Medizinrecht

Ophthalmologische Blindheitsbegutachtung – Faktische Blindheit

Aktenzeichen  L 15 BL 11/15

Datum:
27.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG BayBlindG Art. 1 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Bei der Blindheitsbegutachtung können im Rahmen von Plausibilitätskontrollen ergänzend auch die Ergebnisse von Untersuchungen (objektive Testverfahren) berücksichtigt werden, die nicht mit Landoltringen (Fernvisus) und dem Goldmann Perimeter (mit der Reizmarke III/4e) durchgeführt worden sind (Fortsetzung der Rechtsprechung des Senats vom 31.01.2013, Az. L 15 BL 6/07). Dies ist regelmäßig sogar geboten und zählt zum Standard jeder ophthalmologischen Blindheitsbegutachtung. (amtlicher Leitsatz)
2. Weiter können Verhaltensbeobachtungen berücksichtigt werden (Fortsetzung der Rechtsprechung des Senats vom 16.09.2015, Az. L 15 BL 2/13). (amtlicher Leitsatz)
3. In besonderen Ausnahmefällen spezieller Krankheitsbilder ist die Annahme von Blindheit auch außerhalb der normierten Fallgruppen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bzw. der Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft nicht von vornherein ausgeschlossen. Voraussetzung für die Berücksichtigung ist jedoch, dass feststeht, welche Visus und Gesichtsfeldwerte im Einzelnen erreicht werden. Ein allgemeiner, pauschaler Vergleich genügt nicht (Fortsetzung der Rechtsprechung des Senats vom 05.07.2016, Az. L 15 BL 17/12) (amtlicher Leitsatz)

Tenor

I.
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 6. November 2015 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin blind im Sinne des BayBlindG ist und ihr deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das SG zu Recht verneint. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 09.05.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.08.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG v. 24.07.2013 (GVBl. S. 464) erhalten blinde Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), an die sich der Senat gebunden fühlt, die Formulierung „zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen“ keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (vgl. BSG, Urteil vom 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R).
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind. Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der DOG folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe VG, Teil A Nr. 6):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Blindheit im Sinne des BayBlindG ist nicht nachgewiesen. Es liegt weder Lichtlosigkeit gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG vor noch sind die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 und 2 BayBlindG erfüllt. Es ist nicht zur Gewissheit des Senats dargelegt, dass die Klägerin das Augenlicht vollständig verloren hätte oder dass ihre Sehschärfe entsprechend der gesetzlichen Vorgabe auf 0,02 oder weniger herabgesunken wäre (Nr. 1 der genannten Vorschrift). Gleiches gilt für eine der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachtende Sehstörung (Nr. 2).
Wie der Senat wiederholt (vgl. z. B. Urteile vom 20.01.2015, Az.: L 15 BL 16/12, und vom 05.07.2016, Az.: L 15 BL 17/12) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R), d. h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 1/92).
1. Lichtlosigkeit Dass der Klägerin das Augenlicht vollständig fehlen würde, ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens auszuschließen; hierauf muss angesichts der vielen vorliegenden einschlägigen Befunde nicht näher eingegangen werden.
2. Faktische Blindheit Daran, dass bei der Klägerin faktische Blindheit im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 oder 2 BayBlindG vorliegen würde, hat der Senat erhebliche Zweifel.
Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Der Senat stützt sich dabei insbesondere auf das überzeugende und nachvollziehbar begründete Gutachten von Prof. Dr. K. und seine ergänzende Stellungnahme. Der Gutachter hat die bei der Klägerin vorliegenden (Seh-)Beeinträchtigungen vollständig erfasst und unter Beachtung der maßgeblichen Vorgaben zutreffend gewürdigt. Der Senat macht sich die Feststellungen des genannten Sachverständigen, die auch in Übereinstimmung mit der vorliegenden Befunddokumentation stehen, zu Eigen.
Danach leidet die Klägerin an Myopia magna und einem ausgeprägten Fundus myopicus.
Zwar hat die Untersuchung der Klägerin durch Prof. Dr. K. vom 23.01.2015 nur noch folgende Visuswerte ergeben: Rechts, links und beidäugig für die Ferne mit Korrektur (eigene Brille): Handbewegungen.
Auch haben sich bei der Untersuchung im Muster-VECP keine Potentiale reproduzieren lassen und bei der Gesichtsfelduntersuchung am Bjerrumschirm sind keine Angaben erhältlich gewesen. Zudem war das Gesichtsfeld der Klägerin deutlich eingeschränkt; hier haben sich die folgenden Werte ergeben: – Rechtes Auge: Außengrenzen zentral mit einer Ausdehnung von vertikal 20 Grad und horizontal 5 Grad; Restinseltemporal mit Ausdehnung horizontal von 20 Grad und vertikal 15 Grad. – Linkes Auge: Außengrenzen parazentral mit einer Ausdehnung von 5 Grad horizontal und 5 Grad vertikal; Restinsel mit einer Ausdehnung von 10 Grad horizontal und 5 Grad vertikal; weitere Restinsel mit einer horizontalen und vertikalen Ausdehnung von 5 Grad.
Dennoch ist faktische Blindheit der Klägerin im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 und 2 BayBlindG nicht nachgewiesen. Wie der Sachverständige Prof. Dr. K. plausibel dargelegt hat, bestehen zum einen Diskrepanzen zwischen den subjektiven Angaben der Klägerin und dem objektiven Befund. Auch stehen die objektiven Funktionsbefunde mit dem Ausmaß der Sehminderung, wie sie die Klägerin angegeben hat, nicht im Einklang. Weiter erklärt auch der morphologische Befund die angegebene Sehminderung nicht, vor allem nicht den angeblichen massiven Visusverfall. Schließlich sprechen auch die vom Sachverständigen geschilderten Verhaltensbeobachtungen gegen die von der Klägerin angegebene Sehleistung. Letztlich lassen sich, wie Prof. Dr. K. nachvollziehbar dargestellt hat, weder die tatsächlichen Visuswerte noch die Grenzen des klägerischen Gesichtsfeldes sicher bestimmen.
1. Entsprechend den plausiblen Feststellungen des Sachverständigen ist zwischen den subjektiven Angaben der Klägerin und dem objektiven Befund eine zentrale Diskrepanz dahingehend festzustellen, dass die Klägerin bei der Untersuchung am 23.01.2015 wie dargelegt zwar nur noch Handbewegungen als (subjektive) Sehschärfe angegeben hat. Andererseits hat sie bei der Gesichtsfelduntersuchung rechts jedoch eine Ausdehnung von 20 und 15 Grad gezeigt (siehe oben). Bei einer Sehschärfe von Handbewegungen kann die Testmarke III/4 jedoch nicht erkannt werden, worauf Prof. Dr. K. nachvollziehbar hingewiesen hat und was dem Senat aus zahlreichen vergleichbaren Verfahren bereits bekannt ist. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang auch, weshalb die Klägerin trotz der subjektiv angegebenen schlechten Sehwerte und dem somit eingetretenen Visusverfall zwischen dem 14.04.2014 (Untersuchung durch den behandelnden Augenarzt Dr. L., Fernvisus rechts 0,1) und der Begutachtung durch den Sachverständigen am 23.01.2015 (nur noch Handbewegungen) keine medizinische Hilfe in Anspruch genommen hat. Wie der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen hat, wäre – auch aus Sicht des Senats – zu erwarten gewesen, dass die Klägerin bei einem so raschen Verlust des Restsehvermögens den behandelnden Augenarzt oder die Klinik aufgesucht hätte, was jedoch offensichtlich nicht der Fall gewesen ist.
In diesem Zusammenhang bleibt für den Senat auch unerklärlich, weshalb die Klägerin bei der augenärztlichen Begutachtung vom 16.01.2012 eine Sehschärfe rechts von 0,03 angegeben hat (Angaben beim vom Beklagten beauftragten Gutachter Dr. P.), obwohl dann durch den späteren Befund vom 14.04.2014 (siehe oben) wieder bessere Werte erreicht worden sind. Es liegt daher der Verdacht nahe, dass die Klägerin bei der Begutachtungsuntersuchung (16.01.2012) unzutreffende Angaben gemacht hat. Der Senat hat daher auch Zweifel an den von der Klägerin zuletzt gemachten Angaben zu Sehschärfe und Gesichtsfeld.
2. Die Angaben der Klägerin bzw. Sehschärfewerte von nur noch Handbewegungen und massiven Gesichtsfeldeinschränkungen sind auch nicht mit einem auslösbaren OKN vereinbar. Auch dies ergibt sich aus den plausiblen Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. und ist dem Senat ebenfalls aus zahlreichen vergleichbaren Problemstellungen bekannt. Nicht nachvollziehen kann der Senat hingegen das pauschale Bestreiten der Klägerseite bzw. die Argumentation, ein auslösbarer OKN sage nur aus, dass Netzhaut und Sehnerv zumindest zu einem strukturellen Sehen in der Lage seien, über die Sehschärfe jedoch keine Aussage getroffen werden könne. Denn es entspricht dem anerkannten und im Wesentlichen unstrittigen medizinischen Erfahrungswissen, dass eine Prüfung des OKN zur Abschätzung der Sehschärfe (ohne Antworten von Seiten des Patienten) herangezogen werden kann (vgl. z. B. Lachenmeyer, Begutachtung in der Augenheilkunde, 2. Aufl., S. 71 ff.), auch wenn hier wie bei allen anderen objektiven Testverfahren generell durchaus die Möglichkeit der Fehleinschätzung nicht völlig ausgeschlossen ist. Wie der Beklagte zusammenfassend darauf hingewiesen hat, wird die Sehschärfe, bei der noch ein OKN ausgelöst werden kann, in der medizinischen Fachwelt unterschiedlich angesetzt. Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass ein auslösbarer OKN eine oberhalb der Blindheitsgrenze liegende Sehschärfe voraussetzt und bei einem (tatsächlich) auf Handbewegungen reduzierten Visus negativ ausfällt. Wie Prof. Dr. K. fundiert und plausibel dargelegt hat, beträgt bei einem auslösbaren OKN – in der vorliegend mit der Catford-Trommel durchgeführten Untersuchung – die Sehschärfe mehr als Handbewegungen. Dies gilt unabhängig von der Entfernung der Nystagmustrommel (s. o.).
Im Hinblick auf die bei der Klägerin nicht ableitbaren Potentiale bei der VECP-Messung folgt der Senat im Übrigen ebenfalls der plausiblen Darlegung des Sachverständigen, dass nicht ausschließbar gewesen ist, dass die Klägerin mit Hilfe fehlender Fixation die Untersuchung verfälscht haben könnte. Dieses Argument wird auch nicht dadurch entkräftet, dass es nicht bereits im ursprünglichen Gutachten enthalten gewesen, sondern erst in der ergänzenden Stellungnahme aufgezeigt worden ist, auch wenn eine frühzeitigere Diskussion dieser Problematik sicher wünschenswert gewesen wäre. Zudem ist auf die plausible Darlegung des Beklagten hinzuweisen, dass die Pupillenreaktion auf Licht sowohl bei direkter als auch bei indirekter Beleuchtung eindeutig positiv gewesen ist, was bedeutet, dass die Lichtreize vom Auge grundsätzlich weitergeleitet werden, so dass die Blitz-VECP reproduzierbar hätten sein müssen, wenn eine adäquate Mitarbeit der Klägerin erfolgt wäre.
Im Übrigen kann der Senat die Argumentation der Klägerseite nicht nachvollziehen, dass eine Objektivierung der subjektiven Angaben des sehbehinderten Menschen nur bei Zweifeln im Raum stehe. Davon abgesehen, dass von fehlenden Zweifeln des Sachverständigen im vorliegenden Fall nicht die Rede sein kann, dürfte grundsätzlich unstrittig sein, dass Gutachter generell die gewonnenen Befunde zur Verifizierung etc. durch objektive Testverfahren zu überprüfen haben. Dies ist sogar geboten und Standard jeder ophthalmologischen Blindenbegutachtung (vgl. im Einzelnen hierzu die ausführlichen Darlegungen im Urteil des Senats vom 31.01.2013, Az.: L 15 BL 6/07).
3. Zudem kann der morphologische Befund die angegebene Sehminderung nicht erklären. Zwar ist unbestritten, dass, worauf die Klägerin hingewiesen hat, Dehnungen der Netzhaut über Jahre hinweg zu erheblichen Schäden an dieser führen können. Unerklärlich bleibt jedoch, weshalb die Sehschärfe am 11.01.2010 rechts noch 0,2 und links 0,1, bei etwa gleichem Organbefund jedoch später nur noch Handbewegungen betragen haben soll.
4. Auch die von Prof. Dr. K. geschilderten Verhaltensbeobachtungen, insbesondere dass die Klägerin ihr dargereichte Gegenstände zielgerichtet habe greifen können und im Untersuchungszimmer gut orientiert gewesen sei – sprechen gegen die von der Klägerin angegebenen Sehschärfewerte bzw. Gesichtsfeldgrenzen. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass der erfahrene und fachkundige Sachverständige Prof. Dr. K. „eine reine Schutzbehauptung“ gebraucht haben könnte; sicherlich wäre eine Beschreibung der Verhaltensbeobachtungen im Hauptgutachten wünschenswert gewesen. Letztlich weist der Senat jedoch ausdrücklich darauf hin, dass nach seiner Rechtsprechung einer Verhaltensbeobachtung grundsätzlich ohnehin nur ergänzende Bedeutung zukommt (vgl. das Urteil vom 16.09.2015, Az.: L 15 BL 2/13). Sie erlaubt grundsätzlich nur eine grobe Einschätzung des Sehvermögens und ist nicht geeignet, zwischen einer hochgradigen Sehbehinderung und einer Blindheit im Sinne des BayBlindG mit der erforderlichen Zuverlässigkeit zu differenzieren (vgl. im Einzelnen a. a. O.). Allerdings ermöglicht sie oftmals, wie auch vorliegend, einen aufschlussreichen ergänzenden Blick auf die Gesamtsituation der Klägerin hinsichtlich ihres Sehvermögens.
Somit sind die gesetzlich vorgegebenen Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit (Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 und 2 BayBlindG) vorliegend nicht erfüllt. Zwar hat die Klägerin zutreffend darauf hingewiesen, dass in besonderen Ausnahmefällen (spezieller Krankheitsbilder) die Annahme von Blindheit auch außerhalb der Fallgruppen der DOG bzw. VG nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Auch unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des Senats (vgl. das Urteil vom 31.01.2013, a. a. O.) kommt vorliegend der Nachweis von Blindheit nicht in Betracht. Grund hierfür ist, dass hier bereits (massive) Zweifel am Vorliegen der angegebenen Visus- und Gesichtsfeldwerte bestehen; für die Annahme von Blindheit auch außerhalb der Fallgruppen der DOG bzw. der VG ist jedoch erforderlich, dass fest steht, welche Visus- und Gesichtsfeldwerte im Einzelnen erreicht werden. Ein allgemeiner, pauschaler Vergleich genügt nicht (vgl. das Urteil des Senats vom 05.07.2016, Az.: L 15 BL 17/12). Diese Werte stehen vorliegend jedoch gerade nicht fest.
Im Übrigen folgt der Senat der Auffassung des Beklagten nicht, dass die Bewältigung der (schwierigen) Lebenssituation der hochgradig sehbehinderten Klägerin gegen deren Blindheit sprechen würde, im Einzelnen also deshalb, weil die Klägerin alleine wohnt und zu Hause auch alleine zurechtkommt (Haushaltserledigung, Kochen etc.). Denn dieser pauschale Rückschluss stellt sich aus Sicht des Senats als unzulässig dar. Jedenfalls fehlen vorliegend jegliche detaillierte Angaben zu den von der Klägerin konkret durchgeführten Tätigkeiten und Belege dafür, dass dies bei einem Sehvermögen von 0,02 und weniger jeweils zwingend unmöglich wäre.
Somit mangelt es vorliegend am notwendigen Beweis. Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. z. B. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders., SGG, 11. Aufl., § 103, Rdnr. 19a, mit Nachweisen der höchtsrichterlichen Rspr.). Die Klägerin muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen tragen, dass eine (große) Ungewissheit bezüglich der für sie günstigen Tatsachen verblieben ist. Denn für das Vorliegen der Voraussetzungen der Blindheit gemäß Art. 1 Abs. 2 BayBlindG trägt der sehbehinderte Mensch die objektive Beweislast. Der Senat hat alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft.
Anlass für weitere Ermittlungen durch den Senat und erst recht eine verfahrensrechtliche Pflicht zu weiteren Ermittlungen haben nicht bestanden.
Der Antrag des Bevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung auf weitere Ermittlungen ist daher abzulehnen gewesen. Dazu bedurfte es keines gesonderten Beschlusses vor der Entscheidung durch Urteil. Vielmehr kann, wenn derartigen Anträgen nicht stattgegeben wird, unmittelbar die Entscheidung in der Sache ergehen, wobei die (Beweis-)Anträge in der Urteilsbegründung abzuhandeln sind (vgl. die Urteile des Senats vom 05.02.2013, Az.: L 15 VG 22/09, und vom 20.06.2016, Az.: L 15 SB 116/15).
Vorliegend muss nicht geklärt werden, ob der o.g. Antrag der Klägerseite überhaupt die Anforderungen an einen förmlichen Beweisantrag erfüllt. Denn weitere Ermittlungen stehen für den Senat nicht einmal im Raum. Mit dem Gutachten einschließlich der ergänzenden Stellungnahme von Prof. Dr. K. liegt – wie oben im Einzelnen dargelegt – ein fundiertes, plausibles und überzeugendes Sachverständigengutachten vor, das alle medizinischen Fragen nachvollziehbar und umfassend beantwortet. Weiterer Klärungsbedarf besteht nicht. Der Senat weist auch darauf hin, dass er beim Sachverständigen keine Anhaltspunkte für Objektivitätsdefizite etwa deshalb sieht, weil dieser auf die Rolle des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes e.V. hinsichtlich der Beratung von sehbehinderten Menschen zum Verhalten während einer gutachtlichen Untersuchung hingewiesen hat. Ungeachtet der Frage, ob entsprechende Hinweise dem Grunde nach berechtigt und an dem beschriebenen Ort angezeigt gewesen sind, ergibt sich daraus nicht, dass die Gefahr mangelnder Objektivität etc. bestanden hat. So hat denn auch die Klägerseite keinen Befangenheitsantrag gestellt.
Soweit die Klägerseite die Einholung eines Gutachtens eines anderen Arztes für wünschenswert gehalten hat, wäre ein Antrag nach § 109 SGG der richtige prozessuale Weg hierzu gewesen. Jedoch hat die Klägerin (auch) einen solchen Antrag nicht gestellt.
Nach alldem kann die Berufung keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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