Medizinrecht

Erfolglose Klage gegen Entziehung der Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  Au 7 S 16.1375

Datum:
10.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
StVG StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV FeV § 46 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Die Frage der Rechtmäßigkeit der Gutachtensanforderung kann dahinstehen, wenn eine medizinische Fahrtauglichkeitsbegutachtung tatsächlich erfolgt ist und dem eingeholten Gutachten eine selbstständige Bedeutung zukommt. Das Gutachten stellt eine neue Tatsache dar, die auch im Interesse der Allgemeinheit, vor Kraftfahrern geschützt zu werden, die sich aufgrund festgestellter Tatsachen als ungeeignet erwiesen haben, ohne Weiteres verwertet werden kann (Anschluss BVerwG NJW 1982, 2885). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Kosten des Verfahrens hat die Antragstellerin zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 6.250,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragstellerin wurde erstmalig die Fahrerlaubnis der Klasse 3 durch das Landratsamt … am 4. November 1974 erteilt. Am 9. Dezember 2011 erfolgte der Umtausch in einen EU-Kartenführerschein (Fahrerlaubnisklassen A1, B, BE, C1, C1E, M, L und S).
Am 27. Dezember 2015 erhielt die Fahrerlaubnisbehörde von der Polizeiinspektion … die Mitteilung, dass die Antragstellerin am 23. Dezember 2015 um 10:05 Uhr im … ein Fahrzeug mit Automatikgetriebe rückwärts einparken wollte. Die Parklücke, in welche die Klägerin einparken wollte, hätte für 2 PKW ausgereicht. Laut ihrer Aussage rutschte die Antragstellerin vom Pedal und fuhr zuerst rückwärts gegen ein geparktes Fahrzeug und schoss anschließend über den Gehweg in einen Strauch. Diesen PKW schob es dabei rückwärts gegen ein anderes geparktes Fahrzeug. Als die Antragstellerin im Anschluss vorwärts fuhr, fuhr sie wiederum gegen ein geparktes Fahrzeug, welches es durch den Aufprall auf einen weiteren geparkten PKW schob. Es entstand ein Sachschaden an allen geparkten PKW. Die Antragstellerin trug lediglich alte „Latschen“ und wirkte überfordert. Aufgrund des Schadensbildes sei es wahrscheinlich, dass die Klägerin Gaspedal mit Bremspedal zweimal verwechselt habe.
Des Weiteren wurde gegen die Antragstellerin bereits wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort ermittelt (Staatsanwaltschaft …, Az. …). Diesem Verfahren, welches am 4. November 2015 gemäß § 153 a StPO gegen die Zahlung eines Geldbetrages in Höhe von 300,00 EUR eingestellt wurde, lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Antragstellerin fuhr am 10. September 2015 gegen 12:30 Uhr mit ihrem PKW auf dem … in … Auf Höhe des Anwesens … stieß sie beim Rückwärtsfahren gegen den vorderen Stoßfänger eines anderen PKW Honda und verursachte dabei einen Schaden in Höhe von ca. 800,00 EUR. Anschließend entfernte sie sich unerlaubt vom Unfallort.
Am 29. Februar 2016 sprach die Antragstellerin persönlich bei der Fahrerlaubnisbehörde vor und teilte u. a. mit, dass sie außer der Erkrankung „Altersdiabetes“ keine weiteren Erkrankungen habe. Sie sei deshalb „dauernd“ beim Hausarzt. Der Diabetes sei gut mit Insulin eingestellt. Des Weiteren legte die Antragstellerin am 17. März 2016 freiwillig ein augenärztliches Attest vor, welches zu dem Ergebnis kam, dass die nach Ziffer 2.2 der Anlage 4 zur FeV geforderten Anforderungen mit Sehhilfe erreicht wurden. Weiter legte sie ebenfalls am 17. März 2016 ein ärztliches Attest vom 9. März 2016 – Dr. med. … – in Bezug auf den Diabetes mellitus vor. Diesem Arztbericht sind u. a. folgende, für die Fahreignung relevante Diagnosen zu entnehmen: Diabetes mellitus Typ 2 (Insulintherapie), Chronische Nierenkrankheit (Stadium 2); Diabetisches Fußsyndrom (Z. n. Amputation DIII links), Diabetische Polyneuropathie, Arterielle Hypertonie. An den für die Fahreignung relevanten Medikamenten wurde die Einnahme folgender Präparate bestätigt: Ramipril 1A Pharma plus 5 mg/25 Tabletten, Tramadolor 100 mg Retardtabletten, Gabapentin 1A Pharma 5 mg Tabletten, Restex 100 mg/25 Kapseln retardiert.
Mit Schreiben vom 2. Mai 2016 ordnete die Fahrerlaubnisbehörde die Vorlage eines ärztlichen Gutachtens, erstellt von einem Arzt in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, bis spätestens 15. Juli 2016, Frist bis 20. Juli 2016 verlängert, an. Das am 15. Juli 2016 von der … GmbH … erstellte Gutachten kam dabei zu folgendem Ergebnis:
Bei der Antragstellerin liegen mehrere Erkrankungen vor, die die Fahreignung nach Anlage 4 zur FeV in Frage stellen. Sie leidet an Zuckerkrankheit bei medikamentöser Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko (Insulin) nach Ziffer 5.4 der Anlage 4 zur FeV und einer schweren Form von diabetischer Polyneuropathie nach Ziffer 6.2 der Anlage 4 zur FeV. Weiter erhält sie eine Dauerbehandlung mit den verkehrsmedizinisch relevanten Arzneimitteln Tramadolor, Ramipril, Gabapentin, Metformin, Pramipexol und Sifrol nach Ziffer 9.6 der Anlage 4 zur FeV. Aufgrund vorgenannter Erkrankungen und Medikamenteneinnahme ist die Antragstellerin nicht in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kfz der Gruppen 1 und 2 gerecht zu werden. Weiter liegt bei der Antragstellerin eine nicht ausreichende Adhärenz (Compliance; z. B. Krankheitseinsicht, regelmäßige/überwachte Medikamenteneinnahme) vor. Schließlich liegt bei der Antragstellerin vor dem Hintergrund der Dauerbehandlung mit Arzneimitteln nicht die erforderliche Leistungsfähigkeit (Belastbarkeit, Orientierungsleistung, Konzentrationsleistung, Aufmerksamkeitsleistung und Reaktionsfähigkeit) zum sicheren Führen eines Kfz der Gruppen 1 und 2 vor. Die Möglichkeit einer Kompensation ist wegen der Kumulation von Mängeln ausgeschlossen.
Mit Schreiben vom 1. August 2016 wurde die Antragstellerin über die beabsichtigte Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund des negativen Gutachtensergebnisses mit einer Frist zur Stellungnahme bis 11. August 2016 angehört. Die Antragstellerin machte von der Möglichkeit des freiwilligen Verzichts auf die Fahrerlaubnis keinen Gebrauch. Mit Schreiben vom 19. August ließ sie durch ihren Prozessbevollmächtigten eine aktuelles nervenärztliches Attest vom 17. Juni 2016 vorlegen, welches nachweise, dass die Fahreignung der Antragstellerin nicht eingeschränkt sei und die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen von ihr erfüllt würden. Die behandelnde Ärztin Dr. med. … habe dies ausdrücklich so festgestellt. Weiter wurde die Einholung eines weiteren verkehrsmedizinischen Gutachtens unter Einbindung der behandelnden Ärzte und Berücksichtigung der aktuellen Gesundheitssituation der Antragstellerin sowie die Durchführung einer Fahrverhaltensprobe als milderes Mittel angeregt.
Mit Bescheid vom 30. August 2016 wurde der Antragstellerin die Fahrerlaubnis aller Klassen entzogen (Ziffer 1). Gleichzeitig wurde angeordnet, dass der betreffende Führerschein unverzüglich, spätestens jedoch bis 7. September 2016, bei der Stadt … – Fahrerlaubnisbehörde – abgeliefert werden muss (Ziffer 2). Für den Fall, dass der Führerschein nicht fristgerecht abgeliefert wird, wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 500 EUR angedroht (Ziffer 3). Die sofortige Vollziehbarkeit der Ziffern 1 und 2 dieses Bescheids wurde angeordnet (Ziffer 4).
Am 7. Oktober 2016 gab die Antragstellerin ihren Führerschein bei der Fahrerlaubnisbehörde der Stadt … ab.
Mit Schreiben vom 28. September 2016 ließ die Antragstellerin Klage erheben und stellte gleichzeitig einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO:
Die sofortige Vollziehung der Verfügung der Beklagten vom 30. August 2016 zum Entzug der Fahrerlaubnis der Klägerin mit Führerscheinnummer … für die Fahrerlaubnisklassen A1, B, BE, C1, C1E, M, L und S wird ausgesetzt und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt.
In dem der Beklagten in Bezug auf den Diabetes mellitus vorgelegten Arztbericht vom 9. März 2016 werde ausdrücklich aufgeführt, dass „die Stoffwechsellage derzeit sehr gut“ sei und sich insbesondere keine Hypoglykämien fänden und die Hypoglykämie-Wahrnehmung intakt sei, weshalb eine Therapieveränderung nicht erforderlich sei. In diesem Bericht sei ausdrücklich vermerkt, dass bei der festgestellten Nephropathie im Stadium II „ein stabiler Verlauf“ festgestellt worden sei. Soweit im Gutachten der … GmbH auf Seite 23 bis 25 angegeben werde „anfallsartig auftretende Störungen mit akuter Beeinträchtigung des Bewusstseins mit ungeklärter Ursache ohne Behandlung. Der letzte Anfall sei im September 2015, der davor im Frühjahr 2015 gewesen“, dürfe die Fahrerlaubnisbehörde die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht hierauf stützen, da nicht bekannt sei, auf welcher Grundlage diese Angaben im Gutachten zustande gekommen seien. Im Entziehungsbescheid vom 30. August 2016 werde ab Seite 6 lediglich weitschweifig ausgeführt, welche Nebenwirkungen die Medikation der Antragstellerin in Bezug auf die Fahrtüchtigkeit haben kann, ohne konkret zu prüfen, ob es tatsächlich zu Einschränkungen komme und falls ja, ob diese Einschränkungen dauerhaft oder nur vorübergehend bestünden. Selbst für den Fall, dass tatsächliche Einschränkungen vorliegen würden, könnten diese beispielweise durch eine Auflage, welche der Antragstellerin verbiete, für eine gewisse Zeit nach der Medikamententeilnahme am Straßenverkehr teilzunehmen, behoben werden. Soweit der Antragstellerin bei der Testdurchführung durch die … GmbH Leistungseinbußen attestiert worden seien, sei nicht ausreichend berücksichtigt worden, dass die Antragstellerin diese durch ihre jahrzehntelange Fahrpraxis kompensieren könne. Allein die Tatsache, dass die Antragstellerin am 10. September und 23. Dezember 2015 zwei Verkehrsunfälle in … verursacht habe, reiche nicht aus für die Annahme der Ungeeignetheit zum Führen von Kfz der Gruppen 1 und 2. Die Unfälle könnten vielfältige Ursachen wie Stress, Eile, Aufgeregtheit oder Abgelenktheit gehabt haben. Weder im Entziehungsbescheid noch im …-Gutachten sei nachvollziehbar dargelegt, warum bei der Antragstellerin keine ausreichende Krankheitseinsicht vorliege. Die Tatsache, dass sich die Klägerin in regelmäßiger ärztlicher Behandlung der verschiedenen medizinischen Fakultäten befinde und sich zusätzlich freiwillig untersuchen lasse, spreche ganz klar gegen eine mangelnde Krankheitseinsicht. Ein aktuelles Laborblatt des behandelnden Hausarztes Dr. med. … vom 17. August 2016, welches am 23. August 2016 vorgelegt worden sei, belege, dass sich insbesondere die Nierenretentionswerte (Krea, GFR, Harnstoff) und die Blutzuckereinstellung (mit den Werten BhA1c und Blutzucker im Serum) im „grünen Bereich“ befänden. In Kenntnis dieser ärztlichen Bescheinigung hätte die Beklagte nicht allein auf Grundlage des Gutachtens der … GmbH vom 15. Juli 2016 die Entziehungsverfügung erlassen dürfen. Insbesondere hätte die Fahrerlaubnisbehörde die Anregungen der Antragstellerseite auf Einholung eines weiteren verkehrsmedizinischen Gutachtens unter Einbindung der behandelnden Ärzte sowie die Durchführung einer Fahrverhaltensbeobachtung als milderes Mittel beachten müssen. Die Fahrerlaubnisentziehung ohne nähere medizinische Untersuchung und ohne Durchführung einer Fahrverhaltensbeobachtung sei unverhältnismäßig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten, insbesondere auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Es lägen keine tatsächlich nachgewiesenen Umstände vor, die dafür sprechen würden, dass zulasten der Antragstellerin eine besondere und konkrete Straßenverkehrsgefährdung zu besorgen sei. Dies ergebe sich schon daraus, dass bis zu den beiden Unfällen am 10. September und 23. Dezember 2015 und auch im nachfolgenden Zeitraum keine weiteren Unfälle durch die Antragstellerin verursacht oder gar verschuldet worden seien. Auch würden die vorliegenden Atteste der Augenärztin, der Neurologin, des Internisten und des Hausarztes der Klägerin gegen eine solche Annahme sprechen. Die Beklagte habe nicht in ausreichender Weise vorgetragen, dass das Interesse der Allgemeinheit an der Verkehrssicherheit die Interessen der Antragstellerin am weiteren Führen von Kfz überwiege. Die Fahrerlaubnisbehörde verliere sich nur in allgemeinen Ausführungen und gehe nicht auf die Anregungen des Klägervertreters im Schreiben vom 19. August 2016 ein. Die Antragstellerin benötige die ihr zugeteilten Fahrerlaubnisse zur Tätigung der täglichen Besorgungen und Arztbesuche. Auch wenn die Antragstellerin in … wohne, sei dies mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur sehr eingeschränkt möglich. Auch habe sie aufgrund ihrer geringen Rente die Betreuung verschiedener älterer oder kranker Personen übernommen, die sie ohne die ihr bislang zugeteilten Fahrerlaubnisklassen nicht erfüllen könne.
Mit Schreiben vom 4. Oktober 2016 erwiderte die Antragsgegnerin und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Aufgrund der bekanntgewordenen Tatsachen hätten erhebliche Zweifel an der Eignung der Antragstellerin zum Führen von Kfz bestanden. Zur Abklärung, ob die Fahreignung noch gegeben sei, sei nach pflichtgemäßen Ermessen gemäß § 46 Abs. 3 FeV i. V. m. § 11 Abs. 2 FeV die Vorlage eines ärztlichen Gutachtens, erstellt von einem Arzt in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, angeordnet worden. Aufgrund des betreffenden negativen verkehrsmedizinischen Gutachtens vom 15. Juli 2016 sei die Fahreignung der Antragstellerin nicht mehr gegeben gewesen. Die Fahrerlaubnis habe daher gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i. V. m. § 46 Abs. 1 FeV entzogen werden müssen. Aufgrund des vorliegenden Gutachtens sei belegt, dass die Antragstellerin an mehreren Erkrankungen leide, welche die Fahreignung ausschließen würden. Es sei daher die konkrete Befürchtung begründet, dass die weitere Teilnahme der Antragstellerin am Straßenverkehr weitergehende Gefährdungen anderer Verkehrsteilnehmer oder deren Eigentum nach sich ziehen könne. Es könne nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sie auch künftig ein Kfz führen werde und hierbei eine erhebliche Gefahr nicht nur für sich, sondern auch für andere Verkehrsteilnehmer darstellen werde. Angesichts dieser Tatsachen war die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 2 des Bescheidtenors gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO anzuordnen. Sie sei aus zwingenden Gründen der Sicherheit und Ordnung des öffentlichen Straßenverkehrs geboten und liege im öffentlichen Interesse. Die der Antragstellerin durch die Entziehung eventuell entstehenden Nachteile seien nachrangig und deshalb nicht zu berücksichtigen.
Die in der Klageschrift bezeichneten ärztlichen Unterlagen (Arztbericht des Herrn Dr. med. … vom 9.3.2016, Arztbericht der Frau Dr. med. … vom 11.3.2016, Arztbericht der Frau Dr. med. … vom 17.6.2016) hätten dem Gutachter zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens vorgelegen und seien entsprechend berücksichtigt und bewertet worden (siehe Blatt 4 des Gutachtens). Die von der Antragstellerin anlässlich der medizinischen Untersuchung selbst vorgetragenen Angaben, wonach sie seit 35 Jahren ab und zu „einfach umkippen“ würde, ohne dass die Ursache hierfür bekannt wäre, sei nur im Rahmen der Anamnese festgestellt worden und sei nicht Grundlage der Gutachtensentscheidung gewesen. Sie sei auch bei der Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis außer Betracht geblieben. Eine weitergehende Überprüfung und Bewertung, ob die geschilderten Ausfälle Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Verkehrsteilnahme hätten, könne nur bei einem behördlich erweiterten, neuen Untersuchungsauftrag mit entsprechend angepasster Fragestellung erfolgen (siehe Seite 25 des Gutachtens). Das Gutachten komme weiter zu dem Ergebnis, dass eine Kompensation im Rahmen der Leistungsfähigkeit wegen der Kumulation der Mängel, die bei der Antragstellerin vorlägen, ausgeschlossen sei (Seite 24 des Gutachtens). Die Tatsache, dass die Antragstellerin am 10. September und 23. Dezember zwei Verkehrsunfälle verursacht habe, begründeten lediglich Zweifel an der Fahrtüchtigkeit. Erst das Ergebnis des Gutachtens habe zur Annahme der Fahruntüchtigkeit geführt. Die mangelnde Krankheitseinsicht der Antragstellerin werde im Gutachten ausführlich begründet. Hierzu werde Folgendes ausgeführt: „Es gab bei der Untersuchung mehrere Hinweise auf eine mangelnde Krankheitseinsicht. Zum Beispiel Frau … Annahme, sie werde nie wieder einen Unfall verursachen, obwohl sie während der gleichen Untersuchung erzählt hat, dass sie kein Gefühl mehr in den Füßen hat und die Pedale im Auto nicht spürt. Auch die Aussage, es sei bei ihr „alles einwandfrei“ passt nicht zu den bekannten Diagnosen. Frau … wusste nicht weswegen sie Tramadolor, ein Opioid und starkes Schmerzmedikament, nimmt, obwohl sie es laut den vorliegenden auswärtigen Befunden erst irgendwann zwischen dem 9. Oktober 2015 und 9. März 2016 verschrieben bekommen hat. Auch wusste Frau … nicht, dass sie Nephropathie hat. Ihr Blutzuckermessgerät hatte Frau … nicht dabei, obwohl insulinpflichtige Diabetiker dieses zum Blutzucker messen generell immer dabei haben sollten. Die Kompetenz im Umgang mit der Erkrankung sowie das Verantwortungsbewusstsein der Diabetespatienten sind wesentliche Grundlagen für die Fahreignung. Der Schulung kommt daher besondere Bedeutung zu. Ungünstig ist, dass Frau … seit fünf oder sechs Jahren keine Schulung bekommen hat, obwohl sie erst seit 2013 Insulin spritzte.“.
Die erst nach der Gutachtenserstellung mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 19. August 2016 vorgelegte ärztliche Bescheinigung (mit Blutbild) des Hausarztes Dr. med. … vom 17. August 2016 hätte – wegen der Kumulation der Mängel – nicht zu einer anderen Entscheidung führen können. Die Notwendigkeit, ein neues Gutachten zu erstellen, habe daher nicht bestanden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist nach § 122 Abs. 1, § 88 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dahingehend auszulegen, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ziffern 1 und 2 des Bescheids vom 30. August 2016 nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 5 Satz 1 2. Alternative VwGO wiederherzustellen ist, da die Fahrerlaubnisbehörde die sofortige Vollziehung der in den Ziffern 1 und 2 getroffenen Verfügungen in Ziffer 4 des Bescheids angeordnet hat. Hinsichtlich der bereits kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Ziffer 3 des Bescheids (Zwangsgeldandrohung, vgl. Art. 21a des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes/BayVwZVG) ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 1. Alternative VwGO nicht gewollt war. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Antragstellerin im Antrag vom 28. September 2016 nur die sofortige Vollziehbarkeit des Bescheids vom 30. August 2016 hinsichtlich der „Einziehung des Führerscheins“ angreift und zum anderen daraus, dass die Antragstellerin ihren Führerschein bereits am 7. Oktober 2016 bei der Fahrerlaubnisbehörde der Stadt … abgegeben hat. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Zwangsgeldandrohung würde damit ins Leere gehen.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
1. Die Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Entzugs des Führerscheins, die im Bescheid gegeben wird, entspricht den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 VwGO. Danach hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalles darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommen, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. Die Antragsgegnerin hat im streitgegenständlichen Bescheid dargelegt, warum die Antragstellerin als nicht geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr angesehen wird. Das besondere öffentliche Interesse, die Teilnahme der Antragstellerin am Straßenverkehr sofort zu unterbinden und die Bestandskraft des Bescheids nicht abzuwarten, wird mit den nicht ausgeräumten Eignungszweifeln und der damit einhergehenden Gefährdung des Straßenverkehrs begründet. Dieses öffentliche Interesse wurde mit den persönlichen Interessen der Antragstellerin abgewogen, was den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügt. Im Bereich des Sicherheitsrechts, zu dem auch das Fahrerlaubnisrecht gehört, kann sich die Behörde zur Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung darauf beschränken, die für diese Fallgruppen typische Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass diese Interessenlage auch im konkreten Fall vorliegt. Der Umstand, dass die im streitgegenständlichen Bescheid angesprochenen Gesichtspunkte auch in einer Vielzahl anderer Verfahren zur Rechtfertigung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit verwendet werden können, führt deshalb nicht zu einem Verstoß gegen § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (std.Rspr., vgl. z. B. BayVGH, B.v. 24.8.2010 – 11 CS 10.1139 – juris; B.v. 10.3.2008 – 11 CS 07.3453 – juris).
2. Bei der Entscheidung über den Antrag, die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen bzw. anzuordnen, hat das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen. Im Rahmen dieser Entscheidung ist das Interesse der Antragstellerin, zumindest vorläufig weiter von ihrer Fahrerlaubnis Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird, abzuwägen. Ausschlaggebend im Rahmen dieser Abwägungsentscheidung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet oder wiederhergestellt werden soll, hier also der Klage vom 28. September 2016. Lässt sich schon bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und die Betroffene in ihren Rechten verletzt, so dass die Klage mit Sicherheit Erfolg haben wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsakts bestehen. Andererseits ist für eine Interessenabwägung, die zugunsten der Antragstellerin ausgeht, im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen.
Diese Interessenabwägung führt hier zum Überwiegen der öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des streitgegenständlichen Bescheids, da die Klage der Antragstellerin mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben wird; der angefochtene Bescheid ist nach der im Eilverfahren ausreichenden aber auch erforderlichen summarischen Prüfung rechtmäßig.
Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Fahrerlaubnisentziehung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (st. Rspr., vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3/13 – DAR 2014, 711, juris). Damit ist hier auf die Zustellung des Bescheids vom 30. August 2016 – dies war der 1. September 2016 – abzustellen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Juni 2015 (BGBl S. 904) und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 18. Oktober 2015 (BGBl S. 1674), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis – ohne Ermessensspielraum – zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel u. a. nach der Anlage 4 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
Nach dem fachärztlichen Gutachten vom 15. Juli 2006 erweist sich die Antragstellerin als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Demnach leidet sie an Diabetes mellitus bei medikamentöser Therapie (Insulin) mit hohem Hypoglykämierisiko und nicht ausreichender Hypglykämiewahrnehmung (Ziffer 5.4 der Anlage 4 zur FeV) sowie an einer schweren Form von diabetischer Polyneuropathie (Ziffer 6.2 der Anlage 4 zur FeV), wobei beide Erkrankungen für sich genommen die Fahreignung ausschließen. Hinzu kommt eine Dauerbehandlung mit den verkehrsmedizinisch relevanten Arzneimitteln Tramadolor, Rampiril, Gabapentin, Metformin, Pramipexol und Sifrol, welche ebenfalls die Kraftfahreignung der Antragstellerin ausschließt (Ziffer 9.6 der Anlage 4 zur FeV).
Die Frage der Rechtmäßigkeit der Gutachtensanforderung bedarf vorliegend keiner Vertiefung, weil eine medizinische Fahrtauglichkeitsbegutachtung tatsächlich erfolgt ist und dem eingeholten Gutachten eine selbstständige Bedeutung zukommt. Das Gutachten stellt eine neue Tatsache dar, die auch im Interesse der Allgemeinheit, vor Kraftfahrern geschützt zu werden, die sich aufgrund festgestellter Tatsachen als ungeeignet erwiesen haben, ohne weiteres verwertet werden kann (BVerwG vom 18.3.1982, BVerwGE 65, 157/163; BVerwG vom 19.3.1996, DÖV 1996, 879).
Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass die Beklagte zu Unrecht auf „anfallsartig auftretende Störungen mit akuter Beeinträchtigung des Bewusstseins mit ungeklärter Ursache“, die zuletzt im September 2015 und zuvor im Frühjahr 2015 auftraten, abgestellt habe, vermag dies nicht zu überzeugen. Diese Vorfälle weisen keine maßgebliche Relevanz für das Ergebnis der fachärztlichen Begutachtung auf, da sie mangels Anlass im streitgegenständlichen Gutachten nicht untersucht wurden. Eine weitergehende Überprüfung und Bewertung, ob diese erst im Rahmen der Untersuchung durch die Antragstellerin selbst vorgetragenen verkehrsmedizinisch relevanten Tatsachen Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Verkehrsteilnahme haben, könnte nur bei einem behördlich erweiterten, neuen Untersuchungsauftrag mit entsprechend angepasster Fragestellung erfolgen.
Weiter wendet die Antragstellerin ein, weder im Entziehungsbescheid noch im …-Gutachten sei nachvollziehbar dargelegt, warum keine ausreichende Krankheitseinsicht vorliege. Auf den Seiten 22 und 23 des …-Gutachtens vom 15. Juli 2016 wird jedoch ausführlich erläutert, warum der Antragstellerin die notwendige Adhärenz für einen verantwortungsvollen Umgang mit ihren Erkrankungen im Straßenverkehr fehlt. So geht die Antragstellerin davon aus, dass sie keine weiteren Unfälle verursachen werde, während sie im gleichen Gespräch wiedergibt, dass sie mangels Gefühl in den Füßen die Pedale nicht spüren könne. Weiter ist ihr nicht bewusst, dass sie an Nephropathie leidet. Sie führte ihr Blutzuckermessgerät nicht mit sich und hat seit fünf oder sechs Jahren keine Schulung für insulinpflichtige Diabetiker hinsichtlich der Regulierung des Blutzuckerspiegels erhalten.
Schließlich liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die in der Klageschrift bezeichneten ärztlichen Unterlagen (Arztbericht von Dr. med. … vom 9.3.2016, Arztbericht von Dr. med. … vom 11.3.2016, Arztbericht von Dr. med. … vom 17.62016) keine Berücksichtigung im fachärztlichen Gutachten der … vom 15. Juli 2016 gefunden hätten. Die Befunde wurden berücksichtigt und bewertet (vgl. Seite 4 des Gutachtens). Die erst nach der Gutachtenserstellung mit Schreiben vom 19. August 2016 vorgelegte ärztliche Bescheinigung mit Blutbild des Dr. med. … musste die Behörde aufgrund der kumulativen vorliegenden Fahreignungsmängel nicht zu einer erneuten Gutachtenserstellung veranlassen. Auch die weiteren von der Antragstellerin angeführten Gesichtspunkte führen zu keiner anderen Bewertung der Rechtslage.
Die Verpflichtung, den Führerschein abzuliefern, ergibt sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV, wonach auch im Falle einer sofort vollziehbaren Fahrerlaubnisentziehung die Verpflichtung besteht, den Besitz der Fahrerlaubnis als dokumentierenden Ausweis abzugeben.
3. Die von den Erfolgsaussichten der Hauptsache unabhängige umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen führt hier zu dem Ergebnis, dass dem öffentliche Interesse daran, die Teilnahme der Antragstellerin am Straßenverkehr weiterhin zu unterbinden, ein größeres Gewicht einzuräumen ist, als dem Interesse der Antragstellerin, einstweilen weiter am Straßenverkehr teilnehmen zu dürfen. In aller Regel trägt allein die voraussichtliche Rechtmäßigkeit eines auf den Verlust der Kraftfahreignung gestützten Entziehungsbescheids die Aufrechterhaltung der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Zwar kann die Fahrerlaubnisentziehung die persönliche Lebensführung und damit die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten des Erlaubnisinhabers gravierend beeinflussen. Derartige Folgen, die im Einzelfall bis zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage reichen können, muss der Betroffene jedoch angesichts des von fahrungeeigneten Verkehrsteilnehmern ausgehenden besonderen Risikos für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableitbaren Auftrags zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben hinnehmen.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG sowie den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.2, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedr. in Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, Anhang zu § 164 Rn. 14). Der sich damit ergebende Streitwert von 12.500,00 EUR ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu halbieren.


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