Medizinrecht

Kein Erstattungsanspruch eines Trägers der Arbeitslosenversicherung gegenüber einem Sozialhilfeträger für Unterkunftskosten im Rahmen einer Maßnahme in einer Werkstatt für behinderte Menschen

Aktenzeichen  S 20 SO 190/14

Datum:
13.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 142759
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB III § 12 aF
SGB IX § 5, § 6, § 14 Abs. 4 S. 1, § 40, § 33 Abs. 7 Nr. 1, § 42, § 137

 

Leitsatz

Bei § 137 SGB IX aF handelt es sich nicht um eine spezialgesetzliche Regelung zu den §§ 5 und 6 SGB IX aF sowie § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX aF im Sinne einer speziellen Zuständigkeitsregelung; § 137 SGB IX aF setzt vielmehr eine Zuständigkeitsregelung nach anderen Normen, insbesondere nach den §§ 5 und 6 SGB IX aF voraus. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die notwendigen Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vom 06.07.2017 ihr Einverständnis erklärt haben.
I.
Die allgemeine Leistungsklage ist statthaft und zum örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Nürnberg erhoben worden.
II.
Die Klage ist unbegründet, weil die Klägerin gegen den Beklagten keinen Erstattungsanspruch hat.
Einzig mögliche Anspruchsnorm ist § 14 Abs. 4 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), wonach ein infolge Weiterleitung nach § 14 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 SGB IX zweitangegangener Rehabilitationsträger nach den für ihn selbst geltenden Rechtsvorschriften Kostenerstattung von demjenigen Rehabilitationsträger verlangen kann, der eigentlich ursprünglich materiell-rechtlich zuständig gewesen wäre.
Voraussetzung wäre also, dass für die internatsmäßige Unterbringung des MK im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM der Beklagte materiell-rechtlich zuständig gewesen wäre.
Dies ist in der vorliegenden Fallkonstellation aus Sicht der Kammer jedoch nicht der Fall.
Unstreitig und aus Sicht der Kammer völlig zutreffend ist die Klägerin nach den §§ 5 Nr. 2, § Abs. 1 Nr. 2, 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX zuständiger Rehabilitationsträger für die von ihr bewilligten Leistungen im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM gem. § 40 SGB IX.
Hierzu gehört nach den §§ 112ff Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und insbesondere nach § 127 SGB III in Verbindung mit § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Verpflegung, wenn für die Ausführung einer Leistung eine Unterbringung außerhalb des eigenen oder elterlichen Haushalts wegen Art und Schwere der Behinderung oder zur Sicherung des Erfolgs der Teilhabe notwendig ist.
Durch die erfolgte Maßnahmebewilligung in der Paulinenpflege W. hat die Klägerin auch eine Geeignetheit der Einrichtung bejaht. Dies gilt unabhängig davon, ob hierbei das Wunsch- und Wahlrecht des MK nach § 9 SGB IX Berücksichtigung gefunden hat oder nicht. Insbesondere nach dem eigenen Vortrag der Klägerin ist diese Einrichtung auch deswegen besonders für MK geeignet gewesen, weil diese anders als das Therapeutikum B-Stadt auf Autismus spezialisiert ist und Unterstützung nicht nur in der WfbM, sondern auch im Wohnbereich für den am Asperger-Syndrom leidenden MK bietet.
Dem schließt sich die Kammer an.
Nicht erforderlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Maßnahme im Eingangs- und Berufsbildungsbereich selbst notwendigerweise in W. hätte erbracht werden müssen. Es reicht aus, dass die Maßnahme an sich notwendig und die Einrichtung als geeignet von der Klägerin bewilligt worden ist. Dies ist vorliegend der Fall.
Ansonsten könnte die Klägerin, ohne möglicherweise bestehende Notwendigkeit hierzu, Maßnahmen in WfbMen außerhalb von deren Einzugsbereich bewilligen und die hierfür anfallenden Mehrkosten stets und gleichsam willkürlich auf den Sozialhilfeträger abwälzen, was erkennbar nicht dessen Aufgabe ist (vgl. dazu auch unten).
Erst in einem zweiten Schritt ist nach § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX zu prüfen, ob infolge der konkret bewilligten Rehabilitationsmaßnahme eine Unterbringung notwendig gewesen ist. Diese Unterbringungsnotwendigkeit des MK ist angesichts der Art und Schwere von dessen Behinderung für eine wohnortferne Maßnahme von keinem der Beteiligten an sich in Zweifel gezogen worden.
Auch dem schließt sich die Kammer an.
Das bedeutet aber, dass, bezogen auf die konkret bewilligte Maßnahme in der Paulinenpflege, eine Unterbringungsnotwendigkeit des MK eindeutig gegeben war.
Demzufolge hat die Klägerin selbst neben den eigentlichen Maßnahmekosten im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM auch die zugehörigen Unterkunfts- und Verpflegungskosten selbst zu tragen.
Entgegen der Auffassung der Klägerin wird das vorstehende Ergebnis aber nicht durch die Vorschrift des § 137 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz SGB IX abgeändert.
Es handelt sich hierbei nach Auffassung der Kammer eben nicht um eine spezialgesetzliche Regelung zu den §§ 5 und 6 sowie § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX im Sinne einer speziellen Zuständigkeitsregelung: Vielmehr setzt § 137 SGB IX eine Zuständigkeitsregelung nach anderen Normen, insbesondere nach den §§ 5 und 6 SGB IX voraus.
Würde § 137 SGB IX eine eigene Trägerzuständigkeit festlegen, so müsste dies nicht nur im Bereich der Unterkunfts- und Verpflegungskosten im Sinne des § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX gelten, sondern konsequenterweise immer dann eine neue Zuständigkeit auch für die Gesamtmaßnahme an sich beim Träger der Sozialhilfe begründen, sobald eine WfbM-Maßnahme nicht im Einzugsgebiet der für den Rehabilitanden zuständigen WfbM durch einen anderen Rehabilitationsträger als den Sozialhilfeträger bewilligt würde.
Dies würde zum einen der Grundsystematik der §§ 5 und 6 SGB völlig widersprechen und zum anderen einer Aushöhlung der darin festgelegten Zuständigkeiten und Erweiterung der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger in Bereiche führen, die erkennbar nicht Aufgabe der Sozialhilfe sind und nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung auch nicht sein sollen. Insbesondere könnten andere Rehabilitationsträger gleichsam durch willkürliche, „außerbereichliche“ Maßnahmen eine Zuständigkeit der Sozialhilfeträger in Konstellationen erschaffen, in denen sie klassischerweise und unbestritten nicht zuständig sein sollen.
Für diese Sichtweise sprechen aus Sicht der Kammer darüber hinaus auch systematische Erwägungen, weil die Vorschrift des § 137 SGB IX sich nicht bei den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen des Ersten Kapitels findet, sondern im Zwölften Kapitel, das die Einzelheiten der WfbM-Maßnahme regelt, so wie dies „vor die Klammer gezogen“ für alle Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben im Fünften Kapitel auch die Vorschrift des § 33 Abs. 7 SGB IX bewerkstelligt. Systematisch sind also die Zuständigkeitsregelungen des Ersten Kapitels von den Ausgestaltungsnormen des beispielsweise Fünften und Zwölften Kapitels zu unterscheiden.
Wenngleich dies nicht von der Systematik ausgeschlossen erscheint, so stellt § 137 SGB IX aber auch keine Sondervorschrift zu § 33 Abs. 7 SGB IX dar im Sinne einer abweichenden Zuständigkeitszuweisung. Vielmehr bestimmt letztere, dass zur bewilligten Maßnahme auch die notwendigen Unterkunfts- und Verpflegungskosten dazugehören.
§ 137 SGB IX schränkt dies inhaltlich für außerbereichliche WfbM-Maßnahmen ein im Sinne eines Hinweises auf den nach dem jeweiligen Fachrecht des Trägers oder sich aus den allgemeinen Vorschriften ergebenden Mehrkostenvorbehalt, der im Rechts der Sozialhilfeträger in Form des in der Vorschrift genannten § 9 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) normiert ist.
§ 137 Abs. 1 Satz zweiter Halbsatz ist in erster Linie im Kontext zu sehen mit dem im ersten Halbsatz festgelegten Prinzip der Aufnahme des behinderten Menschen durch diejenige Einrichtung, in deren Einzugsgebiet der Rehabilitand wohnt. Der zweite Halbsatz lockert dieses Prinzip und lässt daneben auch die außerbereichliche Aufnahme zu und weist lediglich daraufhin, dass zum Beispiel der Mehrkostenvorbehalt nach § 9 SGB IX oder andere Regelungen hiervon unberührt bleiben, also der Rehabilitationsträger bei unverhältnismäßigen Mehrkosten dies nach § 9 Abs. 2 SGB XII verweigern darf (im Falle der Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers), oder beispielsweise auch nach § 9 SGB IX in Verbindung mit § 33 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) bei allgemeiner Unangemessenheit (alle Rehabilitationsträger).
Nach Wortlaut („oder andere Regelungen“) und Systematik setzt daher die Vorschrift, die lediglich den Rehabilitationsträgern die entweder nach ihrem Fachrecht oder nach allgemeinen Regeln bestehenden Möglichkeiten der Verweigerung unangemessener Kosten bei einer durch die Vorschrift an sich eröffneten außerbereichlichen Maßnahme offenhält, gerade eine bereits bestehende Trägerzuständigkeit voraus, an Stelle diese abzuändern (vgl. etwa Kommentierung von Hauck/Noftz SGB IX, § 137, RdNr. 10 bis 14, die dieses Normverständnis andeutet bzw. in ihrer Kommentierung voraussetzt).
Insbesondere wäre der Wortlaut („oder andere Regelungen“) völlig redundant, wenn nicht solche Regelungen auch für andere Träger gemeint sein sollen, gleichgeordnet neben denen für den Sozialhilfeträger. Nach Auffassung der Kammer handelt es sich hierbei um § 9 SGB IX und § 33 SGB I sowie um eine dynamische Öffnungsklausel für die gesetzgeberische Einführung ähnlicher Einschränkungen in den jeweiligen Fachgesetzen der jeweils zuständigen Rehabilitationsträger.
Ansonsten hätte der Gesetzgeber § 137 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz ganz anders fassen müssen (beispielsweise: „Für Maßnahmen außerhalb des Einzugsbereiches einer WfbM, in der der Rehabilitand wohnt, ist stets der Träger der Sozialhilfe zuständig.“ O.ä.).
Nach diesem, aus Sicht der Kammer aus den dargestellten Gründen zutreffenden Verständnis des § 137 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz SGB IX begründet dieser daher keine von den §§ 5, 6 und 42 SGB IX abweichende Zuständigkeit, so dass die nach diesen Normen gegebene Zuständigkeit der Klägerin erhalten bleibt.
Da danach die Klägerin selbst auch für die geltend gemachten Unterkunfts- und Verpflegungskosten weiterhin zuständig ist, geht der gegen den Beklagten gerichtete Erstattungsanspruch ins Leere.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass nach Auffassung der Kammer der Klägerin hinsichtlich der Unterbringungskosten gegenüber MK eine Angemessenheitsprüfung nach § 9 SGB IX in Verbindung mit § 33 SGB I unbenommen gewesen wäre.
Die vorliegende Leistungsklage ist unbegründet und daher abzuweisen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit den §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel