Medizinrecht

Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs im Rahmen eines Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz

Aktenzeichen  S 16 AS 760/16 ER

Datum:
19.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2-4, Abs. 3a Nr. 1, § 9 Abs. 1
SGG SGG § 77, § 84, § 86b Abs. 2 S. 2, S. 4
ZPO ZPO § 294, § 920 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs im Rahmen eines Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz im Anwendungsbereich des SGB II kann auch auf die Umstände aus dem vorangegangenen Bewilligungszeitraum zurückgegriffen werden. Dies jedenfalls dann, wenn die mündliche Verhandlung mit Beweisaufnahme bezüglich des vorangehenden Zeitraumes weniger als zwei Monate zurückliegt. (amtlicher Leitsatz)
Umstände zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Leasingvertrages sind nur bedingt geeignet, die Umstände ein Jahr später zu bewerten.  (redaktioneller Leitsatz)
Wurde Miete in der Vergangenheit offensichtlich nicht wie im vorgelegten Mietvertrag geschuldet bezahlt, so kann dies auch die Folge daraus sein, dass der Antragstellerin bislang keine Leistungen bewilligt worden sind. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Der Antragsgegner wird verpflichtet, an die Antragstellerin für die Zeit ab 1. Juli 7.2016 bis einschließlich 31. Dezember 2016 vorläufig Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Höhe von monatlich 234 € zu zahlen und die Antragstellerin hierbei, ebenfalls vorläufig, bei der Kranken- und Pflegeversicherung anzumelden.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.
Die Antragstellerin stand zuletzt bis zum 30.06.2016 im Leistungsbezug nach dem SGB II beim Antragsgegner. Die Leistungsbewilligung erfolgte, nachdem zunächst das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft zwischen der Antragstellerin und Herrn S. zwischen den Beteiligten strittig war, erst im Anschluss an eine vergleichsweise Regelung im Gerichtsverfahren S 15 AS 1264/15. Im dortigen Verfahren fand am 24.05.2016 eine mündliche Verhandlung mit Einvernahme der Antragstellerin und Herrn S. statt. Im Anschluss an die Einvernahme der Antragstellerin und des Herrn S. erfolgte durch die Vorsitzende Richterin der Hinweis dahingehend, dass nach den deutlichen Aussagen eine Einstehensgemeinschaft jedenfalls seit längerer Zeit nicht mehr vorliege. Es werde deshalb vorgeschlagen, der Antragstellerin für das erste Halbjahr 2016 Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Im Anschluss an das Verfahren wurden mit Bescheid vom 06.06.2016 für die Zeit von Januar 2016 bis Juli 2016 monatlich 234 € an Leistungen für die Antragstellerin bewilligt. Am 02.06.2016 ging bereits der Weiterbewilligungsantrag der Antragstellerin für das zweite Halbjahr 2016 beim Antragsgegner ein.
Mit Schreiben vom 15.06.2016 wurde die Antragstellerin aufgefordert, verschiedene Unterlagen über das Einkommen und das Vermögen des Herrn S. vorzulegen. Weil die Antragstellerin mit Herrn S. seit über einem Jahr zusammenwohne, sei von einer Bedarfsgemeinschaft auszugehen. Das Schreiben an die Antragstellerin wurde in Abdruck auch dem Herrn S. zugeleitet. Auch dieser wurde gebeten, die angeforderten Unterlagen vorzulegen. Mit Schreiben vom 24.06.2016 ging eine Antwort des Herrn S. ein. Im Hinblick auf ein „Gerichtsurteil“ des Sozialgerichts Augsburg unter dem Aktenzeichen S 15 AS 1264/15 liege keine Bedarfsgemeinschaft sondern lediglich eine Zweckgemeinschaft vor. Unterlagen werde er deshalb nicht einreichen. Soweit er in der Vergangenheit Unterlagen eingereicht habe, forderte er diese zurück.
Mit Bescheid vom 04.07.2016 wurden die Leistungen für die Zeit ab 01.07.2016 vollständig versagt. Ein Widerspruch gegen diesen Versagungsbescheid ist noch nicht aktenkundig.
Am 08.07.2016 wurde die Antragstellerin beim Sozialgericht vorstellig. Sie verwies auf das vorangegangene Verfahren S 15 AS 1264/15, nach dem bei ihr und Herrn S. lediglich eine Zweckgemeinschaft vorliege. Nun seien ihr erneut Leistungen abgelehnt worden, weil es an Unterlagen aus der Bedarfsgemeinschaft fehle. Sie müsse am 22.07.2016 operiert werden und sei daher nicht krankenversichert. Es sei deshalb Eile geboten.
Mit Schreiben vom 11.07.2016 tritt der Antragsgegner dem Antrag entgegen. Es sei von Anfang an zweifelsfrei von einer Einstehensgemeinschaft zwischen der Antragstellerin und Herrn S. auszugehen. Im vorliegenden Fall greife die Beweislastumkehr des § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II. Es sei unzweifelhaft der Wille der Antragstellerin und des Herrn S. zu erkennen, füreinander einzustehen und Verantwortung füreinander zu tragen.
Die Antragstellerin werde aktenkundig von Herrn S. unterstützt. Die Antragstellerin habe mehrmals angegeben, dass beide füreinander einstehen wollten und dies auch praktizieren würden. Die Antragstellerin sei durch eine Verletzung nicht in der Lage, den Haushalt selbst zu führen. Deshalb habe Herr S. ihr bei den alltäglichen Arbeiten geholfen. Hierfür habe sie bis dato keinerlei Zahlungen leisten müssen.
Die im nicht unterzeichneten Mietvertrag geschuldete Miete von 450 € in bar werde offensichtlich nicht gezahlt, da keine größeren Barabhebungen auf dem Konto der Antragstellerin ersichtlich seien. Dafür bezahle diese die Telefonie und die GEZ-Gebühren vollständig für den gemeinsamen Haushalt.
Fraglich sei überdies, warum, wenn nicht zusammen gewirtschaftet werde, eine Lebensmittelpauschale von der Antragstellerin erhoben werde. Dies spreche für eine gemeinsame Haushaltskasse oder aber dafür, dass Herr S. die Antragstellerin rundum versorge und die Verantwortung für die Ernährung beider übernehmen wolle. Herr S. lasse eine angebliche Bekannte mit ihren beiden Kindern, darunter eines mit einer Behinderung, kostenfrei bei sich wohnen, unterstütze diese finanziell wie praktisch und lege zunächst auch Unterlagen von sich vor. Er habe zunächst auch bei der Antragstellung mitgewirkt. Seine Bereitschaft, sich zu verpflichten, gehe sogar soweit, dass Herr S. im eingereichten Leasingvertrag der Antragstellerin als Leasingnehmer zu 2 aufgeführt sei und sich damit sogar gegenüber Dritten für die Antragstellerin vertraglich binde. Diesen Vertrag hätten die Antragstellerin und Herr S. zum Zeitpunkt nach dem Zusammenzug im Juni 2015 abgeschlossen. Die in der Niederschrift vom 24.05.2016 von der Vorsitzenden der 15. Kammer erteilten Hinweise seien insbesondere im Hinblick auf den nun eingereichten Leasingvertrag und der inzwischen verstrichenen Zeit nicht mehr überzeugend. Das Inabredestellen einer Einstehensgemeinschaft überzeuge deshalb nicht. Herr S. sei mit seinem Einkommen und Vermögen bei der Bedarfsberechnung zu berücksichtigen.
Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner zu verpflichten, Leistungen sowie die Krankenversicherung
ab 01.07.2016 zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Akten des Antragsgegners und des Gerichts verwiesen.
II.
Da die Antragstellerin eine Erweiterung ihrer Rechtsposition anstrebt, ist eine einstweilige Anordnung in Form einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes mit Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Eine solche Anordnung setzt sowohl einen Anordnungsanspruch (materielles Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird) als auch einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit im Sinne der Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, weil ein Abwarten auf eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zuzumuten ist) voraus. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund müssen glaubhaft sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung – ZPO -).
Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist noch zulässig, weil der Versagungsbescheid vom 04.07.2016 noch nicht gemäß § 77 SGG in der Sache bindend geworden ist. Die Monatsfrist des § 84 SGG ist noch nicht abgelaufen. Ein Widerspruch ist noch fristgerecht möglich.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie ist Leistungsberechtigte nach dem § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Sie ist erwerbsfähig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 4 SGB II). Die Antragstellerin ist auch hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 9 Abs. 1 SGB II. Als einziges Einkommen steht ihr der monatlich zufließende Unterhalt in Höhe von 350 € zur Verfügung. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass eine Bedarfsgemeinschaft mit Herrn S. nicht besteht. Hierzu verweist das Gericht auf die Sitzungsniederschrift aus dem Verfahren S 15 AS 1264/15 vom 24.05.2016. Nach einer umfangreichen Anhörung der dortigen Kläger hat die Vorsitzende der 15. Kammer den unmissverständlichen Hinweis erteilt, dass nach dem Ergebnis der Einvernahme jedenfalls aktuell nicht mehr von einer Einstehensgemeinschaft ausgegangen werden könne. Im Ergebnis hat man sich im dortigen Verfahren bei einem Streitgegenstand für die Zeit von Mai 2015 bis Juli 2016 vergleichsweise auf eine Leistungserbringung erst ab dem 01.01.2016 verständigt. Das Ergebnis dieser mündlichen Verhandlung und der Hinweis der Vorsitzenden der 15. Kammer wird auch nicht durch ein Verhalten der Antragstellerin und Herrn S. im Mai 2015 entkräftet. Die Vorsitzende der 15. Kammer ging ja gerade davon aus, dass möglicherweise zu Beginn eine Einstehensgemeinschaft bestanden hat. Wie der Antragsgegner selbst richtig feststellt, ist der Leasingvertrag in zeitlicher Nähe zum Zusammenziehen unterzeichnet worden. Er mag damit Ausdruck der Umstände zu diesem Zeitpunkt sein. Dieser Vertrag ist jedoch nur bedingt geeignet, die Umstände ein Jahr später zu bewerten. Wenn der Antragsgegner der Antragstellerin vorhält, sie habe die Miete in der Vergangenheit offensichtlich nicht wie im vorgelegten Mietvertrag geschuldet bezahlt, so hat dies zur Überzeugung des Gerichts seinen Grund nicht zuletzt darin, dass der Antragsgegner der Antragstellerin vor dem 06.06.2016 gar keine Leistungen bewilligt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt verfügte die Antragstellerin ausschließlich über den laufenden monatlichen Unterhalt von 350 €. Im Ergebnis sieht das Gericht heute keinen Anlass, von der nachvollziehbaren und schlüssigen Einschätzung der Vorsitzenden der 15. Kammer vom 24.05.2016 abzuweichen. Das Gericht schließt sich nach Auswertung der Sitzungsniederschrift vom 24.05.2016 dieser Einschätzung im Rahmen des Eilverfahrens vorläufig an. Wenn also deren Einschätzung damit geteilt werden kann, dass zwischen den Beteiligten schon keine Partnerschaft im Sinne des § 7 Abs. 3a SGB II vorliegt, so kommt es auf die in dieser Vorschrift enthaltenen Vermutenstatbestände hinsichtlich des Einstehenswillens gar nicht mehr an.
Die Antragstellerin hat im Ergebnis auch in diesem Verfahren hinreichend glaubhaft gemacht, dass eine Bedarfsgemeinschaft mit Herrn S. nicht besteht. Sein Einkommen und Vermögen ist deshalb im Rahmen der vorläufigen Entscheidung nicht zu berücksichtigen. Die Leistungshöhe ergibt sich demgemäß entsprechend der Berechnung aus dem Bescheid vom 06.06.2016 aus dem aktuellen Regelsatz von 404 € abzüglich eines bereinigten Unterhaltseinkommens von 320 € zuzüglich monatlicher Kosten der Unterkunft von 150 €, welche kopfteilig auf die Antragstellerin entfallen.
Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich bereits aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen nach dem SGB II aber auch aus der unmittelbar bevorstehenden Operation.
In zeitlicher Hinsicht erscheint es als angemessen, die einstweilige Anordnung auf den 31.12.2016 zu begrenzen. Hierbei handelt es sich um den Regelbewilligungszeitraum.
Die Antragstellerin wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die im einstweiligen Rechtsschutz erlangten Leistungen nur vorläufig zugesprochen sind. Wenn im nachfolgenden Hauptsacheverfahren (Widerspruchsverfahren, Klage, ggfs. Berufung) festgestellt wird, dass der Leistungsanspruch doch nicht besteht, dann sind die im einstweiligen Rechtsschutz erlangten Leistungen zu erstatten.
Die Kostenentscheidung ergibt sich das entsprechende Anwendung von § 193 SGG.

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