Medizinrecht

Gesamtgepräge einer gemischten Veranstaltung

Aktenzeichen  Au 8 K 20.1179

Datum:
6.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32432
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 8
BayVersG Art. 2, Art. 13, Art. 15

 

Leitsatz

Die Einordnung einer Veranstaltung nach ihrem Gesamtgepräge als Versammlung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Teilnehmer bei längerer Dauer schlafen oder stationäre Einrichtungen verwandt werden.  (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 10. Juli 2020 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte nach § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten hierauf übereinstimmend verzichtet haben.
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Der feststellende Bescheid der Beklagten findet seine Rechtsgrundlage in Art. 13 und 15 BayVersG. Zwar ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschriften nicht ausdrücklich, dass die Versammlungsbehörde zum Erlass eines feststellenden Verwaltungsaktes des in Rede stehenden Inhalts ermächtigt ist. Sinn und Zweck des Anmeldeerfordernisses nach Art. 13 BayVersG und der Eingriffsermächtigung nach Art. 15 BayVersG verschaffen der Behörde aber die Befugnis zu prüfen, ob sich die angemeldete Veranstaltung überhaupt als Versammlung darstellt. Hieraus erwächst die Ermächtigung der Versammlungsbehörde, über die Versammlungseigenschaft durch feststellenden Verwaltungsakt verbindlich zu entscheiden (vgl. zum Ganzen OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 2.5.2006 – OVG 1 B 4.05 – juris Rn. 16 ff.).
2. Die getroffene Feststellung, die Veranstaltung des Klägers sei keine Versammlung (mehr), trifft nicht zu.
Versammlungen im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG sind örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfG, B.v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93, 1 BvR 433/96 – juris Rn. 41; BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 6 C 23/06 – juris Rn. 15). Enthält eine Veranstaltung sowohl Elemente, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind, so ist entscheidend, ob die Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung darstellt (vgl. BayVGH, U.v. 22.9.2015 – 10 B 14.2246 – juris Rn. 46). Bleiben insoweit Zweifel, so bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung behandelt wird (vgl. BVerfG, B.v. 12.7.2001 – 1 BvQ 28/01, 1 BvQ 30/01 – juris Rn. 29; BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 6 C 23/06 – juris Rn. 16). Weitgehend übereinstimmend mit diesen Grundsätzen definiert Art. 2 Abs. 1 BayVersG Versammlungen im Sinne des Bayerischen Versammlungsgesetzes als Zusammenkünfte von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Dies zugrundgelegt, stellt sich die vom Kläger angezeigte Veranstaltung nach ihrem Gesamtgepräge als Versammlung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 BayVersG dar. Denn sie ist überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet. Bei der Frage, welches Gesamtgepräge einer Veranstaltung zukommt, ist zwar zu berücksichtigen, dass die Veranstalter einer Versammlung berechtigt sind, selbst darüber zu bestimmen, was sie zum Gegenstand öffentlicher Meinungsbildung machen und welcher Formen der kommunikativen Einwirkung sie sich bedienen wollen. Die rechtliche Einordnung dieses Verhaltens als Versammlung steht aber den dazu berufenen Gerichten zu (BVerfG, B.v. 12.7.2001 – 1 BvQ 28/01, 1 BvQ 30/01 – juris Rn. 30).
Zweck der vorliegenden Veranstaltung in Form eines Protest… ist es nach der Zielrichtung des Klägers, die Öffentlichkeit auf die derzeitige klimapolitische Situation in Deutschland aufmerksam zu machen und dadurch auf eine Verbesserung dieser Situation hinzuwirken. Der Einwand der Beklagten, der Zweck der Versammlung sei mit der Verabschiedung des Kohleausstiegsgesetzes am 3. Juli 2020 entfallen, geht fehl. Die Veranstaltung wurde zum Thema „Klimagerechtigkeit“ angezeigt. Dass dieser vom Veranstalter verfolgte Zweck inzwischen weggefallen wäre, ist nicht erkennbar.
Ist damit die vom Kläger angezeigte Veranstaltung aber auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet, so steht ihrer Einordnung als Versammlung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 BayVersG nicht entgegen, dass in ihrem Rahmen auch Aktionen und Workshops angeboten werden, die nicht unmittelbar mit dem Versammlungsthema „Klimagerechtigkeit“ in Zusammenhang stehen. Denn ungeachtet dessen – und unabhängig von anderen, nicht am …markt stattfindenden Versammlungen – ist das „…“ zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts für sich genommen auf die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung gerichtet. Dies kommt vorliegend schon durch die dauerhafte Präsenz der Veranstaltungsteilnehmer am Veranstaltungsort unter Verwendung von Transparenten zum Thema „Klimagerechtigkeit“ zum Ausdruck. Soweit aus der von der Beklagten vorgelegten polizeilichen „Dokumentation …“ für den 27. Juli 2020, 9:52 Uhr, die Notiz „keine sichtbaren Personen im … – vermutlich alle noch am schlafen“ bzw. für den 13. September 2020, 0:35 Uhr, die Notiz „Keine Personen im … feststellbar“ hervorgeht, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Durch diese Momentaufnahmen steht nicht fest, dass tatsächlich – ggf. auch in Zelten – keinerlei Versammlungsteilnehmer anwesend waren. Das Ruhen oder Schlafen der einzelnen Versammlungsteilnehmer, das bei auf die Dauer angelegten Versammlungen wie dem vorliegenden „…“ zwangsläufig notwendig wird, lässt aber den Schutz des Art. 8 GG nicht entfallen. Auch derartige „Ruhepausen“ werden von Art. 8 GG geschützt, um eine effektive Kundgabe des Anliegens der Versammlungsteilnehmer zu gewährleisten (BayVGH, B.v. 12.4.2012 – 10 CS 12.767 – juris Rn. 12). Des Weiteren finden nach dem Vortrag des Klägers Aktionen wie Sprechchöre und Reden zum Versammlungsthema, Umfragen der Bevölkerung und Vorträge u.a. zum Thema „…“ am Veranstaltungsort statt. Entgegen der Auffassung der Beklagten fällt auch das dauerhafte Kampieren auf einem öffentlichen Platz im vorliegenden Fall unter den Schutzbereich des Art. 8 GG, da der inhaltliche Bezug zum Versammlungsthema gegeben ist. Auch das Verwenden von stationären Einrichtungen wie Pavillons, Sofas, Tischen, Stühlen, Autoreifen und Schränken lässt die Versammlungseigenschaft des „…“ daher nicht entfallen. Eine Bewertung der Eignung oder der Sinnhaftigkeit einer Versammlung sowie der in ihrem Rahmen geplanten versammlungsspezifischen Aktionen und Ausdrucksformen im Hinblick auf den jeweils bezweckten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung steht der Beklagten als grundrechtsgebundener staatlicher Stelle demgegenüber nicht zu (BVerfG, B.v. 21.9.2020 – 1 BvR 2152/20 – juris Rn. 17). Ihre Ausführungen, dass für eine Versammlung in Abgrenzung zur Vereinigung i.S.d. Art. 9 GG das „Merkmal der kürzeren Dauer“ vorliegen müsse, gehen fehl. Für eine Versammlung bestehen keine zeitlichen Mindest- oder Höchstgrenzen. Eine Versammlung kann sowohl „das nur Sekunden währende Herzeigen eines Transparents wie auch die monatelange Mahnwache“ (Depenheuer in Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 8 Rn. 74) sein (vgl. zur Dauerversammlung in Form eines „…“ auch OVG NRW, B.v. 16.6.2020 – 15 A 3138/18 – juris). Das „…“ stellt des Weiteren keine Vereinigung i.S.d. Art. 9 GG dar, denn es fehlt offensichtlich schon an einem Zusammenschluss der Veranstaltungsteilnehmer. Deren bloßes Zusammenwirken ohne den Willen zu einer auch äußerlichen Verbindung ist nicht ausreichend (Scholz in Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rn. 58).
Da das „…“ daher in seinem Gesamtgepräge als Versammlung zu werten ist, erweist sich der Bescheid der Beklagten als rechtswidrig.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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