Medizinrecht

Hörgerät wegen qualifizierter Arbeitsplatzanforderungen

Aktenzeichen  L 5 KR 213/15

Datum:
20.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 6536
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3
SGB IX § 15 Abs. 1 S. 3 u. 4, § 26 Abs. 2 Nr.

 

Leitsatz

Ein Anspruch auf Versorgung mit einem qualifizierten Hörgerät besteht bei besonderen Arbeitsplatzanforderungen. (Rn. 19 ff.)

Verfahrensgang

S 18 KR 948/12 2015-02-26 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 26.02.2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.08.2012 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Kosten in Höhe von 4.869,00 € zu erstatten.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegten Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Kostenerstattung in begehrter Höhe, weil die Beklagte zu Unrecht die Versorgung mit den Phonak-Geräten Audeo S Smart IX Ex abgelehnt hat. In diesem Anspruch wird die Klägerin verletzt durch den streitgegenständlichen Bescheid vom 25.7.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3.8.2012, so dass dieser ebenso wie das Urteil des Sozialgerichts München vom 26.2.2015 aufgehoben werden.
1. Die Beklagte ist zuständiger Leistungs- und Reha-Träger, § 33 SGB IX. Denn die Beigeladene hat den bei ihr am 25.5.2011 eingegangenen Formular-Antrag G100 vom 21.5.2011 einschließlich der Anlagen binnen weniger als zwei Wochen an die Beklagte weitergeleitet, wo er noch vor Ablauf der Zwei-Wochen-Frist am 7.6.2011 eingegangen ist, § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX. Daran ändert nichts, dass die Beigeladene durch Bescheid vom 30.5.2011/Widerspruchsbescheid vom 29.8.2011 selbst und abschlägig entschieden hat. Denn diese Entscheidung ist nicht rechtskräftig geworden, das fristgerecht anhängig gewordene Klageverfahren ruht auf Antrag beider Beteiligter, welche vorliegend Klägerin und Beigeladene sind. Die Beklagte hat damit in Einbezug des Reha-Leistungsrechts des SGB VI über die Hilfsmittelversorgung zu entscheiden (vgl. BSG, 24.1.2013 – B 3 KR 5/12 R – dort Zuständigkeit infolge nicht weitergeleiteten Antrags). Dies hat das Sozialgericht außer Acht gelassen.
Das Schreiben der Beklagten vom 11.4.2011 ist kein Bescheid und regelt daher nicht bestandskräftig die hier strittige Versorgung mit den Phonak-Geräten. Dazu ist festzustellen, dass das Schreiben vom 11.4.2011 allgemeine Informationen enthält zur Hörgeräteversorgung im Wege von Festbeträgen und allgemeine, vorformulierte Textbestandteile, nicht aber eine konkrete Einzelfallregelung iSd § 33 SGB X. Es enthält zudem – anders als der gegenständliche Bescheid vom 25.7.2011 – keine Rechtsbehelfsbelehrung:.
Zum Antrag vom 21.5.2011 ist festzustellen, dass dieser sich richtet auf die Versorgung Hörgeräten unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen, die an das Hörvermögen am konkret beschriebenen Arbeitsplatz der Klägerin gestellt ist. Er findet sich auf dem sieben Seiten umfassenden Antrag G100 der Deutschen Rentenversicherung sowie auf fünf Seiten Formularanlagen. Er ist damit – was unter den Beteiligten zudem nicht strittig ist – ein Antrag auf Teilhabeleistungen iS von § 14 SGB IX. Er ist deshalb gem. § 2 Abs. 2 SGB I als umfassender Leistungsantrag zu werten.
3. Anspruchsgrundlage des Kostenerstattungsanspruches ist nicht §§ 13 Abs. 3 SGB V iVm § 33 SGB V, obwohl die Einhaltung des Beschaffungsweges (Antragstellung 20.5.2011 und Ablehnungsbescheid 25.7.2011 vor endgültiger Geräte-Entscheidung und vor Geräte-Kauf – „Selbst-Verschaffen“) festzustellen ist. Vorliegend ergibt sich der Kostenerstattungsanspruch nicht auf Grund rechtswidriger Ablehnung eines Hilfsmittelanspruches gem. § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB V iVm § 33 SGB V. Denn nach den Ausführungen des erstinstanzlich gehörten Sachverständigen Dr. K. besteht auf Ruhegeräusch und Sprachverständlichkeit und damit im Alltag kein wesentlicher Gebrauchsvorteil für die Phonak-Geräte (§ 12 Abs. 1 SGB V; vgl. „deutliche Gebrauchsvorteile“ nach BSG 24.1.2013 – B 3 KR 5/12 R, Rn. 34 – zitiert nach Juris) .
Der Kostenerstattungsanspruch ergibt sich aus § 15 Abs. 1 S. 3 und 4 SGB IX und beruht auf §§ 9, 15 SGB VI iVm § 26 Abs. 2 Nr. 6 und § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX. Die Versorgung war zur Fortsetzung der Erwerbstätigkeit der Klägerin zwingend erforderlich.
a) Nach der medizinischen Dokumentation, nach den Feststellungen des Dr. K. zur Hörerkrankung sowie unstreitig leidet die Klägerin seit vielen Jahren an Schwerhörigkeit mit Tinnitus, so dass sie bereits 2001 eine Hörhilfeversorgung benötigt hatte. Seither hat sich nach den vorgelegten HNO-ärztlichen Befund- und Behandlungsberichten 2011 eine weitere erhebliche Verschlechterung des Hörvermögens eingestellt.
Es besteht ein Verlust nach Sprachabstandsmessung von kleiner 42% beidseits, nach Tonaudiogramm von 41% rechts sowie 51% links, nach Sprachaudiogramm von 40% rechts und 50% links mit Erforderlichkeit der Hörgeräteversorgung zur erheblichen Verbesserung des Sprachverständnisses sowie des freien Schallfeldes.
b) Zu den Anforderungen der beruflichen Tätigkeit und des Arbeitsplatzes der Klägerin ist in Auswertung der Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen sowie der glaubhaften, detailreichen, in sich widerspruchsfreien Angaben der Klägerin, welchen die anderen Beteiligten nicht widersprochen haben, das Folgende festzustellen:
aa) Wie die Stellenbeschreibung („Funktionsbeschreibung und Kompetenzumfang“) belegt, ist die Klägerin im Personalmanagement als Mitarbeiterbetreuerin mit der Betreuung von Kunden und Mitarbeitern in allen Belangen betraut. Dazu verfügt die Klägerin namentlich über hohe Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit und Belastbarkeit. Ihre Aufgeben umfassen insbesondere die disziplinarische Führung und Betreuung von Mitarbeitern, die Durchführung von Trainingsmaßnahmen, von Einzel- und Gruppencoachings, Recruiting, Mitarbeiter-, Kritik- und Entwicklungsgesprächen, die Teilnahme an Meetings und Großveranstaltungen.
bb) Um die hierfür erforderlichen Voraussetzungen zu erfüllen, stellen sich hohe Anforderungen an das gerichtete Sprachverstehen bei gleichzeitiger Sprache mehrerer Personen und verschiedenen Hintergrundgeräuschen im Raum.
In Gruppencoachings und bei Großveranstaltungen sind dabei Störgeräusche zu trennen von Gesprächen mit Einzelpersonen sowie mit Personengruppen. Geräusche aber auch Sprache treten dabei mehrdimensional auf, dh von sich auf die Klägerin zu-, aber auch von ihr wegbewegenden Tonquellen. Untermalungsmusik kann hinzutreten. Fremdsprachen, insbesondere Englisch mit den Lispellauten des „th“ muss die Klägerin verstehen und sprechen.
Am Arbeitsplatz selbst in einem Großraumbüro sind als Dauergeräusche die Betriebsgeräusche der Klimaanlage sowie ein Dauergrundgeräusch vorhanden, was stets von mehreren Menschen ausgehend vorhanden ist. Als Geräuschquellen kommen hinzu die von den Mitarbeitern genutzten Telefone, Telefaxe und Drucker. Zeitgleich dazu finden mehrere Gespräche der Mitarbeiter untereinander, mit Kunden sowie am Telefon statt.
In diesen Geräuschkulissen bestehen Arbeit und Arbeitserfolg der Klägerin im Gespräch. Sie muss dabei Kommunikation und Teamfähigkeit vornehmlich im gesprächsweisen Kontakt mit Mitarbeitern und mit Kunden leben. Dabei können zeitgleich immer wieder Telefonate sowie Mehrpersonengespräche zu führen sein oder dazwischensowie hinzutreten. Das erfordert passives und aktives Zuhören und Verstehen der Klägerin auf höchsten Ebenen der menschlichen Kommunikation und Interaktion.
c) Diese Anforderungen kann die Klägerin allein mit den Phonak-Geräten erfüllen, weil nur diese über mehrere Sondertechniken unter Einsatz einer besonderen Hard- und Software der Mehrmikrofontechnik zum Sprachverständnis verfügen.
Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin kann diese mit der Sondertechnik „Ultra-Zoom“ die Stimmen von Personen gleichsam heranziehen und zugleich Nebengeräusche hinwegdämmen. Mit „voice-zoom“ kann sie Sprache besser verstehen und zugleich mit „Noise-Block“ laute Geräusche ohne Bedeutung für die Sprachkommunikation unterdrücken. Mit Hilfe von „SoundRecover“ sind die Konsonanten s und f sowie der englische Lispellaut „th“ besser verständlich, weil hohe Frequenzen komprimiert und in für das klägerisch Resthörvermögen verständliche Bereiche konvertiert werden. Die Verständigung in Englisch zählt zu den erforderlichen Arbeitsanforderungen der Klägerin. Die zu unterscheidenden jeweiligen Geräusch-, Stimm-, Höhen- und Laustärken-Volumina sowie -Richtungen kann die Klägerin dabei besonders in Sprachverständnis und Gesprächskompetenz umsetzen.
Dass diese ganz erheblichen Verständigungsvorteile am Arbeitsplatz durch die Phonak-Geräte besser erreicht werden, belegen die von der Leistungserbringerin Firma S. dokumentierten Testungen mehrerer Geräte. Entsprechende Testungen hat die Klägerin glaubhaft auch an ihrer Arbeitsstelle unter der maßgeblichen Mehrfach-Hörbelastung ausprobiert.
Festzuhalten ist ergänzend zur Glaubwürdigkeit der klägerischen Angaben, dass keine Hinweise bestehen, die Klägerin könnte sich ihre Angaben aus den Fingern saugen, um eine Sozialleistung zu erhalten. Für die Glaubhaftigkeit spricht zudem, dass sich die Klägerin die Phonak-Geräte auf eigenes Risiko beschafft hatte – ohne dass der Senat dabei eine Beweiserleichterung für Bemittelte gegenüber nicht Bemittelten schafft.
d) Diese Feststellungen und Einschätzungen sind nicht widerlegt durch die Stellungnahme des MDK im Verwaltungsverfahren sowie durch das erstinstanzlich eingeholte Sachverständigengutachten (einschließlich ergänzender Stellungnahmen) des Dr. K.
Denn weder der MDK noch Dr. K. haben die dargestellte berufliche Situation der Klägerin in ihre Überlegungen in erforderlicher Weise und Ausmaß einbezogen. Unberücksichtigt ist insbesondere geblieben, dass Nutzschall und Störschall in ihren jeweils unterschiedlichen Gestalten und Ausprägungen in den beruflichen Gesprächen der Klägerin voneinander getrennt werden müssen. Nicht hinreichend gewürdigt wurde namentlich, dass Vortragstätigkeiten gegenüber größeren Gruppen und die Leitung von Arbeitsgruppen als relevante besondere berufliche Anforderungen der Klägerin deutlich über die berücksichtigten Anforderungen bei alltäglichen Mehr-Personen-Gesprächen hinausgehen.
Zudem hat Dr. K. – aus Gründen der Beweissicherheit – die vorgenommenen Messungen unter Idealbedingungen getätigt. Er hat selbst eingeräumt, dass eine zuverlässige Testung der Hörgeräteleistung unter reellen Arbeitsplatz- oder Störgeräuschbedingungen nicht möglich sind.
Schließlich ist dem Sachverständigen und dem MDK entgegenzuhalten, dass der dokumentierten, um (nur) wenige Mess-Einheiten erhöhten Hörverbesserung durchaus Relevanz zukommt, wenn der hier relevante Maßstab dargelegt wird. Insoweit haben zudem weder MDK noch der Sachverständige dargelegt, dass die Differenz um wenige Mess-Einheiten tatsächlich Mess-Toleranzen sind. Sie haben vielmehr die Verbesserung um wenige Mess-Einheiten als nicht entscheidungserheblich angesehen, weil diese nur einen Umfang hatte, welcher den üblichen Mess-Toleranzen entspricht.
e) Die Einholung eines weiteren Gutachtens ist nicht veranlasst. Maßgeblich für den strittigen Kostenerstattungsanspruch sind Hörvermögen und -verbesserung im Zeitpunkt der Beschaffung im Jahre 2011. Von einem sich eher verschlechternden und sich keinesfalls verbesserndem Hörstatus der Klägerin ist wegen deren Hörverschlechterung in der Vergangenheit auszugehen. Aus der Einholung eines um Jahre zu spät kommenden Sachverständigengutachtens kann daher kein Beweisgewinn gezogen werden. Zudem ist die Erforderlichkeit der Versorgung im beruflichen Umfeld der Klägerin relevant, was aber ein Setting erfordert, das einer belastbaren Testung nicht zugänglichen ist.
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Klägerin Anspruch auf die beiden von ihr erworbenen Phonak-Geräte hatte und ihr deshalb ein entsprechender Kostenerstattungsanspruch zusteht. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts ebenso wie die abschlägige Entscheidung der Beklagten aufgehoben sowie die antragsgemäße Verurteilung zur Kostenerstattung ausgesprochen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.


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