Es ist aber nicht dargelegt oder für den Senat sonst ersichtlich, dass etwa während der Vorbereitungszeit (40 Minuten) und der Zeit zum Abbau der Sperrung (30 Minuten) der Verkehr nicht – wenigstens teilweise – weiterfließen könnte.
Die Befürchtungen der Antragsgegnerin zum hohen Verkehrsaufkommen am letzten Tag der Pfingstferien sind insbesondere zahlenmäßig nicht näher konkretisiert und bleiben damit letztlich zu unsubstantiiert. Soweit im Bescheid aufgrund der Stellungnahme der Verkehrspolizeiinspektion A. … vom 27. Mai 2021 ein Verkehrsaufkommen von 4.000 Fahrzeugen pro Stunde genannt ist, ist – anders als bei der entsprechenden Darstellung für die BAB. – nicht ersichtlich, ob es sich hierbei um eine Prognose für einen vergleichbaren Sonntag handelt. Entsprechendes gilt für die Befürchtung, durch die zeitweilige Sperrung könne sich die Anfahrtszeit von Rettungsfahrzeugen, insbesondere Krankenwägen zur nahegelegenen Uniklinik in unzumutbarer Weise verlängern. Konkrete Angaben zur Verlängerung der Anfahrtszeit, die über das übliche Maß bei Stauungen und Stockungen hinausgehen würde, lassen sich weder dem Bescheid noch den eingeholten Stellungnahmen entnehmen. Entsprechendes gilt für den Hinweis auf mögliche Störmaßnahmen von Versammlungsteilnehmern, für die es auch mit Blick auf die Beschwerdeerwiderung des Antragstellers keine konkreten Hinweise gibt.
Der Senat verkennt auch im vorliegenden Fall nicht, dass die Inanspruchnahme der B. … durch die Versammlungsteilnehmer nicht unerhebliche Beeinträchtigungen der Leichtigkeit des Straßenverkehrs im Stadtgebiet der Antragsgegnerin und wohl auch darüber hinaus verursachen wird. Auch berechtigt die Versammlungsfreiheit als solche nicht ohne weiteres dazu, die von den Teilnehmern gewollte Verkehrswende ohne Rücksicht auf die Rechte Einzelner oder öffentliche Interessen gleichsam auf eigene Faust durchzusetzen. Umgekehrt sind die hier zu befürchtenden Einschränkungen im Hinblick auf den hohen Wert der Versammlungsfreiheit einerseits und die Bedeutung des Versammlungsthemas für die öffentliche Meinungsbildung gerade in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskussion andererseits in einer demokratischen Gesellschaft jedoch hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 13. November 2020 – 10 CS 20.2655 -, Rn. 27, juris). Das Recht „schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen“, wie es die Beschwerdebegründung beschreibt, findet seine Grenzen auch in den verfassungsmäßigen Rechten anderer – hier der Versammlungsteilnehmer.
b) Hat die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage aller Voraussicht nach im noch streitbefangenen Umfang Aussicht auf Erfolg, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, warum das öffentliche Vollzugsinteresse das Suspensivinteresse des Antragstellers gleichwohl überwiegen sollte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Der Streitwert war nach §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Nr. 2 GKG zu bestimmen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben