Medizinrecht

Prothetikmangelverfahren

Aktenzeichen  S 38 KA 5008/17

Datum:
24.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 18709
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 136a Abs. 4 S. 3
BMV-Z § 3 Abs. 1, § 24
GV-Z § 11 Anl. 4b § 3 Nr. 2
SGB V aF § 137 Abs. 4 S. 3

 

Leitsatz

1. Im Prothetikmangelverfahren gebührt dem Erstgutachten gegenüber den nachfolgenden Gutachten durch die Ausschüsse grundsätzlich kein Vorrang, auch wenn dieses zeitnäher zum Zeitpunkt der Eingliederung des Zahnersatzes erfolgt. Hierfür fehlt eine rechtliche Grundlage. Dem Erstgutachten einen Vorrang einzuräumen, wäre mit Sinn und Zweck des gestuftes Gutachterverfahren (§ 3 der Anlage 4b zu § 11 Gesamtvertrag-Zahnärzte i.V.m. § 24 BMV-Z) nicht zu vereinbaren. Außerdem ist mit der Besetzung der Ausschüsse mit mehreren Zahnärzten vermutlich auch ein „Mehr“ an fachlicher Kompetenz verbunden ist, was einer in jeder Weise ausgewogenen umfassenden Beurteilung zugutekommen kann. (Rn. 19)
2. . Erfolgt die Begutachtung durch die Ausschüsse erst nach Ablauf des zweijährigen Gewährleistungszeitraums (§ 137 Abs. 4 S. 3 SGB V a.F.; § 136a As.4 S. 3 SGB V n.F.), wird die Aussagekraft des Erstgutachtens auf jeden Fall höher einzuschätzen sein, wenn dieses Gutachten plausibel erscheint. (Rn. 19)
3. Die Pflichtverletzung ist dann dem Behandler nicht zuzurechnen, wenn zwischenzeitlich durch einen anderen Behandler wesentliche Änderungen an der Prothetik vorgenommen wurden und/oder der Mangel in die Sphäre des Patienten liegt (z.B. gesundheitliche Umstände, die sich auf die Funktionsfähigkeit der Prothetik auswirken können oder Verhaltensweisen des Patienten, die zur Funktionsuntüchtigkeit der Prothetik führen). (Rn. 20)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage ist zulässig, erweist sich aber als unbegründet.
Der Bescheid des Beklagten ist rechtmäßig und der Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Zu Recht hat der Beklagte dem Antrag der Beigeladenen zu 2 stattgegeben.
Rechtsgrundlage für die Rückforderung ist § 3 der Anlage 4b zu § 11 Gesamtvertrag-Zahnärzte i.V.m. § 24 BMV-Z. Danach überprüfen die Ausschüsse, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang eine Prothetik mit Mängeln behaftet ist, und, ob eine Nachbesserung möglich ist. Liegt ein Mangel vor, der auf einer schuldhaften Pflichtverletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten des Behandlers beruht, dann entscheiden die Ausschüsse, in welchem Umfang eine Verpflichtung zur Rückzahlung der Kassenleistung besteht (§ 3 Ziff. 2 der Anlage 4b zu § 11 Gesamtvertrag-Zahnärzte).
Dem Kläger wurde zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung aufgegeben, näher bezeichnete Unterlagen im Behandlungsfall spätestens in der Sitzung am 24.07.2019 vorzulegen. Dem kam der Kläger nicht nach. Außerdem teilte er kurz vor der mündlichen Verhandlung mit, er könne am Termin aus beruflichen Gründen nicht teilnehmen. Das Gericht konnte daher den Sachverhalt nur anhand der Ausführungen der Beteiligten, des Gutachters, der Ausschüsse und der Beklagtenakte beurteilen. In letzterer befinden sich auch diverse Röntgenaufnahmen, allerdings nur in Kopie sowie Auszüge aus der Karteikarte.
Die Darstellung der Ausschüsse, insbesondere beurteilt von der der Kammer angehörenden Zahnärztin ist sowohl inhaltlich, als auch vom Ergebnis (Mangelhaftigkeit der OK-Prothetik) her als schlüssig zu betrachten. Es handelt sich diesbezüglich um einen Mangel in der technischen Ausführung. Für das Gericht steht fest, dass Unterhakbarkeiten der Primärteile an den Zähnen 11, 15, 24 und 25 bestehen, sowie die Präparationsgrenzen an den Zähnen 11 und 22 durch die Innenteleskope nicht erreicht werden.
Rechtlich nicht zu beanstanden ist, dass keine exakten Sondierungstiefen genannt werden. Zur Konkretisierung genügt aber, dass genau die Region genannt wird, wo eine Unterhakbarkeit besteht. Im Übrigen sieht es die Kammer als schwierig an, mit den zur Verfügung stehenden Dentalinstrumenten (Dentalsonden) exakt jeweils die Sondierungstiefe anzugeben (vgl. LSG Bayern, Urteil vom 26.11.2008, Az. L 12 KA 5002/06), was auch letztendlich nicht zu mehr Klarheit führen würde. Der Ausschüsse haben außerdem die Patientin persönlich untersucht und die Unterhakbarkeiten festgestellt, was nur bedeuten kann, dass ihres Erachtens die Unterhakbarkeiten erheblich und nicht mehr tolerabel erscheinen. Ansonsten hätten sie die Begrifflichkeit „Tastbarkeit“ genannt.
Was die Nicht-Einhaltung der Präparationsgrenzen betrifft, bedeutet das, dass ein Stück Zahnhartsubstanz frei liegt. Dies birgt – worauf die fachkundig mit einer Zahnärztin besetzte Kammer hinweist – neben einer nicht unerheblichen kosmetischen Beeinträchtigung die Gefahr in sich, dass der freiliegende Teil des Zahnstumpfes auf chemische und thermische Reize äußerst sensibel reagiert und Karies entsteht. Die gewünschte Genauigkeit wird mit etwa 30-50 µm angegeben. In der Realität beträgt der Abstand 200-300 µm (Quelle: Deutsche Gesellschaft für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffe). Egal, ob von der erwünschten Genauigkeit oder der in der Realität vorkommen Genauigkeit auszugehen ist, der Abstand der Krone zur Präparationsgrenze von mehr als 1 mm ist auf keinen Fall als fachlich ordnungsgemäß einzustufen, weshalb ein Mangel besteht, der nur durch Neuanfertigung zu beseitigen ist.
Aber auch der Umstand, dass an Zahn 17 im mesio-palatinalen Bereich eine Taschentiefe von 12 mm gemessen wurde, spricht dafür, dass dieser Zahn nicht erhaltungswürdig ist und nicht in die Planung der Prothetik hätte mit einbezogen werden dürfen. Insofern liegt zusätzlich ein Planungsfehler vor, wie allerdings nur vom Prothetikausschuss, nicht aber vom Prothetik-Einigungsausschuss in seinem Bescheid ausgeführt wurde.
Ohne Bedeutung ist, dass zunächst das eingeholte Gutachten des Erstgutachters mit den Feststellungen der Ausschüsse nicht kompatibel erscheint. Inhaltlich stellt der Gutachter allerdings ebenfalls im Ergebnis fest, die ausgeführten prothetischen Leistungen seien nicht frei von Fehlern oder Mängeln, wobei aus dem Gutachten nicht eindeutig hervorgeht, um welche Mängel es sich konkret handeln soll. Erwähnt wird sowohl beim „klinischen Befund“, als auch bei der „kritischen Würdigung“, dass im Bereich der Zähne 17, 15 und 25 „freiliegende Wurzelflächen“ bzw. „freiliegende Zahnhälse“ festzustellen seien. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass auch der Gutachter festgestellt hat, dass die Präparationsgrenzen nicht erreicht werden. Allerdings betrifft dies die Präparationsgrenzen an anderen Zähnen, nämlich an den Zähnen 11 und 22. Dass die Primärteile an den Zähnen 11, 15, 24 und 25 unterhakbar sind, stellt der Gutachter jedoch nicht fest. Aus dem Umstand, dass dieser Mangel vom Gutachter nicht festgestellt wurde, kann entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht geschlossen werden, dass diesbezüglich die Prothetik mangelfrei ist. Denn das „Weglassen“ kann mehrere Ursachen haben, die aktuell nicht beurteilt werden können. Hinweise, dass die Präparationsgrenzen nicht erreicht wurden, enthält auch die sehr ausführliche, beispielhafte Patientendokumentation des Klägers. Dort wurde – worauf die Beigeladene zu 2 aufmerksam machte – nach der Eingliederung des Zahnersatzes am 09.09.2014 die Behandlung überempfindlicher Zahnflächen an den Zähnen 14, 15, 24, 25 dokumentiert.
Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers gebührt dem Erstgutachten gegenüber den nachfolgenden Gutachten durch die Ausschüsse grundsätzlich kein Vorrang. Denn für einen Vorrang des Erstgutachtens fehlt bereits eine rechtliche Grundlage. Zu Recht weist die Beigeladene zu 2 darauf hin, dass es sich um ein gestuftes Gutachterverfahren, beginnend mit dem Erstgutachten und ihm folgend die Beurteilungen durch den Prothetikausschuss und den Prothetik-Einigungsausschuss, handelt (§ 3 der Anlage 4b zu § 11 Gesamtvertrag-Zahnärzte i.V.m. § 24 BMV-Z). Würde allein auf das Erstgutachten abzustellen sein, erschlössen sich Sinn und Zweck der nachfolgenden Begutachtungen durch die Ausschüsse nicht. Hinzu kommt, dass mit der Besetzung der Ausschüsse mit mehreren Zahnärzten vermutlich auch ein „Mehr“ an fachlicher Kompetenz verbunden ist, was einer in jeder Weise ausgewogenen umfassenden Beurteilung zugutekommen kann. Einzuräumen ist allerdings, dass das Erstgutachten zeitnäher zur Eingliederung ist und deshalb seine Aussagekraft proportional zur Länge des Zeltraums bis zur weiteren Begutachtung zunimmt. Denn im Erstgutachten wird der aktuelle Befund nach Eingliederung erfasst, so dass zwischenzeitliche Veränderungen außen vor bleiben. Der Zahnarzt übernimmt für die Versorgung mit Zahnersatz eine zweijährige Gewähr (§ 137 Abs. 4 S. 3 BGB V a.F.; § 136a As.4 S. 3 SGB V n.F.). Erfolgt die Begutachtung durch die Ausschüsse erst nach Ablauf des zweijährigen Gewährleistungszeitraums, was im streitgegenständlichen Verfahren allerdings nicht der Fall ist, wird die Aussagekraft des Erstgutachtens dann auf jeden Fall höher einzuschätzen sein, wenn dieses Gutachten plausibel erscheint. Ansonsten wird es aber auch entscheidend auf die Qualität der Feststellungen und der Beurteilung Im Einzelfall ankommen, so dass es ein Vorrang-/Nachrangverhältnis zwischen Erstgutachtens und nachfolgenden Begutachtungen durch die Ausschüsse auch aus diesem Grund nicht gibt.
Diese Pflichtverletzung Ist vom Kläger auch zu vertreten. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn der Mangel auf Umständen beruhen würde, die dem Kläger nicht zuzurechnen wären, vor allem, wenn zwischenzeitlich durch einen Behandler wesentliche Änderungen an der Prothetik vorgenommen worden wären und/oder der Mangel in die Sphäre des Patienten liegen würde (z.B. gesundheitliche Umstände, die sich auf die Funktionsfähigkeit der Prothetik auswirken können oder Verhaltensweisen des Patienten, die zur Funktionsuntüchtigkeit der Prothetik führen). Dafür, dass zwischen dem Erstgutachten und den Begutachtungen durch die Ausschüsse alio loco durch einen weiteren Behandler irgendwelche Maßnahmen, geschweige denn die Funktionstüchtigkeit der Prothetik beeinträchtigende Maßnahmen stattgefunden haben, gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Was den Hinweis des Klägers auf körperliche Veränderungen bei der Patientin betrifft, handelt es sich lediglich um eine Behauptung, die nicht zu objektivieren ist. Es bleibt schließlich die Frage, ob die Mangelhaftigkeit auf Verhaltensweisen der Patientin zurückzuführen ist. Die Rede ist insbesondere von etwaigen Manipulationen durch die Patientin (Karteikarteneintrag am 05.11.2015: Mitteilung der Patientin, sie würde mit den Fingernagel unter die Primärkrone greifen und dabei Beschwerden empfinden). Selbst wenn dies der Fall sein sollte, erscheint es nach Ansicht der mit einer Zahnärztin fachkundig besetzten Kammer ausgesprochen unwahrscheinlich, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen den „Unterhakbarkeiten“ sowie dem „Nichterreichen der Präparationsgrenzen“ und den vom Kläger bezeichneten „Manipulationen“ bestehen sollte.
Dem Behandler ist grundsätzlich das Recht auf Nachbesserung einzuräumen. Dabei schließt das Recht auf Nachbesserung das Recht auf Neuanfertigung mit ein, zumal oftmals nicht exakt zu trennen ist zwischen der Notwendigkeit der Nachbesserung und der der Neuanfertigung (vgl. BayLSG, Urteil vom 17.06.2015, Az. L 12 KA 5044/ 13). In dem Zusammenhang Ist festzustellen, dass es seit Eingliederung eine hohe Anzahl an Nachbesserungsmaßnahmen gab, die allesamt offensichtlich nicht erfolgreich waren. Zwischenzeitlich wurde vom Kläger auch ein Langzeitprovisorium angefertigt. Eine Mangelfreiheit der prothetischen Versorgung konnte letztendlich nicht erzielt werden. Außerdem ist den Karteikarteneinträgen mehrfach zu entnehmen, dass der Kläger selbst keine Möglichkeit sah, nachzubessern. So findet sich unter dem Datum 15.10.2014 der Eintrag in der Karteikarte, „OK-ZE nochmals etwas dünner geschliffen (Metall). Mehr nicht möglich“ und unter dem Datum 11.12.2014 „Maximal mögliche Maßnahmen durchgeführt“. Bei dieser Sachlage sind der Patientin weitere Nachbesserungsmaßnahmen bzw. eine komplette Neuanfertigung der Prothetik durch den Kläger nicht mehr zumutbar.
Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO sowie auf § 162 Abs. 3 VwGO.


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