Medizinrecht

Gewährung rechtlichen Gehörs – Terminsaufhebung aufgrund eines krankheitsbedingten Verlegungsantrags

Aktenzeichen  11 ZB 20.30297

Datum:
6.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2717
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 S. 4
ZPO § 227 Abs. 1, Abs. 2
FGO § 91
VwGO § 173

 

Leitsatz

1. Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung in der mündlichen Verhandlung infolge einer kurzfristigen, überraschenden Erkrankung eines als Einzelanwalt tätigen Prozessbevollmächtigten mit daraus folgender Unzumutbarkeit des Erscheinens oder des Verhandelns ist in der Regel ein erheblicher Grund i. S. d. § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO für eine Terminsänderung, wenn die Erkrankung so schwer ist, dass ein Erscheinen zum Termin nicht erwartet werden kann. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem verhinderten Beteiligten obliegt es, die Hinderungsgründe, auf die er sich berufen will, möglichst noch vor dem Termin schlüssig und substantiiert darzulegen, so dass das Gericht in die Lage versetzt wird, das Vorliegen eines erheblichen Grundes zu beurteilen und ggf. eine Ergänzung des Vortrags und (weitere) Glaubhaftmachung gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO zu verlangen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 4 K 17.35246 2019-12-13 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Berufung wird zugelassen.
II. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens bleibt der Entscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.
Die Berufung ist zuzulassen, weil die Verhandlung und Entscheidung über die Klage in Abwesenheit der durch eine Erkrankung verhinderten Prozessbevollmächtigten den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO).
Die Kläger tragen vor, ihre Prozessbevollmächtigte habe am Vortag der mündlichen Verhandlung spät nachmittags akute Magen-Darm-Beschwerden bekommen, die sie aufgrund der Intensität und des Fiebers veranlasst hätten, einen Arzt aufzusuchen. Dieser habe nach einer Untersuchung eine Behandlung verordnet, die ihren Zustand aber bis zum nächsten Tag nicht wesentlich verbessert habe. Daher habe sie beim Verwaltungsgericht Ansbach vor der mündlichen Verhandlung per Telefax einen Verlegungsantrag gestellt und auf der Geschäftsstelle telefonisch nachgefragt, ob dem Antrag entsprochen werde. Dabei habe sie erwähnt, dass sie die Kläger über ihre Erkrankung informiert habe. Das Verwaltungsgericht habe keinen erheblichen Grund für eine Vertagung gesehen, ohne darauf hinzuweisen, dass weitere Informationen benötigt würden. Der Prozessbevollmächtigten sei nicht bekannt, dass der attestierende Arzt durch andere gleich formulierte Atteste aufgefallen sei. Es habe sich nicht um ein Gefälligkeitsattest gehandelt. Wenn das Gericht eine Untersuchung bei einem Amtsarzt oder einem anderen Arzt seiner Wahl für nötig gehalten hätte, so wäre sie einer entsprechenden Aufforderung selbstverständlich gefolgt. Dies sei jedoch nicht der Fall gewesen. Es werde kein Hehl daraus gemacht, dass sie am Vormittag des 12. Dezember 2019 beim Verwaltungsgericht noch eine Verhandlung wahrgenommen und sich dabei gesund gefühlt habe. Sie habe auch danach noch in ihrer Kanzlei gearbeitet, die Arbeit jedoch wegen der plötzlich aufgetretenen starken Beschwerden abgebrochen. Sie sei zum Arzt gegangen. Ihr Lebensgefährte habe sie in die Kanzlei zurückgebracht, wo sie sich erneut habe übergeben müssen, während er die bereits erstellten und unterschriebenen Schriftstücke per Telefax versandt habe. Sie habe im vergangenen Jahr 20 bis 30 Verhandlungstermine vor dem Verwaltungsgericht Ansbach wahrgenommen und keinen einzigen krankheitsbedingten Verlegungsantrag gestellt. Auch eine – übliche – telefonische Nachfrage über den Erfolg des Verlegungsantrags spreche nicht gegen ihre Verhandlungsunfähigkeit. Bei der aufgetretenen Erkrankung gehe nicht die Fähigkeit zu sprechen verloren. Die Kläger seien der Verhandlung ferngeblieben, weil sie nicht ohne ihre Bevollmächtigte vor Gericht hätten auftreten wollen. Sie hätten einen Anspruch auf anwaltliche Vertretung. Die erstinstanzliche Entscheidung verletze ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
Nach § 173 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt werden. Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „erheblichen Gründe“ ist einerseits dem im Verwaltungsprozess geltenden Gebot der Beschleunigung des Verfahrens und der Intention des Gesetzes, die gerichtliche Entscheidung möglichst aufgrund einer einzigen mündlichen Verhandlung herbeizuführen, andererseits dem verfassungsrechtlichen Erfordernis des rechtlichen Gehörs Rechnung zu tragen (BVerwG, B.v. 25.9.2013 – 1 B 8.13 – juris Rn. 13; B.v. 28.4.2008 – 4 B 47.07 – juris Rn. 22 jeweils m.w.N.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör schließt das Recht eines Beteiligten ein, sich durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen (BVerwG, B.v. 21.12.2009 – 6 B 32.09 – juris Rn. 3; Jaspersen in BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf, Stand 1.1.2020, § 227 Rn. 7). Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung in der mündlichen Verhandlung infolge einer kurzfristigen, überraschenden Erkrankung eines als Einzelanwalt tätigen Prozessbevollmächtigten mit daraus folgender Unzumutbarkeit des Erscheinens oder des Verhandelns ist daher in der Regel ein erheblicher Grund für eine Terminsänderung (BVerwG, B.v. 20.4.2017 – 2 B 69.16 – juris Rn. 9; B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 3; BVerfG, B.v. 8.2.2001 – 2 BvR 266/99 – juris Rn. 2), wenn die Erkrankung so schwer ist, dass ein Erscheinen zum Termin nicht erwartet werden kann (vgl. BFH, B.v. 1.4.2009 – X B 78/08 – juris Rn. 5). Liegt ein solcher Grund vor, verdichtet sich angesichts des hohen Ranges des Anspruchs auf rechtliches Gehör das durch § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingeräumte Ermessen regelmäßig zu einer entsprechenden Verpflichtung des Gerichts (BVerwG, B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 3; B.v. 22.5.2001 – 8 B 69.01 – Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 30 S. 6 = juris Rn. 5).
Dem verhinderten Beteiligten obliegt es, die Hinderungsgründe, auf die er sich berufen will, möglichst noch vor dem Termin schlüssig und substantiiert darzulegen, so dass das Gericht in die Lage versetzt wird, das Vorliegen eines erheblichen Grundes zu beurteilen und ggf. eine Ergänzung des Vortrags und (weitere) Glaubhaftmachung gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO zu verlangen (BVerwG, B.v. 26.4.1999 – 5 B 49.99 – juris Rn. 3, 6; B.v. 20.6.2000 – 5 B 27.00 – juris Rn. 10; B.v. 22.5.2001 a.a.O. Rn. 5; B.v. 29.4.2004 – 1 B 203.03 – juris Rn. 4; BFH, B.v. 27.1.2010 – VIII B 221/09 – juris Rn. 6). Letztere sieht das Gesetz vor, wenn dem Gericht zweifelhaft erscheint, ob der von dem Beteiligten schlüssig behauptete Sachverhalt zutrifft (BVerwG, B.v. 20.6.2000 a.a.O.). Dabei dürfen vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Ranges der prozessualen Gewährleistung des rechtlichen Gehörs keine überzogenen Anforderungen gestellt werden (BVerwG, B.v. 20.6.2000 a.a.O.; B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 4). Im Einzelfall kann der bloße Vortrag genügen (Wendl in Beermann/Gosch, AO/FGO, Stand April 2019, § 91 FGO Rn. 86; BFH, U.v. 26.5.1992 – VII R 26/91 – BFH/NV 1993, 177 = juris Rn. 17 f.). Die Glaubhaftmachung muss zeitlich möglich und zumutbar sein (BFH, B.v. 27.1.2010 a.a.O. Rn. 8 f. m.w.N.).
Aus dem rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung am 13. Dezember 2019 um 10:40 Uhr eingegangenen Verlegungsantrag ergibt sich schlüssig, dass die Prozessbevollmächtigte der Kläger den Verhandlungstermin wegen einer akuten unvorhersehbaren Erkrankung nicht wahrnehmen und niemand sie als alleinige Sachbearbeiterin so kurzfristig vertreten konnte. Nach ihren Angaben hat sie seit dem späten Nachmittag des Vortags an akuten Magen-Damen-Beschwerden gelitten und sich nach dem Auftreten von Fieber zum Arzt begeben. Bis zur Verhandlung sei noch keine wesentliche Besserung eingetreten. Zur Untermauerung ihres Vorbringens hat sie ein Attest eines Allgemeinmediziners vom 12. Dezember 2019 vorgelegt, wonach sie aufgrund eines fieberhaften Infektes mit Gastroenteritis vom 13. bis 16. Dezember 2019 verhandlungsunfähig sei. Auf die ärztliche Behauptung, die Prozessbevollmächtigte sei verhandlungsunfähig, kam es hier nicht entscheidend an, da sich aus der Art der angegebenen Erkrankung ergab, dass die Prozessbevollmächtigte nicht verhandlungsfähig sein würde (ebenso BFH, B.v. 10.3.2005 – IX B 171/03 – juris Rn. 8). Es kann als allgemein bekannt gelten, dass Gastroenteritis innerhalb weniger Stunden auftreten kann und in aller Regel mit Erbrechen und/oder Durchfall einhergeht (vgl. Wikipedia, MSD Manual, RKI-Ratgeber für Ärzte, jeweils veröffentlicht im Internet). Derartige Symptome machen eine Anreise vom Kanzleiort zum Gerichtssitz und eine mündliche Verhandlung unzumutbar, auch wenn der Betroffene noch in der Lage ist, Telefaxe zu versenden oder zu telefonieren. Auch ist im Allgemeinen glaubhaft, dass eine derartige Erkrankung bis zum nächsten Vormittag noch nicht hinreichend abgeklungen ist.
Die Ablehnung des Verlegungsantrags ist auch nicht im Hinblick auf eine fehlende Nachvollziehbarkeit der Diagnose gerechtfertigt. Denn nach § 227 Abs. 2 ZPO sind die erheblichen Gründe erst auf Verlangen des Vorsitzenden bzw. des Gerichts glaubhaft zu machen. Eine entsprechende richterliche Aufforderung lässt sich den Akten jedoch ebenso wenig entnehmen wie die Aufforderung, den Vortrag zur Reise- und Verhandlungsunfähigkeit zu ergänzen. Auch aus der Ladung zur mündlichen Verhandlung ging nicht hervor, dass ein eventueller Hinderungsgrund sofort glaubhaft zu machen sei. Von Gesetzes wegen ist zunächst ein schlüssiger Vortrag gefordert (BVerwG, B.v. 20.6.2000 a.a.O. Rn 10; vgl. auch BFH, B.v. 27.1.2010 a.a.O. juris Rn. 4; OVG LSA, B.v. 31.1.2017 – 2 L 34/16 – juris Rn. 6 ff.), wobei bei kurzfristigen Erkrankungen ggf. strenge(re) Anforderungen an den Vortrag gestellt werden können (vgl. BFH, B.v. 10.3.2005 – IX B 171/03 – juris Rn. 4; BSG, B.v. 13.8.2015 – B 9 V 13/15 B – juris Rn. 15; LSG Nds-Bremen, U.v. 15.6.2016 – L 2 R 287/14 – juris Rn. 23). Da es keine Anzeichen dafür gab, dass der Gerichtstermin hinausgezögert werden sollte oder dass eine Erkrankung in Wahrheit nicht vorlag (vgl. BVerwG, B.v. 26.1.2016 – 2 B 34.14 u.a. – juris Rn. 21), hätte jedenfalls ein hinreichender tatsächlicher Anlass bestanden, ggf. telefonisch bei der Prozessbevollmächtigten von Amts wegen weitere für erforderlich gehaltene Ermittlungen zur Schwere der Krankheitssymptome anzustellen bzw. sie zur Ergänzung ihres Vortrags aufzufordern (vgl. BVerwG, B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 6; BFH, B.v. 27.1.2010 a.a.O. Rn. 5 m.w.N. und B.v. 1.4.2009 – X B 78/08 – juris Rn. 5).
Der Gehörsverstoß ist auch ohne Darlegung dessen, was die Kläger bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätten, hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG), da sie sich in der mündlichen Verhandlung zu dem gesamten Verfahrensstoff nicht äußern konnten, so dass sich nachträglich nicht feststellen lässt, wie die mündliche Verhandlung im Fall der Anwesenheit der Prozessbevollmächtigten verlaufen wäre (vgl. Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 223; BVerwG, B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 2; OVG NW, B.v. 13.7.2018 – 9 A 1980/17.A – juris Rn. 2 jeweils m.w.N.). Damit sind sie objektiv nicht in der Lage, Ausführungen darüber zu machen, was sie noch vorgetragen hätten (BVerwG, a.a.O.).


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