Medizinrecht

Fahrerlaubnisentziehung nach Facharztgutachten bei Diabetes mellitus

Aktenzeichen  M 26 S 17.125

Datum:
30.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV FeV § 11 Abs. 2 S. 3 Nr. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Es ist fraglich und erst im Hauptsacheverfahren zu klären, ob der Kreis der Ärzte, die ein Verfahrensbeteiligter mit der verkehrsmediszinischen Begutachtung betrauen darf, entsprechend der Rechtsprechung des Bayerischen VGH auf die in § 11 Abs. 2 S. 3 Nr. 2, 4 und 5 FeV aufgeführten Ärzte des offenen Gesundheitsdienstes, auf Ärzte mit der Gebietsbezeichnung “Facharzt für Rechtsmedizin” und auf Ärzte in Begutachtungsstellen für Fahreignung, die die Anforderungen der Anlage 14 zur FeV erfüllen, beschränkt ist oder sich auch auf die in § 11 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 FeV gerade ausdrücklich ebenfalls als Gutachter zugelassenen Fachärzte mit verkehrsmedizinischer Qualifikation erstreckt. (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Rahmen der sogenannten reinen Interessenabwägung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO überwiegt das private Suspensivinteresse, wenn bei einer Erkrankung an Diabetes mellitus Typ II das bereits vorgelegte Gutachten einer Internistin in einer diabetologischen Schwerpunktpraxis mit verkehrsmedizinischer Qualifikation nachvollziehbar und nachprüfbar deutlich macht, dass keine Bedenken gegen die Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr bestehen, weil der HbA1c-Wert nach einer kontinuierlichen Entwicklung den Bereich von 7% erreicht hat. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 22. Dezember 2016 wird wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 8.750 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die für sofort vollziehbar erklärte Entziehung seiner Fahrerlaubnis unter anderem der Klassen A, B und C.
Der Antragsteller leidet unter Diabetes mellitus Typ II. Mit Schreiben vom … Oktober 2015 forderte ihn die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorlage eines Gutachtens eines Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation und mit der Gebietsbezeichnung „Innere Medizin“ oder „Diabetologie“ auf. Die Fragestellung lautete: „Sind Sie trotz Vorliegens einer Erkrankung (Diabetes mellitus), die nach der Nr. 5 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung infrage stellt, in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen A, A2, A1, AM, B, BE, C1, C1E, C, CE, T und L (Gruppe 1 und 2) gerecht zu werden? Liegt eine ausreichende Adhärenz (Compliance; z.B. Krankheitseinsichtigkeit, regelmäßige/überwachte Medikamenteneinnahme, usw.) vor? Sind Nachuntersuchungen bzw. ist eine Nachuntersuchung erforderlich? Wenn ja, in welchen zeitlichen Abständen?“
Der Antragsteller legte ein Gutachten vom … Mai 2016, erstellt von Frau Dr. A …, einer Internistin mit verkehrsmedizinischer Qualifikation und diabetologischer Schwerpunktpraxis, vor. Danach bestehe beim Antragsteller eine tablettenpflichtige Diabetes mellitus Typ II, der noch nicht vollständig kompensiert sei. Durch die verschlechterte Einstellung liege eine beginnende diabetische Nephropathie vor, die derzeit ohne Einwirkung auf die Fahreignung sei. Eine diabetische Retinopathie liege nicht vor. Der Antragsteller werde mit Medikamenten behandelt, die keine Unterzuckerung hervorrufen würden. Er habe an einer strukturierten Diabetesschulung teilgenommen. Der angestrebte HbA1c-Wert solle um 7% liegen. Empfohlen werde die halbjährliche Vorlage eines HbA1c-Wertes. Eine Nachuntersuchung solle in drei Jahren erfolgen. Aufgrund der vorgelegten Befunde sowie der selbst erhobenen Untersuchung sei der Antragsteller bereits jetzt geeignet, Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 und 2 zu führen.
Auf Aufforderung der Fahrerlaubnisbehörde hin gab die Gutachterin am … August 2016 eine ergänzende Stellungnahme ab, nach der u.a. der HbA1c-Wert nunmehr bei 7,8%, also fast im Zielbereich, liege.
Mit Schreiben vom … August 2016 forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller erneut zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens, diesmal erstellt von einem Arzt in einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung, auf. Die Fragestellung entsprach im Wesentlichen der Fragestellung in der Beibringungsaufforderung vom … Oktober 2015. Dieser Aufforderung kam der Antragsteller nicht nach. Mit Bescheid vom 22. Dezember 2016 entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller die Fahrerlaubnis, verpflichtete ihn zur sofortigen Ablieferung des Führerscheins und ordnete insoweit jeweils die sofortige Vollziehbarkeit an.
Am … Januar 2017 erhob der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten Klage und beantragte gleichzeitig im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 22. Dezember 2016 wiederherzustellen.
Zur Begründung trägt der Bevollmächtigte im Wesentlichen vor, ausweislich einer ärztlichen Bescheinigung von Frau Dr. A … vom … September 2016 weise der Antragsteller nunmehr einen HbA1c-Wert von 7,0% auf. Vor diesem Hintergrund sei er fahrgeeignet. Außerdem sei der Antragsteller A* …, so dass die Entziehung der Fahrerlaubnis existenzbedrohend sei.
Der Antragsgegner verteidigt den angegriffenen Bescheid.
Mit Beschluss vom 30. Januar 2017 wurde die Verwaltungsstreitsache auf den Einzelrichter übertragen.
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet. Im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO nimmt das Gericht eine eigene Interessenabwägung vor, die sich in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert, soweit diese bereits überschaubar sind.
Die Fahrerlaubnisbehörde hat die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn der Betroffene ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV). Das gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 – 14 FeV entsprechende Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Unstreitig ist der Antragsteller an Diabetes mellitus Typ II erkrankt. Nach näherer Maßgabe der Nr. 5 der Anlage 4 zur FeV kann diese Erkrankung zur Fahrungeeignetheit führen. Für die Durchführung der ärztlichen und der medizinisch-psychologischen Untersuchung sowie für die Erstellung der entsprechenden Gutachten gelten die in der Anlage 4a zur FeV genannten Grundsätze (§ 11 Abs. 5 FeV). Bei der Aufforderung zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens handelt sich um einen Gefahrerforschungseingriff, der nur dann zulässig ist, wenn die Fahreignung des Betroffenen durch die Behörde nicht bereits aufgrund der vorhandenen Tatsachengrundlage beurteilt werden kann. Nicht nur dann, wenn die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde feststeht, unterbleibt die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens (vgl. § 11 Abs. 7 FeV). Gleiches gilt umgekehrt auch, wenn die Fahreignung keinen Bedenken begegnet.
Der Antragsgegner hat im hier zu entscheidenden Fall das Gutachten vom … Mai 2016 einschließlich der Ergänzung vom … August 2016 für nicht ausreichend gehalten, um die Fahreignung des Antragstellers hinreichend beurteilen zu können. Tatsächlich begegnet das Gutachten insoweit Bedenken, als es möglicherweise nicht ausreichend zwischen der Vorgeschichte und dem gegenwärtigen Befund unterscheidet (Nr. 2 Buchst. a der Anlage 4a zur FeV) und die Gutachterin in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom … August 2016 einräumt, die dezidierte Fragestellung habe ihr nicht vorgelegen. In der Zusammenschau zwischen Gutachten selbst und der ergänzenden Stellungnahme werden die gestellten Fragen allerdings sämtlich jedenfalls im Kontext beantwortet. Dass das Gutachten sehr knapp gehalten ist, ist aufgrund der von der Gutachterin angenommenen eindeutigen Befundlage nicht unbedingt schädlich (Nr. 2 Buchst. b Satz 2 der Anlage 4a zur FeV). Problematisch erscheint jedoch vor allem die Frage der ausreichenden Qualifikation der Gutachterin. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beschränkt in seiner Rechtsprechung (B.v. 7.12.2006 – 11 CS 06.1350 – VRR 2007, 123; B.v. 29.11.2012 – 11 CS 12.2276; vgl. auch NK-GVR, § 11 FeV, Rn. 79) den Kreis der Ärzte, die ein Verfahrensbeteiligter mit der verkehrsmedizinischen Begutachtung betrauen darf, auf Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 FeV), auf Ärzte mit der Gebietsbezeichnung „Facharzt für Rechtsmedizin“ (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 4 FeV) und auf Ärzte in Begutachtungsstellen für Fahreignung, die die Anforderung der Anlage 14 zur FeV erfüllen (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV). Andererseits wird ein einschlägiger Facharzt mit verkehrsmedizinischer Qualifikation vom Gesetz gerade ausdrücklich ebenfalls als Gutachter zugelassen (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV; in diese Richtung wohl auch BayVGH, B.v. 2.3.2012 – 11 ZB 11.3025). Jedenfalls im Verfahren zur Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes muss diese Frage aber offen bleiben. Vor diesem Hintergrund bestehen offenen Hauptsacheerfolgsaussichten. Denn wenn das vorgelegte Gutachten unter Einschluss der ergänzenden Stellungnahme tatsächlich geeignet sein sollte, die Fahreignung des Antragstellers abschließend zu beurteilen, hätte die Beibringungsaufforderung vom … August 2016 nicht ergehen dürfen, so dass auch der Schluss auf die fehlende Fahreignung des Antragstellers (§ 11 Abs. 8 FeV) nicht gerechtfertigt wäre.
Die Verwaltungsstreitsache ist daher anhand einer sogenannten reinen Interessenabwägung zu entscheiden, bei der das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Hauptsacherechtsbehelfs gegenüber dem öffentlichen Interesse am sofortigen Ausschluss ungeeigneter Kraftfahrzeugführer vom Straßenverkehr abgewogen werden muss. Das vom Antragsteller bereits vorgelegte Gutachten einschließlich der ergänzenden Stellungnahme hierzu macht in ausreichend nachvollziehbarer und nachprüfbarer Weise deutlich, dass im Fall des Antragstellers und in vergleichbaren Fällen jedenfalls dann keine Bedenken gegen die Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr bestehen, wenn der HbA1c-Wert sich im Bereich von 7% bewegt. Ausweislich der von der Gutachterin erstellten Bescheinigung vom … September 2016 hat der Antragsteller mittlerweile einen HbA1c-Wert von 7,0% erreicht. Dabei handelt es sich auch nicht um eine bloße Momentaufnahme, sondern um eine kontinuierliche Entwicklung, nachdem nach den in den Akten vorhandenen ärztlichen Unterlagen der HbA1c-Wert am … April 2016 8,9% und am … August 2016 7,8% betrug. Bei der Gutachterin handelt es sich um eine Internistin in einer diabetologischen Schwerpunktpraxis mit verkehrsmedizinischer Qualifikation, so dass das Gericht jedenfalls im Rahmen einer reinen Interessenabwägung auch unter Würdigung der oben dargestellten formalen Bedenken die geäußerte Fachmeinung als ausreichend ansieht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung rechtfertigt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5, 46.1, 46.3 und 46.4 des Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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