Medizinrecht

Rückforderung der Arzthonorare nach Plausibilitätsprüfung

Aktenzeichen  S 38 KA 645/16

Datum:
25.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2018, 24244
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 75 Abs. 1, § 83 S. 1, § 87 Abs. 2 S. 1, § 106a

 

Leitsatz

1. Der Dokumentation ärztlicher Leistungen kommt große Bedeutung zu. Sie dient vor allem dem Patienten im Rahmen von Strafverfahren oder im Rahmen eines Arzthaftungsprozesses, aber auch dem Vertragsarzt im Rahmen der Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen zur Nachweisführung. (Rn. 21)
2. Erfolgt keine Dokumentation oder kann der Nachweis einer Dokumentation nicht geführt werden, gelten die Leistungen als nicht erbracht (vgl. BayLSG, Urteil vom 7.7.2004, Az L 3 KA 510/02; SG Marburg, Urteil vom 13.9.2017, S 12 KA 349/16). (Rn. 21)
3. Dokumentationen können ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn sie gewisse Mindestanforderungen an Klarheit und Bestimmtheit erfüllen. Sie müssen aus sich heraus verständlich, nachvollziehbar und ohne Widersprüchlichkeiten sein (vgl. Sozialgericht Stuttgart, Urteil vom 19.6.2002, Az S 10 KA 2453/00). (Rn. 25)
4. Liegen derartige Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten vor, zu denen der Kläger selbst beigetragen hat, ist es seine Aufgabe, diese zu entkräften. Hier genügt es nicht, lediglich pauschalen Begründungen abzugeben. (Rn. 27)
5. Unterschiede zwischen den Anästhesiezeiten und den Schnitt-Naht-Zeiten sind nicht nachvollziehbar, da normalerweise die Anästhesiezeit mindestens der Schnitt-Naht-Zeit entsprechen muss, wenn sie nicht sogar länger ist, da die Anästhesie vor dem operativen Eingriff eingeleitet und erst nach dem operativen Eingriff ausgeleitet werden muss. (Rn. 24)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind als rechtmäßig anzusehen.
Die Beklagte ist zuständig für die in den Quartalen 4/09 bis 2/12 vorgenommenen Plausibilitätsprüfungen. Rechtsgrundlagen hierfür sind §§ 75 Abs. 1, 83 S. 1, 106a SGB V in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Gesamtvertrag-Primärkassen bzw. § 8 Gesamtvertrag-Ersatzkassen in Verbindung mit der Anlage 8. Danach überprüft die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns in geeigneten Fällen die Richtigkeit der Abrechnung nach ihrer Plausibilität. Abrechenbar und vergütungsfähig sind nur solche Leistungen, die in Übereinstimmung mit den für die vertragsärztliche Versorgung geltenden Vorschriften, vor allem dem EBM, dem HVV bzw. dem HVM erbracht werden. Wird eine Implausibilität festgestellt, erfolgt die Rückforderung der zu Unrecht abgerechneten Leistungen gemäß § 50 Abs. 1 SGB X.
Die Plausibilitätsprüfung wurde aufgrund vielfacher Überschreitung der Tagesarbeitszeit von 12 Stunden und mehr eingeleitet. Als Referenzquartale wurden die Quartale 4/09 und 2/11 gewählt. Auffällig dabei waren deutliche Überschneidungen bei den Anästhesiezeiten. Wie die Beklagte, gestützt auf die Prüfung durch die medizinischen Fachexperten K. und L., feststellte, kam es zu sogenannten Parallelnarkosen. Dies ist durch die fachkundig mit zwei Ärzten besetzte Kammer bei Durchsicht der Unterlagen zu bestätigen. Der Kläger hat wiederholt mit der Einleitung der Narkose begonnen, bevor die vorausgegangene Narkose überhaupt abgeschlossen war.
Aufgrund dieser Feststellungen in den Referenzquartalen wurden weitere Dokumentationen für die Zwischenquartale, d.h. die Quartale 1/10 bis 1/11 und die Quartale nach dem Referenzquartal 2/11, d.h. für die Quartale 3/11-2/12 angefordert und einer Prüfung unterzogen.
Der Kläger hat trotz mehrfacher Aufforderung teilweise keine Dokumentationen vorgelegt. Für ihn als Vertragsarzt besteht jedoch eine Dokumentationspflicht, die aus § 57 BMV-Ä bzw. § 10 Abs. 1 der Berufsordnung für die Ärzte Bayerns und Art. 18 Abs. 1 Ziffer 3. Heilberufekammergesetz (HKaG) folgt. Aus Kapitel III b. fachärztlicher Versorgungsbereich anästhesiologische Leistungen 5.1 Präambel Ziff. 5 ergibt sich die Pflicht zu einer fachspezifischen Dokumentation. Der Dokumentation ärztlicher Leistungen kommt große Bedeutung zu. Sie dient vor allem dem Patienten im Rahmen von Strafverfahren oder im Rahmen eines Arzthaftungsprozesses, aber auch dem Vertragsarzt im Rahmen der Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen zur Nachweisführung. Im konkreten Fall umfasst die Dokumentationspflicht auch die Pflicht, einen OP-Bericht zu verfassen. Erfolgt keine Dokumentation oder kann der Nachweis einer Dokumentation nicht geführt werden, gelten die Leistungen als nicht erbracht (BayLSG, Urteil vom 7.7.2004, Az L 3 KA 510/02; SG Marburg, Urteil vom 13.9.2017, S 12 KA 349/16).
In den Referenzquartalen 4/09 und 2/11 kam es zu zeitlichen Überschneidungen von hintereinander nachfolgenden Narkosen und damit zu Parallelnarkosen. Insofern sind Zweifel hinsichtlich der ordnungsgemäßen Leistungserbringung bzw. Abrechnung angezeigt.
Was die übrigen Quartale betrifft, so sind die Dokumentationen zum Teil erst nach mehrfacher Aufforderung vorgelegt worden. Die Feststellungen der Beklagten hinsichtlich der Unvereinbarkeit der angegebenen Anästhesiezeiten in den Dokumentationen einerseits und den Schnitt-Naht-Zeiten in den Einzelfall-Nachweisen andererseits sind zu bestätigen. Unzutreffend ist deshalb die Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, lediglich in den Referenzquartalen habe es Parallelnarkosen gegeben. Untersucht wurden auch unter Überprüfung durch medizinische Fachexperten die dazwischenliegenden Quartale und die Quartale von 3/11-2/12.
Zum einen ergeben sich die Schnitt-Naht-Zeiten aus dem EBM. Beispielsweise sind in bestimmten, vom Kläger in Ansatz gebrachten EBM-Ziffern, so bei der GOP 05330 und der GOP 05331 konkrete Zeitvorgaben enthalten. Werden diese Mindestzeiten nicht eingehalten, ist die Leistungslegende als nicht vollständig erfüllt anzusehen. In zahlreichen Fällen ergeben sich die Unterschiede auch aus den eigenen Angaben des Klägers. Der Kläger hat in den Einzelfall-Nachweisen die Schnitt-Naht-Zeiten in einem Klammerzusatz (runde Klammer) aufgeführt. Werden die in den Dokumentationen mit den Zeiten in den Gebührenordnungspositionen bzw. mit den Zeiten auf den Einzel-Nachweisen verglichen, ergibt sich in nicht wenigen Fällen eine auffällige Zeitunterschreitung bei den Anästhesiezeiten. In den Fällen, in denen durch den EBM die Zeiten vorgegeben sind, sind, unterstellt man die Richtigkeit der Angaben auf den Dokumentationen, die Leistungen als nicht vollständig erbracht anzusehen und damit nicht abrechnungsfähig. Geht man hier von falschen Dokumentationen aus, die sich der Kläger zurechnen lassen muss, liegt ein Verstoß gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Dokumentation vor, der ebenfalls zur Nichtabrechenbarkeit der Leistungen führt. Gleichzeitig liegt der Schluss dann nahe, dass in unzulässiger Weise Parallelnarkosen wie in den Referenzquartalen stattgefunden haben. Soweit die Zeitdivergenzen auf den eigenen Angaben des Klägers beruhen (angegebene Anästhesiezeiten auf den Dokumentationen – angegebene Schnitt-Naht-Zeiten auf den Einzel-Nachweisen), stellt sich die Frage, welche Zeitangaben maßgeblich sein sollen. Geht man von der Richtigkeit der Schnitt-Naht-Zeiten aus, wäre zum einen die Dokumentation fehlerhaft. Zum anderen läge auch hier der Schluss nahe, dass Parallelnarkosen stattfanden und die Angaben des Klägers auf den Dokumentationen zu den Anästhesiezeiten möglicherweise dazu dienten, die wahren Anästhesiezeiten zu verschleiern, um den Vorwurf von Parallelnarkosen nicht aufkommen zu lassen. Wird angenommen, die Anästhesiezeiten auf den Dokumentationen seien richtig, muss sich der Kläger vorhalten lassen, warum er dann auf den Einzel-Nachweisen davon abweichende Schnitt-Naht-Zeiten angegeben hat. Diese Divergenzen zwischen den Anästhesiezeiten und den Schnitt-Nahtzeiten sind nicht nachvollziehbar, da normalerweise die Anästhesiezeit mindestens der Schnitt-Naht-Zeit entsprechen muss, wenn sie nicht sogar länger ist, da die Anästhesie vor dem operativen Eingriff eingeleitet und erst nach dem operativen Eingriff ausgeleitet werden muss.
Dokumentationen können ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn sie gewisse Mindestanforderungen an Klarheit und Bestimmtheit erfüllen. Sie müssen aus sich heraus verständlich, nachvollziehbar und ohne Widersprüchlichkeiten sein (Sozialgericht Stuttgart, Urteil vom 19.6.2002, Az S 10 KA 2453/00). Im streitgegenständlichen Fall lassen sich die oft nicht nur geringfügigen zeitlichen Abweichungen allein mit Gangungenauigkeiten bzw. Falscheinstellungen von Uhren oder Ablesefehlern kaum erklären. Wenn die Leistungen delegierbar wären, wären Überschneidungen der Anästhesiezeiten denkbar und zulässig. Dies jedoch ist nicht der Fall. Denn die vom Kläger erbrachten anästhesiologischen Leistungen sind höchstpersönlich zu erbringen und daher nicht delegationsfähig (Abschnitt I Allgemeine Bestimmungen Ziff. 2.2 EBM).
Auffällig ist auch, dass in später nachgereichten Dokumentationen des Klägers Anästhesiezeiten angegeben werden, die sich mit den Schnitt-Naht-Zeiten decken bzw. diese sogar überschreiten, was zumindest als Hinweis gewertet werden könnte, dass die Dokumentationen insgesamt als nicht stimmig zu betrachten sind.
Liegen derartige Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten vor, zu denen der Kläger selbst beigetragen hat, wäre es seine Aufgabe gewesen, diese zu entkräften, was jedoch nicht geschehen ist. Hier genügt es nicht, lediglich solche pauschalen Begründungen abzugeben, wie, es gebe Situationen ( Patienten wachen nach Beendigung einer Operation nicht im üblichen Zeitrahmen auf und der Schlafzustand dauere wider Erwarten noch eine Weile an), in denen es ohne weiteres zulässig, sei, bereits eine neue Narkose zu beginnen, weil für den Patienten im Ergebnis keine Gefahr mehr bestehen könne oder es komme auf die „Arbeitsgeschwindigkeit des Operateurs“ an. Angesichts der Feststellungen durch die Beklagte, der nicht seitens des Klägers ausgeräumten eindeutigen Widersprüchlichkeiten war eine weitere Sachverhaltsaufklärung entbehrlich, beispielsweise einen Abgleich mit den Angaben des Operateurs vorzunehmen.
Was die Plausibilitätsprüfung hinsichtlich der Leistungen der GOP 05330 samt Nebenleistungen (GOP 05331 und 05350) in fünf Behandlungsfällen betrifft, erstreckte sich der Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 10.04.2017 auch hierauf. Nachdem eine entsprechende Klagebegründung nicht erfolgte und zudem eine offensichtliche Rechtswidrigkeit nicht erkennbar ist, erübrigt es sich, in den Urteilsgründen näher darauf einzugehen.
Damit sind die Abrechnungen der Quartale 4/09 bis einschließlich 2/12 als fehlerhaft anzusehen, die Honorarbescheide aufzuheben und die Honorare neu festzusetzen. Die jeweils vom Kläger unterzeichnete Sammelerklärung ist als unrichtig anzusehen, weshalb deren „Garantiefunktion“ entfällt. Es liegt auch ein Verschulden des Klägers vor. Wie die Beklagte zutreffend ausführt, muss von einer groben Fahrlässigkeit ausgegangen werden.
Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Rückforderungsberechnung, wie sie sich im Ausgangsbescheid der Beklagten vom 29.04.2014 wiederfindet. In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Beklagten nach gefestigter Rechtsprechung ein weites Schätzungsermessen zusteht, das allerdings durch die Gerichte – wenn auch nur eingeschränkt – überprüfbar ist (LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13.06.2014, Az L 4 KA 16/14). Hinweise auf eine Willkür sind jedoch nicht ersichtlich. Dies gilt auch für die Gewährung des Sicherheitsabschlags in Höhe von 10%. Denn es handelt sich um eine Entscheidung zugunsten des Klägers, da bei einer Plausibilitätsprüfung, gestützt auf Zeitprofile, grundsätzlich ein Sicherheitsabschlag nicht gewährt wird.
Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.


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