Medizinrecht

Inanspruchnahme, Ärztlicher Bereitschaftsdienst, Vertragsarztrecht, EBM-Ä, Honorarbescheid, vertragsärztliche Versorgung, Unvorhergesehene, Sprechstunde, Abrechnung, Notfalldienst, Widerspruchsbescheiden, Postoperative Behandlung, Patient, Zeitliche Zäsur, Anästhesist, Klageabweisung, Aufhebung, Ärztliche Behandlung, Berichtigungsbescheid, Nebeneinanderabrechnung

Aktenzeichen  L 12 KA 93/17

Datum:
31.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 40803
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
EBM-Ä GOP 01100
SGB V § 106a Abs. 2 (in der bis 31.12.2016 geltenden Fassung)

 

Leitsatz

Eine unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes durch den Patienten liegt nicht vor, wenn der Patient das vom Vertragsarzt vorgehaltene Angebot einer Inanspruchnahme während eines Bereitschaftsdienstes annimmt.

Verfahrensgang

S 38 KA 305/15, S 38 KA 306/15, S 38 KA 307/15, S 38 KA 308/15 2017-05-15 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 15.05.2017 aufgehoben und die Klagen werden abgewiesen.
II. Die Kosten der Verfahren trägt die Klägerin.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist statthaft, §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), und auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegt worden.
Sie ist auch begründet, denn die Beklagte war berechtigt, die Abrechnungen der Klägerin sachlich-rechnerisch im erfolgten Umfang richtig zu stellen.
1. Das SG hat mit seiner Entscheidung, in Ziffer 1 des Tenors des Urteils vom 15.05.2017 die angefochtenen Honorarrückforderungsbescheide aus den Plausibilitätsprüfungen 2/08 bis 2/11 jeweils in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 25.02.2015 vollumfänglich aufzuheben, über mehr als den Streitgegenstand der Klageverfahren entschieden und damit gegen den Grundsatz „ne ultra petita“ (§ 123 SGG) verstoßen. Denn ausweislich des Protokolls und der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung war streitig nur noch die Richtigstellung bzw. Rückforderung der Leistungen der GOP 0100 EBM-Ä. Bezogen auf die übrigen, zunächst noch streitigen GOP (GOP 05230 und 01414) hatte die Klägerin ihre Klagen zurückgenommen, so dass die angefochtenen Bescheide insoweit bestandskräftig geworden sind.
Einer Prozesspartei mehr zuzusprechen, als sie beantragt hat, ist dem Gericht verwehrt (s. § 123 SGG „ne ultra petita“ und dazu Meyer-Ladewig, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 123 RdNr. 4).
2. Die angefochtenen Bescheide waren auch bezogen auf die allein noch streitige Absetzung der GOP 0100 EBM-Ä zutreffend.
a) Rechtsgrundlage der angefochtenen Berichtigungsbescheide ist § 106a Abs. 2 SGB V in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung (heute § 106d SGB V). Danach stellt die KÄV die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte fest; dazu gehört auch die arztbezogene Prüfung der Abrechnungen auf Plausibilität sowie die Prüfung der abgerechneten Sachkosten. Die Prüfung auf sachlich-rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen des Vertragsarztes zielt auf die Feststellung, ob die Leistungen rechtmäßig, also im Einklang mit den gesetzlichen, vertraglichen oder satzungsrechtlichen Vorschriften des Vertragsarztrechts – mit Ausnahme des Wirtschaftlichkeitsgebots -, erbracht und abgerechnet worden sind. Die Befugnis zu Richtigstellungen besteht auch für bereits erlassene Honorarbescheide (nachgehende Richtigstellung). Sie bedeutet dann im Umfang der vorgenommenen Korrekturen eine teilweise Rücknahme des Honorarbescheides. Die genannten Bestimmungen stellen Sonderregelungen dar, die gemäß § 37 Satz 1 SGB I in ihrem Anwendungsbereich die Regelung des § 45 SGB X verdrängen (stRspr, zB BSGE 89, 62, 66 = SozR 3-2500 § 85 Nr. 42 S. 345 f und BSGE 89, 90, 93 f = SozR 3-2500 § 82 Nr. 3 S. 6 f; BSG, SozR 4-5520 § 32 Nr. 2 RdNr. 10; BSGE 96, 1, 2 f = SozR 4-2500 § 85 Nr. 22, RdNr. 11; BSG, SozR 4-2500 § 106a Nr. 1 RdNr. 12). Eine nach den Bestimmungen zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung rechtmäßige (Teil-)Rücknahme des Honorarbescheides mit Wirkung für die Vergangenheit löst nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X eine entsprechende Rückzahlungsverpflichtung des Empfängers der Leistung aus (BSG SozR 3-2500 § 76 Nr. 2 S. 3; BSGE 89, 62, 75 = SozR 3-2500 § 85 Nr. 42 S. 355; BSGE 96, 1, 3 = SozR 4-2500 § 85 Nr. 22, RdNr. 11; BSG SozR 4-2500 § 106a Nr. 1 RdNr. 12; aaO Nr. 3 RdNr. 18).
Die Tatbestandsvoraussetzung für eine nachträgliche sachlich-rechnerische Richtigstellung nach § 106a Abs. 2 Satz 1 SGB V ist vorliegend erfüllt, weil die Klägerin die GOP 01100 EBM-Ä in den streitgegenständlichen Quartalen zu Unrecht abgerechnet hat und daher die Honorarbescheide vom 09.10.2008 (2/2008), 10.03.2009 (3/2008), 21.04.2009 (4/2008), 23.09.2009 (1/2009), 17.02.2010 (2/2009), 18.05.2010 (3/2009), 19.05.2010 (4/2009), 18.08.2010 (1/2010), 17.11.2010 (2/2010), 16.02.2011 (3/2010), 18.05.2011 (4/2010), 17.08.2011 (1/2011) und 16.11.2011 (2/2011) insoweit rechtswidrig sind. In wessen Verantwortungsbereich die sachlich-rechnerische Unrichtigkeit fällt, ist unerheblich; einzige tatbestandliche Voraussetzung ist die Rechtswidrigkeit des Honorarbescheides (vgl. BSGE 93, 69, 71 = SozR 4-2500 § 85 Nr. 11, RdNr. 7 – hierzu Engelhard, jurisPR-SozR 44/2004 Anm. 1).
b) Die Beklagte ist zu Recht von einem unzutreffenden Ansatz der GOP 01100 ausgegangen.
aa) Der für die Quartale 2/2008 bis 2/2011 jeweils maßgebliche EBM-Ä enthielt in Abschnitt II (Arztübergreifende allgemeine Gebührenordnungspositionen), 1. (Allgemeine Gebührenordnungspositionen), 1.1 (Aufwandserstattung für die besondere Inanspruchnahme des Vertragsarztes durch einen Patienten) unter anderem die GOP 01100. Der Wortlaut der GOP 01100 lautet:
„Unvorhergesehene Inanspruchnahme eines Vertragsarztes durch einen Patienten
– zwischen 19:00 und 22:00 Uhr
– an Samstagen, Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen, am 24.12. und 31.12. zwischen 07:00 und 19:00 Uhr Die Gebührenordnungsposition 01100 ist nicht berechnungsfähig, wenn Sprechstunden vor 07:00 Uhr oder nach 19:00 Uhr stattfinden oder Patienten zu diesen Zeiten bestellt werden. […]”.
bb) Mit der Problematik der unvorhergesehenen Inanspruchnahme bei der GOP 0100 EBM-Ä hat sich das LSG Hamburg in zwei Entscheidungen auseinandergesetzt.
Im Verfahren L 1 KA 5/12 (Urteil vom 25.04.2013) hatte das LSG entschieden, dass keine unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes bzw. einer ermächtigten ärztlich geleiteten Einrichtung durch Patienten iS von Nr. 01100 EBM-Ä 2008 vorliegt, wenn diese das vorgehaltene Angebot der Einrichtung annehmen, sich dort zu Zeiten behandeln zu lassen, die ansonsten üblicherweise sprechstundenfrei sind. Die Klägerin im dortigen Verfahren war auf ihren Antrag hin unter anderem in dem streitigen Quartal ermächtigt, in der Geburtshilflich Gynäkologischen Klinik als ärztlich geleiteter Einrichtung für die an sprechstundenfreien Tagen unbedingt notwendige Überwachung von Schwangeren mit Terminüberschreitung auf Überweisung durch Gynäkologen an der vertragsärztlichen Versorgung im Bezirk der Beklagten teilzunehmen. Da die Klägerin gerade und ausschließlich zu diesen Zeiten ihre Dienste anbiete und ihr auf ihren Antrag hin auch nur für diese Zeiten die Ermächtigung erteilt worden sei, an der vertragsärztlichen Versorgung teilzunehmen, sei die Behandlung eines Patienten während dieser Zeiträume nicht unvorhergesehen, sondern beabsichtigt und geplant. Diese Zeiten seien die normalen Dienstzeiten der Klägerin, sodass die Inanspruchnahme nicht außerhalb von diesen Zeiten stattfinde. Es treffe zwar zu, dass im Einzelfall nicht vorhersehbar ist, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit eine Schwangere ärztliche Hilfe benötigt. Dadurch unterscheide sich der Fall aber nicht von einem normalen Praxisbetrieb, in dem auch nicht vorhersehbar ist, zu welchem Zeitpunkt innerhalb der Sprechstundenzeit ein Patient den Arzt tatsächlich aufsucht. Maßgeblich sei insoweit nur, dass die Klägerin von den Patienten gerade in den Zeiten aufgesucht wird, in denen sie ihre Dienste regulär anbiete und die Inanspruchnahme insofern nicht unerwartet erfolge Streitig im Verfahren L 1 KA 59/09 (Urteil des LSG Hamburg vom 07.06.2012) war die Frage, ob die GOP 01100 auch im Rahmen eines vom Vertragsarzt vorgehaltenen Angebots einer Notfallsprechstunde abrechenbar ist. Das LSG verneinte die Abrechenbarkeit, denn es sei keine unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes durch einen Patienten, wenn dieser das vom Vertragsarzt vorgehaltene Angebot einer Notfallsprechstunde annimmt. Es sei zu unterscheiden zwischen der Initiierung einer Notfallbehandlung durch den Patienten, der unvorhergesehen ärztlicher Behandlung bedürfe, und der Frage, ob diese Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung durch den Patienten für den Arzt unvorhergesehen sei zu einer Zeit, in der er an einem unter seiner Mitwirkung bereitgestellten Notfalldienst teilnehme.
Das SG München hat sich im Verfahren S 21 KA 1354/12 (Urteil vom 24.09.2014) ebenfalls mit der unvorhergesehenen Inanspruchnahme beschäftigt. In diesem Verfahren ging es um die Situation, dass ein Vertragsarzt am Sonntag für einbestellte Patienten Sprechstunden abhielt, in dieser Zeit aber auch nicht angemeldete Patienten behandelte und für diese die GOP 01100 abrechnete. Hier hat das SG das Vorliegen einer Dienstsituation auch für die nicht angemeldeten Patienten gesehen, denn der Kläger habe auch alle nicht bestellten Patienten, die am Sonntag während seiner Anwesenheit eine Behandlung wünschten, behandelt. Dies entspreche einer faktischen Sprechstunde, die nach der Rechtsprechung der Abrechnung der GOP 01100 entgegensteht (so unter Bezugnahme auf den Beschluss des BSG vom 29.11.2007, B 6 KA 52/07 B; LSG Hamburg, Urteil vom 25.04.2013, Az. L 1 KA 5/12 und vom 07.06.2012, Az. L 1 KA 50/09).
Diese bereits entschiedenen Konstellationen unterscheiden sich jedoch von der vorliegenden insofern, als dort jeweils eine Behandlung im Rahmen einer Sprechstunde stattgefunden hatte, sei es im Rahmen einer Ermächtigung, einer Notfallsprechstunde oder bei der Gelegenheit einer regulären Sprechstunde. Die Klägerin im hier zu entscheidenden Fall hat aber unstreitig zumindest zu den im Zusammenhang mit der GOP 0100 EBM-Ä abgerechneten Zeiten keine Sprechstunden abgehalten, sondern lediglich einen Bereitschaftsdienst vorgehalten.
cc) Unzweifelhaft ist die GOP 01100 nur abrechenbar für die unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes. Für die Auslegung vertragsärztlicher Vergütungsbestimmungen ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in erster Linie der Wortlaut der Regelungen maßgeblich. Nur soweit dieser zweifelhaft ist, ist Raum für eine systematische oder entstehungsgeschichtliche Interpretation (BSG, unter anderem Urteil vom 15.08.2012, Az. B 6 KA 34/11 R, RdNr. 13; vom 18.08.2010, Az. B 6 KA 23/09 R, RdNr. 11). Leistungsbeschreibungen dürfen weder ausdehnend ausgelegt noch analog angewendet werden.
Die streitgegenständliche Berichtigung der Honorarforderung nach der Nr. 01100 EBM-Ä ist danach rechtmäßig, denn es ist keine unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes durch einen Patienten, wenn dieser das vom Vertragsarzt vorgehaltene Angebot einer Inanspruchnahme während eines Bereitschaftsdienstes annimmt. Es ist zu unterscheiden zwischen der Initiierung einer Notfallbehandlung durch den Patienten, der unvorhergesehen ärztlicher Behandlung bedarf, und der Frage, ob diese Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung durch den Patienten für den Arzt unvorhergesehen ist zu einer Zeit, in der er an einem unter seiner Mitwirkung bereitgestellten Bereitschaftsdienst teilnimmt. Der medizinische Fall kann dabei unvorhergesehen sein, die daraufhin erfolgte Inanspruchnahme des Arztes jedoch nicht. Eine weite Auslegung des Begriffs der „unvorhergesehenen Inanspruchnahme“ kommt nicht in Betracht.
Die GOP 01100 stellt eine Verengung der Voraussetzungen gegenüber der Nr. 5 im bis 31.03.2005 geltenden EBM-Ä dar (vergleiche LSG Hamburg, Urteil vom 07.06.2012, L 1 KA 59/09, SG München, Urteil vom 24.09.2014, S 21 KA 1354/12), der den Begriff der „unvorhergesehenen Inanspruchnahme“ noch nicht kannte. Schon dies spricht gegen eine weite Auslegung der GOP 01100. Unvorhergesehen ist die Inanspruchnahme des Vertragsarztes, wenn dieser zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht damit rechnete, vertragsärztliche Leistungen zu erbringen, er also nicht in einer Dienstsituation in Anspruch genommen wurde. Diese Dienstsituation kann z.B. aufgrund einer Sprechstunde oder aufgrund eines angebotenen Notdienstes bestehen oder deshalb, weil der Patient für die Behandlung in den genannten Zeiten bestellt war.
Vorliegend hat die Klägerin zwar weder Sprechstunden angeboten noch die Patienten für die Behandlung in den genannten Zeiten bestellt. Sie hat aber einen Bereitschaftsdienst organisiert, indem sie sowohl den Patienten als auch den behandelnden Ärzten gegenüber eine Mobil-Notfallnummer bekannt gegeben hat, unter der jederzeit (24/7) ein Arzt der Beklagten erreichbar war. Nach Vortrag der Beklagten wurde die auch auf der Homepage der Beklagten bekannt gegebene Mobilfunknummer auf das Mobiltelefon des jeweils dafür eingeteilten Arztes umgeleitet. Dem jeweils eingeteilten Arzt war demnach bewusst, dass er jederzeit für die Patienten erreichbar war und dieser Bereitschaftsdienst auch Teil des Konzeptes der Beklagten gewesen ist. Soweit der diensthabende Arzt in dieser Situation durch einen Patienten telefonisch über die Notfallnummer kontaktiert wurde, war dies für den kontaktierten Arzt gerade nicht unvorhersehbar, da er wusste, dass er zum Bereitschaftsdienst eingeteilt war. Das Vorliegen einer dem Notdienst vergleichbaren Dienstsituation wird auch durch die Bezahlung der angestellten Ärzte während ihrer Einteilung zum Bereitschaftsdienst deutlich. Die Inanspruchnahme erfolgte damit nicht wider Erwarten. Eine Dienstsituation lag somit vor, weil die Klägerin den 24-Stunden-Bereitschaftsdienst bewusst, geplant und organisiert anbietet und der diensthabende Arzt in dieser Zeit mit einer Inanspruchnahme rechnen muss.
dd) Soweit die Klägerin vorträgt, die Situation sei mit der eines Hausarztes, dessen private Telefonnummer den Patienten bekannt ist, vergleichbar, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Der Hausarzt, der außerhalb seiner Dienstzeiten über seine private Telefonnummer kontaktiert wird, hat die Möglichkeit, den Patienten auf die Sprechstunden bzw. den allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienst zu verweisen. Auch ist er nicht gehalten, das Telefongespräch überhaupt anzunehmen, denn er befindet sich gerade nicht in einer Dienstsituation. Der (Haus) Arzt ist auch nicht verpflichtet, sich außerhalb der Sprechstunden und Bereitschaftsdienste an einem Ort aufzuhalten, der ihm eine Behandlung seiner Patienten ermöglicht. Demgegenüber ist der insoweit eingeteilte (Bereitschafts) Arzt der Klägerin verpflichtet, den Anruf, der ihn über die Notfallnummer erreicht, entgegenzunehmen und sich dem Anliegen des Patienten zu widmen. Denn der Bereitschaftsdienst gehört nach eigenem Bekunden der Klägerin zu ihrem Leistungsspektrum. Mit der Angabe der Telefonnummer tritt die Klägerin aktiv an die Patienten heran und bietet ihnen an, bei Beschwerden auch abends und nachts zur Verfügung zu stehen. Dadurch beeinflusst und veranlasst sie die Inanspruchnahme zu Uhrzeiten ab 19:00 Uhr bzw. am Wochenende und an Feiertagen zumindest mit, was die Abrechnung der GOP 01100 EBM-Ä ausschließt (so auch Kölner Kommentar zum EBM-Ä, GOP 01100, Stand 01.04.2018).
ee) Auch der Gesichtspunkt – wie das SG meint -, dass die Klägerin aufgrund ihrer besonderen Situation als Anästhesiepraxis keine regulären Sprechstunden anbietet, führt zu keinem anderen Ergebnis. Ob die Klägerin überhaupt und in welchem Umfang Sprechstunden anbietet, spielt für die Abrechnung der GOP 01100 EBM-Ä keine Rolle, so dass eine Sonderstellung für das Fachgebiet Anästhesiologie nicht gerechtfertigt ist. Maßgeblich ist allein der Wortlaut der Leistungslegende, d.h. die unvorhergesehene Inanspruchnahme innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens mit den genannten Einschränkungen. Bei der Auslegung der Klägerin, die GOP 0100 könne immer dann abgerechnet werden, wenn die in der Legende genannten Einschränkungen – Sprechstunde oder Einbestellung der Patienten – nicht vorlägen, hätte es des Zusatzes „unvorhergesehen“ nicht bedurft, weil jede Inanspruchnahme außerhalb der Sprechstunde und der Einbestellung unter die GOP fiele.
ff) Zudem ist die gehäufte Nebeneinanderabrechnung der GOP 01100 EBM-Ä neben der GOP 05230 EBM-Ä nicht schlüssig dargelegt. Die GOP 05230 vergütet das Aufsuchen der Praxis eines anderen Arztes, im vorliegenden Fall des Operateurs. Geht man – wie vom SG angenommen und vom Klägerbevollmächtigten vorgetragen – von einer zeitlichen Zäsur zwischen der OP und der Inanspruchnahme der Klägerin aus, so fand die Inanspruchnahme nicht im Zusammenhang mit dem Aufsuchen der Praxis des Operateurs statt. Nicht nachvollziehbar ist dann jedoch, wozu der Anästhesist am Tag nach dem Eingriff noch einmal die Praxis des Operateurs aufsuchte, wenn der Operateur an diesem Tag die postoperative Behandlung durchführte. Schmerztherapeutische Leistungen wurden dabei ausweislich der Abrechnungsdaten jedenfalls nicht erbracht (vergleiche hierzu beispielsweise laut Einzelfall-Nachweis die Behandlung der Patienten E. W. am 02.02.2010 und R. S. am 12.01.2010). Demgegenüber trägt der Klägerbevollmächtigte im Schriftsatz vom 19.03.2018 vor, eine zeitliche Zäsur habe in Ausnahmefällen nicht vorgelegen, wenn der Operateur bei einer Nachbehandlung einen bei der Klägerin beschäftigten Anästhesisten unvorhergesehen hinzugezogen habe, zum Beispiel bei Kreislaufproblemen. Um eine nach Uhrzeit mit dem Anästhesisten abgesprochene postoperative Kontrolle habe sich hierbei nicht gehandelt. Eine Hinzuziehung zur postoperativen Behandlung bei gleichzeitiger Abrechnung der GOP 01100 EBM-Ä ist aber insofern realitätsfern, als der Operateur seine Patienten dann in der Zeit zwischen 19.00 Uhr und 22:00 Uhr zur routinemäßigen postoperativen Behandlung einbestellt hätte. Es erscheint zumindest ungewöhnlich, wenn eine reguläre postoperative Kontrolle nach 19.00 Uhr oder am Wochenende stattgefunden haben soll.
Aber auch unterstellt, die Uhrzeiten sind zutreffend, ist davon auszugehen, dass der hinzugezogene Arzt der Klägerin über die Notfallmobilfunknummer der Klägerin gerufen wurde, so dass auch in dieser Konstellation die Inanspruchnahme nicht unvorhersehbar gewesen ist. Auf die Frage, ob die Abrechenbarkeit der GOP 01100 bereits dann ausgeschlossen ist, wenn die Initiative zur Inanspruchnahme nicht vom Patienten selbst, sondern von dem anderen behandelnden Arzt – hier dem Operateur – ausgeht, kommt es insoweit nicht an.
Als Anwendungsfälle für die Nr. 01100 bleiben daher echte Fälle unvorhersehbarer Inanspruchnahme zur kurativen Behandlung außerhalb der Sprechzeiten oder der Teilnahme an einem angebotenen Notfall/Bereitschaftsdienst, etwa der nächtliche Anruf beim Haus- oder Kinderarzt des Vertrauens.
3. Die Befugnis der Beklagten zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung der fehlerhaften Honorarbescheide war auch nicht durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes eingeschränkt.
Die nachträgliche Korrektur eines Honorarbescheides nach den Vorschriften über die sachlich-rechnerisch Richtigstellung ist nicht mehr möglich, wenn die Frist von vier Jahren seit Erlass des betroffenen Honorarbescheides bereits abgelaufen ist (BSGE 89, 90, 103 = SozR 3-2500 § 82 Nr. 3 S. 16 mwN; vgl. zur Hemmung der vierjährigen Ausschlussfrist BSG Urteil vom 12.12.2012 – B 6 KA 35/12 R – SozR 4-2500 § 106a Nr. 10; vgl. im Hinblick auf die Durchführung einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V auch: BSG Urteil vom 15.8.2012 – B 6 KA 27/11 R – SozR 4-2500 § 106 Nr. 37 RdNr. 19 ff; Urteil vom 15.8.2012 – B 6 KA 45/11 R – SozR 4-2500 § 106 Nr. 36 RdNr. 16 ff). Eine Rücknahme des Honorarbescheides ist nach Ablauf der Frist nur noch unter Berücksichtigung der Vertrauensausschlusstatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 3 iVm Abs. 4 Satz 1 SGB X möglich. Diese Fallgruppe ist vorliegend nicht einschlägig, da ersichtlich die Frist von vier Jahren, die nach der Rechtsprechung des BSG am Tag nach der Bekanntgabe des Honorarbescheides beginnt (vgl. BSGE 89, 90, 103 = SozR 3-2500 § 82 Nr. 3 S. 16; BSG Urteil vom 28.3.2007 – B 6 KA 26/06 R – Juris RdNr. 16; BSGE 106, 222, 236 = SozR 4-5520 § 32 Nr. 4, RdNr. 60 mwN), nicht abgelaufen ist. Der Honorarbescheid für das Quartal 2/08 datiert vom 09.10.2008. Die Frist von vier Jahren war daher am 13.03.2012, dem Datum des Erlasses des Berichtigungsbescheides für die Quartale 2/08 bis 3/09, noch nicht abgelaufen. Auch die anderen Fallkonstellationen, die die Befugnis der KÄV zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung aus Vertrauensschutzgesichtspunkten einschränken, liegen nicht vor. Entsprechendes wurde von der Klägerin auch nicht vorgetragen.
Die Berufung hat daher Erfolg. Die streitgegenständlichen Bescheide vom 13.03.20112 und 24.09.2012 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 25.02.2015 sind nicht zu beanstanden, weshalb das Urteil des SG aufzuheben ist und die Klagen abzuweisen sind.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

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