Medizinrecht

Schmerzensgeld nach Radunfall – Helmverstoß

Aktenzeichen  8 O 2688/19

Datum:
13.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 22427
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 253 Abs. 2, § 254, § 286, § 288
StVG § 7, § 11, § 18, § 20

 

Leitsatz

1. 25.000,00 € Schmerzensgeld für eine Kalottenfraktur links okzipital mit einer Subarachnoidalblutung frontobasal beidseits, eine Kopfplatzwunde okzipital und eine LWS-Prellung sowie Verlust des Geruchssinns als Dauerschaden bei noch junger Geschädigter. (Rn. 17 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Schadensersatzanspruch eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, ist jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2017 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemindert, weil es keine allgemeine, gesetzlich normierte „Helmpflicht“ für Fahrradfahrer gibt und innerhalb der Bevölkerung stark divergierende Ansichten darüber bestehen, ob und inwiefern das Tragen eines Fahrradhelms bei der Teilnahme am Straßenverkehr angezeigt oder gar notwendig ist. Ein allgemeines Verkehrsbewusstsein dahingehend, dass das Tragen eines Fahrradhelms notwendig ist, besteht jedenfalls nicht. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 10.000,00 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05.10.2018 zu bezahlen.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin weitere 213,52 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.07.2019 zu bezahlen.
3. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist zulässig und vollumfänglich begründet.
A. Zulässigkeit
Die Klage ist zulässig.
Die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts … resultiert aus §§ 71, 23 GVG in Verbindung mit § 20 StVG.
Klageantrag Ziffer 1. ist hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Klageschrift muss stets einen bestimmten Antrag enthalten. Unbezifferte Zahlungsanträge sind ausnahmsweise zulässig, insbesondere dann, wenn die Anspruchshöhe im richterlichen Ermessen steht, wie zum Beispiel beim Begehren eines „angemessenen“ Schmerzensgeldes gemäß § 253 Abs. 2 BGB. Der Klageantrag ist dadurch hinreichend bestimmt, dass die Klagepartei jedenfalls eine Größenordnung angegeben hat, in deren Umfang ein weiteres, vom Gericht festzusetzendes Schmerzensgeld begehrt (mindestens weitere 7.500,00 EUR).
B. Begründetheit
Die Klage ist auch vollumfänglich begründet.
Der Klägerin steht gegen die Beklagten aus §§ 7, 11, 18 StVG in Verbindung mit §§ 115 VVG, 253 Abs. 2 BGB ein weiteres Schmerzensgeld zu, das das erkennende Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung mit insgesamt 25.000,00 EUR bemisst (§ 287 ZPO), wovon bereits geleistete Zahlungen abzuziehen sind.
Bei dem Grunde nach völlig unstreitiger Haftung schulden die Beklagten der Klägerin wegen der Verletzung ihres Körpers und ihrer Gesundheit eine billige Entschädigung in Geld für ihren immateriellen Schaden (§ 253 Abs. 2 BGB). Die Beweisaufnahme belegt ohne jeden Zweifel des Gerichts, dass die Klägerin infolge des Unfalls ganz erheblich verletzt wurde. Unstreitig war stets, dass sie auf den Boden und den unbehelmten Kopf stürzte. Hierbei erlitt sie eine Kalottenfraktur links okzipital mit eine Subarachnoidalblutung frontobasal beidseits, eine Kopfplatzwunde okzipital und eine LWS-Prellung. Dies belegt Anlage K 1; dem Arztbrief ist nachvollziehbar zu entnehmen, dass bei der Klägerin am Unfalltag sowohl bei der Aufnahme eine okzipitale Kopfplatzwunde festgestellt wurde, als auch ein Schädel-CT durchgeführt wurde, bei dem die Kalottenfraktur festgestellt wurde. Der am folgende Tag durchgeführte Kontroll-CT lieferte den Nachweis der Einblutungen. Im LWS-Bereich befand sich eine Prellmarke, die die LWS-Prellung belegt. Insofern ist das Gericht im Sinne des Vollbeweises (§ 286 ZPO) ohne jeden vernünftigen Zweifel davon überzeugt, dass es zu den besagten Verletzungen kam. Diese liegen auch nach allgemeiner Lebenserfahrung nahe, wenn jemand unbehelmt mit dem Kopf auf den Asphalt stürzt.
Darüber hinaus ist das Gericht nach durchgeführter Beweisaufnahme ebenfalls hinreichend sicher davon überzeugt, dass es bei der Klägerin infolge der unfallbedingten (Primär-)Verletzungen zu einem Verlust des Geruchssinns kam. Insofern findet das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO Anwendung, nachdem es um die Frage geht, ob eine haftungsbegründende Primärverletzung weitere von der Klägerin geltend gemachte Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge hatte, also um die sog. haftungsausfüllende Kausalität. Diesbezüglich kann zur Überzeugungsbildung eine hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen (BGH, Urteil vom 29.01.2019, Az.: VI ZR 113/17). Das Gericht hält es nach persönlicher Anhörung der Klägerin und Kenntnisnahme vom schriftlichen Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. med. … jedenfalls für ganz überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin infolge der unfallbedingt erlittenen Gehirneinblutungen in der Folge auch einen Verlust des Geruchssinns als Sekundärfolge erlitten hat. Das fachlich und didaktisch äußerst überzeugende Gutachten des Dr. med. …, der als Oberarzt und Leiter der Gutachtensstelle der Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Universitätsklinikums … fachlich hervorragend qualifiziert und erfahren ist, hat nicht nur zahlreiche individuelle Testungen mit der Klägerin vollführt, die nach seinen Ausführungen mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit das Vorliegen einer Anosmie bei der Klägerin belegen, sondern auch im Einzelnen dargelegt, dass und wie es schon aufgrund des erlittenen Anpralls und der dokumentierten Gehirneinblutungen der Klägerin nach dem Unfall (jeweils für sich genommen!) nachvollziehbar zu einer Anosmie kommen konnte. Dafür, dass es bereits aufgrund des – im Kern unstreitigen – Sturzes vom Pferd im Jahr 2017 zu einem Verlust des Geruchssinns kam, fehlen überzeugende Anhaltspunkte. Die Klägerin hat zwar schon damals eine Gehirnerschütterung, weder aber eine Schädelfraktur, noch Gehirneinblutungen erlitten, die nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen aber absolut plausibel als Ursache für das Entstehen einer Anosmie sind. Auch der Umstand, dass die Klägerin nach eigenen Angaben erst einige Zeit nach dem Urifall darauf aufmerksam wurde, dass ihr Geruchssinn fehlte, ist plausibel dadurch zu erklären, dass ihr Wahrnehmungsfokus zunächst nicht auf ihrem Geruchssinn, sondern auf der Bewältigung der unmittelbaren Unfallfolgen lag. Die Klägerin hat in ihrer persönlichen informatorischen Anhörung einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Die Art und Weise ihrer Schilderung der erlebten Beschwerden hat nicht den Eindruck entstehen lassen, dass die Klägerin simuliert oder aggraviert; dies deckt sich nun ebenfalls mit den Feststellungen des Sachverständigen. Von einer Vernehmung der ergänzend noch angebotenen Zeugen … und … und der behandelnden Ärzte der Klägerin konnte aufgrund des bereits vorliegenden Gutachtens abgesehen werden (§ 287 Abs. 1 S. 2 ZPO).
Alle Umstände – namentlich die Schädelfraktur, der dauerhafte Verlust des Geruchssinns, das insofern (vgl. die Ausführungen des Sachverständigen) auch beeinträchtigte Schmeckvermögen in den Feinausprägungen, der fast zweiwöchige Krankenhausaufenthalt und der Umstand, dass die Klägerin aufgrund der Verletzung in jungen Jahren noch lange unter den Unfallfolgen leiden wird – rechtfertigen in ihrer Gesamtschau ein Schmerzensgeld von 25.000,00 EUR, sodass der Klägerin bei Berücksichtigung der bereits gezahlten 15.000,00 EUR ein weiterer Anspruch von 10.000,00 EUR zukommt. Damit überschreitet das Gericht nicht den Antrag der Klägerin („ne ultra petita“), da diese mit weiteren 7.500,00 EUR eine Mindest- bzw. Untergrenze für ihre Vorstellung von (weiterem) Schmerzensgeld, nicht aber eine Höchstgrenze formuliert hat.
Der Anspruch ist nicht aufgrund eines Mitverschuldens der Klägerin gemäß § 9 StVG, § 254 BGB gekürzt oder ausgeschlossen. Der Schadensersatzanspruch eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, ist jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemindert (BGH, Urteil vom 17.06.2014, Az.: VI ZR 281/13). Es besteht keine Veranlassung zu einer anderen Beurteilung der Sachlage im Unfallzeitpunkt, d.h. im Jahr 2017. Es gibt nach wie vor keine allgemeine, gesetzlich normierte „Helmpflicht“ für Fahrradfahrer und innerhalb der Bevölkerung stark divergierende Ansichten darüber, ob und inwiefern das Tragen eines Fahrradhelms bei der Teilnahme am Straßenverkehr angezeigt oder gar notwendig ist. Ein allgemeines Verkehrsbewusstsein dahingehend, dass das Tragen eines Fahrradhelms notwendig ist, lässt sich für das Jahr 2017 aber schon dem Vortrag der Beklagten nicht entnehmen. Ebenso wenig liegt hier ein Fall vor, bei dem aufgrund eines besonderen sportlichen Anspruchs der Klägerin an ihre Fahrweise und einer damit ggfs. einhergehenden Risikoerhöhung (BGH a.a.O.) das Fahren ohne Fahrradhelm einen Verschuldensvorwurf rechtfertigt.
Die Klägerin hat folglich unbeschränkt Anspruch auf ein weiteres Schmerzensgeld von 10.000,00 EUR und auf Zinsen wie beantragt aus §§ 286, 288 BGB.
Darüber hinaus hat die Klägerin wie beantragt Anspruch auf Ersatz weiterer vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten nebst Rechtshängigkeitszinsen aus §§ 291, 288 BGB. Insofern ist für die Bestimmung des Gegenstandswerts der außergerichtlich geforderte Gesamtbetrag von 22.500,00 EUR anzusetzen – mehr verlangt die Klägerin auch nicht. Unter Berücksichtigung bereits gezahlter 1.029,35 EUR auf einen Betrag von 1.242,84 EUR beträgt der noch geschuldete Betrag 213,52 EUR.
Der Klage war darum insgesamt vollumfänglich zu entsprechen.
C. Prozessuale Nebenentscheidungen
Die prozessualen Nebenentscheidungen basieren aus §§ 91, 709 Satz 1 ZPO.


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