Medizinrecht

Popularklage, Verletzung, Anordnung, Widerspruch, Geltungsdauer, Antragsteller, Erlass, Schriftsatz, Grundgesetz, Verordnungsgeber, Teilhabe, Bestimmung, Beurteilung, Kinder, einstweiligen Anordnung, Erlass einer einstweiligen Anordnung, Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

Aktenzeichen  Vf. 21-VII-21

Datum:
12.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 7686
Gerichtsart:
VerfGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verfassungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Keine Außervollzugsetzung der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung.

Tenor

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgewiesen.
2. Dem Antragsteller wird eine Gebühr von 1.500 € auferlegt.

Gründe

I.
1. Der Antragsteller wendet sich im Popularklageverfahren unter anderem gegen die Zwölfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (12. BayIfSMV) des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 5. März 2021 (BayMBl Nr. 171, BayRS 2126-1-16-G).
Diese Verordnung ist gemäß ihrem § 30 in der ursprünglichen Fassung am 8. März 2021 in Kraft getreten und tritt in der zuletzt durch Verordnung vom 9. April 2021 (BayMBl Nr. 261) mit Wirkung vom 12. April 2021 geänderten Fassung gemäß § 1 Nr. 11 der Verordnung vom 25. März 2021 (BayMBl Nr. 224) mit Ablauf des 18. April 2021 außer Kraft. Die Verordnung ist gestützt auf § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1, § 28 a des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl I S. 1045) sowie in Verbindung mit § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV) vom 28. Januar 2014 (GVBl S. 22, BayRS 103-2-V).
Der Antragsteller wandte sich zunächst mit Schriftsatz vom 22. Februar 2021 gegen Bestimmungen der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (11. BayIfSMV), und zwar insbesondere gegen die Bestimmungen über das Abstandsgebot (damaliger § 1 Abs. 1), die Kontaktdatenerfassung (damaliger § 1 Abs. 3), die allgemeine Ausgangsbeschränkung (damaliger § 2), die nächtliche Ausgangssperre (damaliger § 3), die Kontaktbeschränkung (damaliger § 4) sowie gegen die Einschränkungen bei Veranstaltungen (damaliger § 5), bei Versammlungen (damaliger § 7, insoweit fälschlich genannt § 8), bei der Ausübung von Freizeitsport (damaliger § 10 Abs. 1), bei Freizeiteinrichtungen (damaliger § 11), für Handels- und Dienstleistungsbetriebe und Märkte (damaliger § 12), für Gastronomen (damaliger § 13), für Beherbergungsbetriebe (damaliger § 14), für Tagungen, Kongresse und Messen (damaliger § 15), für Schulen (damaliger § 18) und für Tagesbetreuungsangebote für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige (damaliger § 19). Mit Schriftsatz vom 1. März 2021 beantragte er diesbezüglichen einstweiligen Rechtsschutz durch Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Mit Schriftsatz vom 8. März 2021 erweiterte er seinen Popularklageantrag auf die zwischenzeitlich in Kraft getretene Zwölfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verfolgt er nur noch insoweit weiter.
Zur Begründung führt er aus, nach genauer Prüfung der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, den darin festgelegten Schwellenwerten und wann welche Konsequenzen aufträten, sei nicht zu erkennen, dass eine deutliche Entlastung des Drucks auf die Bürger stattfinde oder stattfinden werde. Mit dem derzeitigen Ansteigen der Inzidenz-Werte komme es zu den fast gleichen Auswirkungen wie in der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Damit verstoße die Zwölfte ebenso wie die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung gegen die Bayerische Verfassung und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in Bezug auf die Menschenwürde (Art. 100 BV, Art. 1 GG). In den bisherigen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs sei die von ihm im Kern aufgeworfene Frage nicht hinreichend geklärt worden.
Die vom Verfassungsgerichtshof angenommene verfassungsrechtliche Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit des Staates im Zusammenhang mit der Verhinderung der Verbreitung der Krankheit Covid-19 berücksichtige nicht, dass diese Schutzpflicht gerade nicht nur für die kleinere vulnerable Gruppe, sondern mindestens gleichwertig auch für die viel größere Gruppe, die als nicht vulnerabel einzustufen sei, gelte. Durch die im Zuge der Ersten bis Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung erlassenen Maßnahmen kämen viele Menschen zu Schaden, die ohne diese sehr stark eingreifenden Maßnahmen keinen Schaden (an Leib und gegebenenfalls Leben) hätten. Die negativen Folgen der Maßnahmen auf die psychische und in Folge physische Gesundheit der Kinder, Jugendlichen und der sonstigen nicht vulnerablen Bevölkerung würden nicht berücksichtigt, obwohl das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 15. Februar 2006 mit dem Az. 1 BvR 357/05 entschieden habe, dass ein Leben von Seiten des Staates nicht gegen ein anderes abgewogen werden dürfe; Gleiches gelte für die Gesundheit von Menschen. Ansonsten werde nach dieser Rechtsprechung ein Mensch zum bloßen Objekt des Staates gemacht und dessen Menschenwürde verletzt. Bisher fehle es an dem zu führenden Nachweis, dass keine Menschen in ihrer körperlichen und psychischen Unversehrtheit durch die Maßnahmen der Verordnung beeinträchtigt würden. Demnach gehe es im Kern um die Klärung der Frage, ob entgegen dem Abwägungsverbot des Bundesverfassungsgerichts in der genannten Entscheidung ein Leben gegen ein anderes abgewogen werden dürfe oder eine Gesundheit gegen die andere. Es handle sich daher nicht um eine Frage der Einschränkung von einzelnen Grundrechten, sondern es gehe vor allem um die Menschenwürde, wie vom Bundesverfassungsgericht formuliert. Für den Schutz von vulnerablen Personen, die insbesondere in Einrichtungen wie Pflege- oder Altersheimen oder Krankenhäusern infiziert würden, gebe es alternative Maßnahmen zu den Verboten.
2. Die Bayerische Staatsregierung hat sich mit Stellungnahme vom 7. April 2021 zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung geäußert. Sie hält ihn für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.
Der Bayerische Landtag hatte Gelegenheit zur Äußerung.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
1. Der Antrag ist im Hinblick auf das pauschale Vorbringen des Antragstellers bereits unzulässig. Der Antragsteller benennt schon keine einzige Bestimmung der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, deren Außervollzugsetzung er konkret anstrebt. Soweit er wiederholt auf die Begründung seiner Popularklage bezüglich der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 22. Februar 2021 verweist, ist darauf hinzuweisen, dass die einzelnen Bestimmungen der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in weiten Bereichen inhaltlich oder von der Normbezeichnung her von den vom Antragsteller genannten Bestimmungen der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung abweichen, wobei die allgemeine Ausgangsbeschränkung ganz entfallen ist. Art. 55 Abs. 1 Satz 2 VfGHG verlangt aber grundsätzlich, dass ein Antragsteller hinsichtlich jeder einzelnen Regelung, die er für verfassungswidrig hält, substanziiert darlegt, inwiefern diese nach seiner Meinung in Widerspruch zu einer Grundrechtsnorm der Bayerischen Verfassung steht; auch genügt nicht die Rüge einer Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes (ständige Rechtsprechung; vgl. z. B. VerfGH vom 7.3.2019 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 39 m. w. N.). Daran fehlt es hier. Soweit etwa betroffene Vorschriften der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung seit der Erweiterung der Popularklage mit Schriftsatz vom 8. März 2021 relevante Änderungen erfahren haben, kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung auch schon deshalb nicht in Betracht, weil der Antragsteller nur die ursprüngliche Fassung angegriffen hat und sich sein Sachvortrag zu den Änderungen in keiner Weise verhält.
2. Der Antrag ist jedenfalls insgesamt unbegründet.
Der Verfassungsgerichtshof hat bereits wiederholt zu den Vorgängerregelungen in der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (vgl. VerfGH vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20 – juris; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris; vom 29.1.2021 – Vf. 96-VII-20 – juris; vom 1.2.2021 – Vf. 98-VII-20 – juris) und zuletzt auch für verschiedene Vorschriften der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in der bis 26. März 2021 geltenden Fassung (vgl. VerfGH vom 22.3.2021 – Vf. 23-VII-21 – juris) entschieden, dass die Voraussetzungen für eine vorläufige Außervollzugsetzung der je in Rede stehenden Verordnungsbestimmungen nicht vorliegen. Auf die Ausführungen in diesen Entscheidungen, insbesondere zum Prüfungsmaßstab (vgl. zuletzt VerfGH vom 22.3.2021 – Vf. 23-VII- 21 – juris Rn. 12), wird Bezug genommen.
Der Verfassungsgerichtshof vermag auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Antragstellers und mit Blick auf die (weiter-)geltenden Regelungen der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung und das aktuelle Pandemiegeschehen keine Gründe zu erkennen, die im Interesse der Allgemeinheit eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile unabweisbar machen und eine Außervollzugsetzung der angegriffenen Regelungen rechtfertigen würden.
a) Bei überschlägiger Prüfung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Popularklage in der Hauptsache offensichtlich erfolgreich sein wird.
aa) Dies ergibt sich schon daraus, dass bei der gebotenen überschlägigen Prüfung die Popularklage des Antragstellers im Hinblick auf Regelungen der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung mangels ausreichend substanziierten Vortrags unzulässig ist (vgl. oben unter 1.).
bb) Es ist auch in der Sache weiterhin nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber bei Erlass und Verlängerung der Geltungsdauer der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung offensichtlich die bundesrechtlich durch die Ermächtigung in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1, § 28 a IfSG eröffneten Spielräume überschritten oder unter Verletzung von Grundrechten der Bayerischen Verfassung ausgefüllt haben könnte (zum Prüfungsmaßstab bei auf bundesrechtlicher Ermächtigung beruhender Landesverordnung etwa VerfGH vom 1.2.2021 – Vf. 98-VII-20 – juris Rn. 16; vom 9.2.2021 – Vf. 6-VII-20 – Rn. 40, 60 m. w. N.; vom 22.3.2021 – Vf. 23-VII-21 – juris Rn. 15 m. w. N.). Insbesondere ist weiterhin nicht zu erkennen, dass er seine verfassungsrechtliche Pflicht zur strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit bei Fortschreibung der – teilweise schwerwiegenden – Grundrechtseingriffe verletzt hat. Das Vorbringen des Antragstellers gibt keinen Anlass für eine andere Beurteilung.
(1) In der vorangegangenen Entscheidung vom 22. März 2021 (Vf. 23-VII-21 – juris) hat der Verfassungsgerichtshof insbesondere ausgeführt, dass bei der Beurteilung von Maßnahmen im Zusammenhang mit der Verhinderung der Verbreitung der Krankheit COVID-19 allgemein zu berücksichtigen sei, dass der Staat wegen seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit zum Handeln grundsätzlich nicht nur berechtigt, sondern auch verfassungsrechtlich verpflichtet sei. Zwar lasse sich nicht jegliche Freiheitsbeschränkung damit rechtfertigen, dass sie dem Schutz der Grundrechte Dritter diene. Vielmehr habe der Staat stets einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Freiheit der einen und dem Schutzbedarf der anderen zu schaffen. Die verfassungsrechtliche Prüfung der beanstandeten Regelungen müsse im Blick behalten, dass die Zwölfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vor dem Hintergrund einer weiterhin besorgniserregenden Entwicklung des Infektionsgeschehens in Deutschland und im Freistaat Bayern seit Oktober 2020 erlassen worden sei. Die seit dem 2. November 2020 ergriffenen Maßnahmen hätten bisher nicht zum landesweiten Erreichen einer 7-Tage-Inzidenz von höchstens 50 geführt, bei der erfahrungsgemäß eine Kontaktpersonennachverfolgung durch die Gesundheitsämter eher gewährleistet werden könne. Der zu Beginn des Jahres 2021 zeitweilig festzustellende Rückgang der gemeldeten Neuinfektionen habe sich in den letzten Wochen nicht fortgesetzt; die Fallzahlen nähmen inzwischen insbesondere aufgrund der zunehmenden Verbreitung der deutlich ansteckenderen Virusvariante B.1.1.7 wieder deutlich zu. Trotz eines tendenziellen Rückgangs der durch COVID-19 verursachten Todesfälle in den letzten Wochen habe sich der zuvor kontinuierliche Rückgang der COVID-19-Fallzahlen auf Intensivstationen in weiten Bereichen nicht mehr fortgesetzt. Die Intensivstationen der bayerischen Krankenhäuser wiesen weiterhin eine insgesamt hohe Auslastung auf. In Anbetracht dieser teilweise gegenläufigen Entwicklungen des Infektionsgeschehens könne die prinzipielle Entscheidung des Verordnungsgebers, an den in der Vergangenheit getroffenen Maßnahmen festzuhalten und nur in Teilbereichen unter engen Voraussetzungen Lockerungen zu erproben, nicht beanstandet werden. Eine substanzielle Veränderung gegenüber der Gesamtsituation, die dem Erlass der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung und den dazu ergangenen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs zugrunde lag, lasse sich nicht feststellen.
(2) Der Antragsteller bestreitet das (Weiter-)Bestehen der durch Covid-19 verur sachten Gefahrenlage nicht, sieht eine solche Gefahrenlage aber nur für die sog. vulnerable Gruppe als gegeben an und ist der Auffassung, dass insbesondere die beschlossenen Berufsverbote, Schulschließungen, Sportverbote, Ausgangssperren, Kontaktverbote, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote die ansonsten nicht vulnerable Gruppe von Menschen psychisch und physisch krank machen könnten, was der Schutzpflicht des Staates für das Leben und die Gesundheit seiner Bürger widerspreche und daher unzulässig sei. Er beruft sich dabei auf das zum Luftsicherheitsgesetz ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006 (BVerfGE 115, 118), dem er entnimmt, dass das Leben und die Gesundheit der jüngeren bzw. nicht vulnerablen Personen nicht zum Schutz von Risikogruppen durch freiheitsbeschränkende Maßnahmen der Verordnung aufs Spiel gesetzt werden dürfe, solange eine mögliche Gesundheitsgefährdung, insbesondere psychischer Art, bei diesen nicht belegbar ausgeschlossen werden könne.
Damit verkennt der Antragsteller den Aussagegehalt dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Dieses betraf eine Fallgestaltung, wonach eine Vorschrift des Luftsicherheitsgesetzes den gezielten Abschuss eines mit Besatzung und Passagieren besetzten Luftfahrzeugs erlauben wollte, um andere Personen, gegen die das Flugzeug als Angriffswaffe eingesetzt werden sollte, zu retten, wobei die Flugzeugbesatzung und -passagiere mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet worden wären. Eine solche Regelung hat das Bundesverfassungsgericht als gegen die Menschenwürde verstoßend angesehen, weil hier Personen nur noch als bloße Objekte einer Rettungsaktion zum Schutz anderer behandelt würden. Diese Rechtsprechung ist auf die vorliegende Fallgestaltung schon deshalb nicht übertragbar, weil die in den Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen angeordneten Freiheitsbeschränkungen nicht zielgerichtet das Leben bzw. die Gesundheit der von den Freiheitsbeschränkungen betroffenen Personen gefährden wollen, sondern mögliche Gesundheitsgefährdungen allenfalls – nicht beabsichtigte – Folgewirkungen solcher Beschränkungen sind.
Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluss vom 13. Mai 2020 (NVwZ 2020, 876), auf den der Verfassungsgerichtshof insbesondere im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit in seinen Entscheidungen wiederholt hingewiesen hat, klargestellt, dass es eine rechtlich unzutreffende Vorstellung von der Bedeutung der Grundrechte (des Grundgesetzes) sei, wenn angenommen werde, der Staat dürfe nicht Freiheiten eines Bürgers einschränken, um Schaden von der Gesundheit oder dem Leben anderer Menschen abzuwenden. Danach ist der Staat nach dem Grundgesetz – dies gilt auch für die Bayerische Verfassung – nicht darauf beschränkt, den Schutz gesundheits- und lebensgefährdeter Menschen allein durch Beschränkungen ihrer eigenen Freiheit zu bewerkstelligen, vielmehr darf der Staat Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann (BVerfG, a. a. O., Rn. 9). Die Annahme des Antragstellers, die Inanspruchnahme der Freiheit nicht vulnerabler Personen zum Schutz von Risikogruppen sei wegen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde per se verfassungswidrig, wenn es keine Nachweise dafür gebe, dass die von den Maßnahmen Betroffenen nicht in ihrer Gesundheit verletzt würden, trifft demnach nicht zu.
Auch wenn, was außer Frage steht, die Vorschriften der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (ebenso wie die Vorschriften der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung) – zum Teil ganz erheblich – in den Schutzbereich von Freiheitsgrundrechten der Bayerischen Verfassung eingreifen, macht dies die Maßnahmen daher nicht von vornherein verfassungswidrig. Denn die Grundrechte der Bayerischen Verfassung sind entweder ausdrücklich einschränkbar oder unterliegen, soweit die Rechte vorbehaltlos gewährleistet werden, verfassungsimmanenten Schranken (vgl. VerfGH vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 20 m. w. N.). Wie oben unter (1) bereits ausgeführt, lässt sich zwar nicht jegliche Freiheitsbeschränkung damit rechtfertigen, dass sie dem Schutz der Grundrechte Dritter diene; vielmehr hat der Staat im Rahmen seines ihm zustehenden Spielraums einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Freiheit der einen und dem Schutzbedarf der anderen zu schaffen (BVerfG NVwZ 2020, 876 Rn. 8). Demnach handelt es sich bei der Frage der Verfassungsgemäßheit der angeordneten Schutzmaßnahmen aber entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht um die Frage der Menschenwürde, sondern darum, ob die einzelnen (Freiheits-)Grundrechte der von den Schutzmaßnahmen Betroffenen in noch verhältnismäßiger Weise eingeschränkt werden. Für eine Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sprechen angesichts der Gefahren, die ein ungehindertes Infektionsgeschehen für Leib und Leben der Menschen und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems mit sich bringen kann, weiter gute Gründe (vgl. auch VerfGH vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 21; vom 22.3.2021 – Vf. 23-VII-21 – juris Rn. 21; BVerfG vom 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 11).
(3) Daher erweisen sich auch unter dem Blickwinkel des Gesundheitsschutzes der nicht vulnerablen Gruppe, deren genaue Bestimmung im Übrigen im Hinblick auf die nicht geklärten Gefahren durch die neuen mutierten Viren (vgl. Begründung der Verordnung zur Änderung der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, BayMBl 2021 Nr. 225 S. 3) schon schwierig sein dürfte, entgegen der Ansicht des Antragstellers die Regelungen über Berufsverbote, Schulschließungen, Sportverbote, Ausgangssperren, Kontaktverbote, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote in der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung nicht als offensichtlich verfassungswidrig. Entgegen der Auffassung des Antragstellers hat der Verfassungsgerichtshof bei der Prüfung der Frage, ob der Normgeber seine Pflicht zur strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen Schutzmaßnahmen (offensichtlich) verletzt hat, sehr wohl berücksichtigt, dass es zu den von ihm geschilderten Folgeschäden, insbesondere psychischer Art, kommen kann, auch wenn er dies mangels entsprechenden Vortrags in den Entscheidungen meist nicht explizit ausgesprochen hat. So hat der Verfassungsgerichtshof es etwa im Hinblick auf die im Zuge der ersten Welle angeordnete Ausgangsbeschränkung als nachvollziehbar angesehen, dass diese bei den Betroffenen zu einem Gefühl des „Eingesperrtseins“ und ähnlichen psychischen Belastungen führen könne, und darauf hingewiesen, dass auch diese psychischen Beeinträchtigungen bei der Bewertung der Eingriffstiefe zu berücksichtigen seien (VerfGH vom 9.2.2021 – Vf. 6-VII-20 – juris Rn. 94). Eine Verletzung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das durch Art. 100 BV (Schutz der Menschenwürde) und Art. 101 BV (Handlungsfreiheit) garantiert wird, hat er dabei nicht angenommen, da sich Beeinträchtigungen, die (nur) mit Grundrechtsgefährdungen verbunden sind, regelmäßig im Vorfeld relevanter Grundrechtsverletzungen bewegen und damit subjektive Abwehrrechte noch nicht auslösen (VerfGH vom 9.2.2021, a. a. O., Rn. 101 m. w. N.).
Auch der Antragsteller führt keine gesicherten Erkenntnisse an, dass durch die Schutzmaßnahmen der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung psychische Erkrankungen tatsächlich verursacht werden, er vermisst vielmehr Belege dahingehend, dass sie nicht verursacht werden. Auch wenn eine beachtliche Anzahl von Stimmen das Risiko für den Eintritt von psychischen Schäden als hoch ansieht, rechtfertigt dies nicht den Vorwurf eines Verfassungsverstoßes des Normgebers. Es ist gerade dessen Aufgabe, die in der öffentlichen Diskussion vertretenen – teils kontroversen – Auffassungen im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums zu gewichten und eine Entscheidung darüber zu treffen, ob solche Risiken noch hingenommen werden können oder nicht (VerfGH vom 9.2.2021, a. a. O., Rn. 101). Dass er bei der Anordnung der aus seiner Sicht gebotenen Maßnahmen nicht allen in der Öffentlichkeit vertretenen Einschätzungen entsprechen kann, liegt in der Natur der Sache. Sofern der Antragsteller davon ausgeht, der Normgeber dürfe erst tätig werden, wenn die Tatsachengrundlage für eine beabsichtigte Regelung in der Wissenschaft übereinstimmend als gesichert bewertet werde, entspricht dies nicht den Vorgaben der Verfassung (VerfGH vom 9.2.2021, a. a. O., Rn. 75).
b) Bei der demnach gebotenen Folgenabwägung überwiegen die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich auch nach dem aktuellen Situationsbericht und der aktuellen Risikobewertung des Robert Koch-Instituts eine substanzielle Veränderung gegenüber der Gesamtsituation, die der vorangegangenen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 22. März 2021 (Vf. 23-VII-21 – juris) zugrunde lag, nicht feststellen lässt.
Nach dem aktuellen Situationsbericht vom 11. April 2021 (www.rki.de/covid-19-situationsbericht) stiegen die COVID-19-Fallzahlen in der Bevölkerung in Deutschland in den letzten Wochen in allen Altersgruppen wieder an, besonders stark jedoch bei Kindern und Jugendlichen, von denen auch zunehmend Übertragungen und Ausbruchsgeschehen ausgingen. Auch bei den über 80-Jährigen habe sich der wochenlang abnehmende Trend nicht fortgesetzt. Beim Großteil der Fälle sei der Infektionsort nicht bekannt. COVID-19-bedingte Ausbrüche beträfen momentan insbesondere private Haushalte, zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld, während die Anzahl der Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen abgenommen habe. Der inzwischen in Deutschland vorherrschende COVID-19- Erreger sei die Variante B.1.1.7, was besorgniserregend sei, weil diese nach bisherigen Erkenntnissen deutlich ansteckender sei und vermutlich schwerere Krankheitsverläufe verursache als andere Varianten. Der Anstieg der Fallzahlen insgesamt und der Infektionen durch die Variante B.1.1.7 werde zu einer deutlich ansteigenden Anzahl von Hospitalisierungen und intensivpflichtigen Patientinnen und Patienten führen. Bundesweit sei seit Mitte März wieder ein deutlicher Anstieg der COVID-19-Fallzahlen auf Intensivstationen zu verzeichnen. Da mit deutlich sichtbaren Erfolgen der Impfkampagne erst in einigen Wochen zu rechnen sei, seien gesamtgesellschaftliche Infektionsschutzmaßnahmen nötig, um die Infektionsdynamik zu bremsen. Nach der jüngsten Risikobewertung des Instituts (Stand 31.3.2021, vgl. www.rki.de/covid-19-risikobewertung) ist insbesondere die Dynamik der Verbreitung einiger neuer Varianten von SARS-CoV-2 besorgniserregend und die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch einzuschätzen. Die COVID-19-Fallzahlen auf Intensivstationen stiegen seit Mitte März 2021 deutlich an, wobei schwere Erkrankungen an COVID-19, die im Krankenhaus behandelt werden müssten, auch Menschen unter 60 Jahren betreffen.
Angesichts dieser Gesamtlage müssen weiterhin die Belange der von den Vorschriften Betroffenen gegenüber der fortbestehenden Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen bei gleichzeitig drohender Überforderung der personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems zurücktreten. Eine vorläufige Außerkraftsetzung einzelner oder aller Verordnungsbestimmungen würde zudem weiterhin die praktische Wirksamkeit des vom Verordnungsgeber verfolgten Gesamtkonzepts in einem Ausmaß beeinträchtigen, das dem Gebot zuwiderliefe, von der Befugnis, den Vollzug einer in Kraft getretenen Norm auszusetzen, wegen des erheblichen Eingriffs in die Gestaltungsfreiheit des Normgebers nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch zu machen (vgl. zu Folgenabwägungen im Zusammenhang mit „Coronamaßnahmen“ bereits VerfGH vom 26.3.2020 NVwZ 2020, 624 Rn. 13; vom 24.4.2020 NVwZ 2020, 785 Rn. 23; vom 8.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 26; vom 15.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 14; vom 8.6.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 22; vom 3.7.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 21; vom 12.8.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 23; vom 21.10.2020 – Vf. 26-VII-20 – juris Rn. 25; vom 29.10.2020 – Vf. 81-VII-20 – juris Rn. 19; vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 41; vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20 – juris Rn. 37; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 35; vom 29.1.2021 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 48; vom 1.2.2021 – Vf. 98-VII-20 – juris Rn. 22; vom 22.3.2021 – Vf. 23-VII-21 – juris Rn. 48; vgl. auch BVerfG vom 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 16).
III.
Es ist angemessen, dem Antragsteller eine Gebühr von 1.500 € aufzuerlegen (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 VfGHG).


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