Medizinrecht

Schwerwiegende Erbkrankheit

Aktenzeichen  20 BV 17.1507

Datum:
14.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 3721
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
PIDV § 4, § 6 Abs. 4 S. 1
ESchG § 3 S. 2, § 3a Abs. 1, Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1, § 139
GenDG § 15 Abs. 2
GG Art. 80 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Eine schwerwiegende Erbkrankheit im Sinne des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG liegt nur vor, wenn sie den Schweregrad der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne aufweist. (Rn. 41 – 58)
2. Die Entscheidung der Bayerischen Ethikkommission über das Vorliegen einer schwerwiegenden Erbkrankheit unterliegt vollumfänglich gerichtlicher Kontrolle und eröffnet keinen Beurteilungsspielraum. (Rn. 59 – 89)
3. Von einem hohen Risiko nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ist bei monogenen Erbkrankheiten auszugehen, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende Erbkrankheit zwischen 25 und 50 Prozent liegt. (Rn. 90 – 97)

Verfahrensgang

M 18 K 16.1738 2017-05-10 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten keinen Anspruch auf Erteilung der Zustimmung zur Durchführung der Präimplantationsdiagnostik (im Folgenden PID). Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich im Ergebnis als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Die Zulässigkeit der erhobenen Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO ist gegeben, wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat.
Bei der Versagung der Zustimmung zur Durchführung der PID handelt es sich um einen Verwaltungsakt nach Art. 35 Satz 1 BayVwVfG, da diese Regelungscharakter mit unmittelbarer Außenwirkung hat. Eine PID, die nach § 3a Abs. 1 ESchG grundsätzlich verboten ist, darf gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG nur mit Zustimmung der Bayerischen Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik (Ethikkommission) durchgeführt werden, weshalb dieser Entscheidung Regelungswirkung zukommt.
Die Ethikkommission erfüllt die Anforderungen an den weiten funktionellen Behördenbegriff nach Art. 1 Abs. 2 BayVwVfG, weil sie Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.
II.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zustimmung zur PID gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG, weil kein Rechtfertigungsgrund nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG vorliegt.
§ 3a ESchG ist verwaltungsrechtlich als repressives Verbot (§ 3a Abs. 1 ESchG) mit Befreiungsvorbehalt (§ 3a Abs. 2, 3 ESchG) ausgestaltet (BayVGH, U.v. 30.11.2018 – 20 B 18.290 – juris Rn. 94). Es handelt sich bei den Regelungen des § 3a Abs. 1 und 2 ESchG um Normen des Nebenstrafrechts. § 3a Abs. 3 ESchG etabliert zusätzlich mit der Zustimmung der Ethikkommission ein verwaltungsrechtliches Verfahren, dessen Prüfungsmaßstab wegen der Verweisung des § 3a Abs. 3 ESchG auf § 3a Abs. 2 ESchG das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes nach der letztgenannten Vorschrift ist.
Für die Nachkommen der Klägerin besteht zum relevanten Entscheidungszeitpunkt der Durchführung der letzten mündlichen Verhandlung kein hohes Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit. Die myotone Dystrophie Typ 1 (im Folgenden DM1) erfüllt nur in ihrer kongenitalen Form die Kriterien für eine derartig schwerwiegende Erkrankung. Für diese Form besteht aber im vorliegenden Fall kein hohes Risiko.
Zu diesem Ergebnis führt die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „schwerwiegende Erbkrankheit“ und „hohes Risiko“ nach Wortlaut, systematischer Stellung der Norm, Sinn und Zweck der Regelung sowie unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien, wobei der Wortlaut der Norm Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung markiert (allgemeine Meinung, vgl. BVerwG, U.v. 29.6.1992 – 6 C 11/92 – NVwZ 1993, 270, 271; U.v. 28.6.2018 – 2 C 14/17 – NVwZ 2018, 1570 – 1572, zitiert nach juris Rn. 20 m.w.N.).
Eine schwerwiegende Erbkrankheit liegt demnach nur vor, wenn die Erkrankung im Schweregrad mit der Muskeldystrophie Duchenne vergleichbar ist (1.). Ein Beurteilungsspielraum der Ethikkommission besteht hinsichtlich des Vorliegens einer schwerwiegenden Erbkrankheit nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG nicht. Die Entscheidung der Ethikkommission unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung. Ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum ist nach dem Ergebnis der Auslegung normativ nicht angelegt. Ein anderes Verständnis der Norm begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken (2.). Ein hohes Risiko liegt bei einer monogenen Erbkrankheit vor, wenn eine Eintrittswahrscheinlichkeit zwischen 25 und 50% besteht (3.). 1.
Schwerwiegend im Sinn des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG sind nur Erkrankungen, die den Schweregrad der Muskeldystrophie Typ Duchenne aufweisen. Nur in diesen Fällen soll aufgrund der Schwere des zu erwartenden Krankheitsbildes und den damit untrennbar verbundenen Auswirkungen auf ihre weitere Lebensgestaltung den Eltern nicht zugemutet werden, das hohe Risiko einzugehen, ein Kind mit diesem Krankheitsbild zu bekommen. Dabei indiziert die Schwere des Krankheitsbildes die Unzumutbarkeit für die Eltern.
a. Die Wortlautauslegung allein bietet vorliegend keine ausreichenden Anhaltspunkte zur näheren Bestimmung. Eine allgemeingültige Bedeutung von „schwerwiegend“ gibt es nicht. Dem Wortlaut nach bedeutet „schwerwiegend“ „schwer ins Gewicht fallend, ernst zu nehmend, gewichtig, gravierend“ (Duden). Zur Einordnung eines Zustands als schwerwiegend ist immer die Kenntnis eines konkreten Lebenssachverhalts erforderlich, der eine Wertung erst möglich macht. Dem Wortlaut nach hat „schwerwiegend“ eine subjektive Komponente, die je nach Befindlichkeit des Betroffenen zu einer unterschiedlichen Beurteilung eines Zustands als schwerwiegend führen kann.
b. Jedoch ergibt sich aus der Gesetzessystematik ein eindeutiger Maßstab dafür, welche Erbkrankheiten als derartig schwerwiegend anzusehen sind, dass eine PID gerechtfertigt werden kann. Der Schweregrad lässt sich der Regelung des § 3 Satz 2 ESchG (in der Fassung vom 13. Dezember 1990, BGBl. 1990 I, 2746) entnehmen, die der hier streitentscheidenden Norm im Embryonenschutzgesetz unmittelbar voransteht. Sie verwendet denselben Begriff, der auch in die – wesentlich jüngere -Regelung des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG (in der Fassung vom 21. November 2011, BGBl. I 2011, 2228) Eingang gefunden hat. In § 3 Satz 2 ESchG nimmt das Gesetz zur Konkretisierung des Begriffs „schwerwiegend“ Bezug auf die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne und schafft damit eine Referenzerkrankung zum Verständnis dieses Begriffs im Geltungsbereich des Embryonenschutzgesetzes. Zwar erfasst § 3 ESchG mit der Möglichkeit der Auswahl der Samenzelle nach dem Geschlechtschromosom Zellen, die sich vor der Befruchtung befinden und damit noch keine Embryonen i.S.d. § 8 Abs. 1 ESchG sind und verfolgt damit einen anders gelagerten Schutzzweck, nämlich das grundsätzliche Verbot der Geschlechtswahl. Jedoch haben beide Vorschriften die Vermeidung schwerwiegender Erbkrankheiten zum Gegenstand. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG einen abweichenden Maßstab für die Wertung einer Krankheit als schwerwiegend verfolgte, zumal die Regelung des § 3 Satz 2 ESchG zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 3a ESchG bereits zwanzig Jahre lang galt.
Das Fehlen einer dem § 15 Abs. 2 GenDG (Gendiagnostikgesetz) vergleichbaren Regelung lässt hingegen keinen Rückschluss auf den Schweregrad der Erbkrankheit nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG zu. Nach dieser Vorschrift darf eine vorgeburtliche genetische Untersuchung, die darauf abzielt, genetische Eigenschaften des Embryos oder Fötus für eine Erkrankung festzustellen, die nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres ausbricht, nicht vorgenommen werden. Zwar erfasst § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG grundsätzlich auch spätmanifestierende Erkrankungen, da diese nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind; eine Aussage über die erforderliche Schwere des Krankheitsbildes wird damit jedoch nicht getroffen.
c. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung des § 3a ESchG ist eine restriktive Auslegung des Begriffs „schwerwiegend“ veranlasst, da § 3a Abs. 2 als Ausnahme zum grundsätzlichen Verbot der PID vorgesehen ist. Schutzzweck der Norm ist der Lebens- und Würdeschutz in vitro hergestellter Embryonen (vgl. BayVGH, U.v. 30.11.2018 – 20 B 18.290 – juris Rn. 88). Um diesen umfassend zu gewährleisten, ist § 3a Abs. 1 ESchG als Norm des Nebenstrafrechts ausgestaltet. Die durch den Ausnahmecharakter bedingte restriktive Auslegung der Norm ergibt, dass bei der Frage, ob eine Erbkrankheit als schwerwiegend anzusehen ist, auf ihre konkret zu erwartende Ausprägung abgestellt werden muss. Nicht ausreichend kann demnach sein, dass die Erbkrankheit in schweren Formen auftreten kann. Diese Anforderungen erfüllt die Muskeldystrophie Duchenne als Referenzerkrankung: bei der milder verlaufenden Muskeldystrophie Becker-Kiener wird Dystrophin in geringerer Menge synthetisiert. Die Gehfähigkeit kann bis in das Erwachsenenalter hinein erhalten bleiben (Quelle: DGM Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V., https://www.dgm.org/muskelerkrankungen/muskeldystrophieduchennebecker, zuletzt recherchiert am 1. März 2019). Diese Art der Muskeldystrophie weist nicht den Schweregrad der Muskeldystrophie Duchenne auf, es handelt sich vielmehr um ein Krankheitsbild eigener Art.
d. Schließlich ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien, dass eine PID nur bei Krankheitsbildern gestattet sein soll, die in ihrer Schwere der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne vergleichbar sind. Denn in der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG) vom 12. April 2011 (BT-Drs. 17/5451 S. 8) wird ausgeführt, dass der Begriff „schwerwiegende Erbkrankheit“ des Kindes Bezug nehme auf eine vom ESchG bereits in § 3 Satz 2 verwendete Formulierung. Damit erweist die Begründung des Entwurfs, dass kein neuer Bedeutungsgehalt geschaffen werden, sondern an einen bereits vorhandenen angeknüpft werden sollte. Nach der weiteren Erläuterung im genannten Gesetzesentwurf sind Erbkrankheiten insbesondere dann als schwerwiegend anzusehen, wenn sie sich durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheiden.
e. Diese Kriterien sind bei der Muskeldystrophie Typ Duchenne (DMD) erfüllt:
DMD ist eine schwere und lebensbedrohende genetische Erkrankung. Sie betrifft vorwiegend Jungen (X-chromosomale Vererbung) und ist selten: Einer von 3.600 bis 6.000 lebendgeborenen Jungen erkrankt. Kinder mit DMD verlieren fortschreitend Muskelgewebe. Dabei tritt in der frühen Kindheit, beginnend im Alter von zwei bis drei Jahren, eine Muskelschwäche in Erscheinung.
DMD wird durch Mutationen des Gens verursacht, das Dystrophin codiert. Dystrophin ist ein wichtiges Protein, das zur Stabilität und Struktur von Muskelfasern beiträgt. Mutationen im Dystrophin-Gen bewirken einen Mangel oder eine Schädigung des Dystrophin-Proteins. In der Folge wird nach und nach Muskeldurch Fettgewebe ersetzt.
Der Muskelverlust im Rahmen der DMD führt dazu, dass die Kinder Meilensteine ihrer motorischen Entwicklung, z.B. Gehen, verspätet erreichen. Defizite in der Sprachentwicklung und kognitive Entwicklungsverzögerungen sind ebenfalls dokumentiert. Dem natürlichen Krankheitsverlauf entsprechend verlieren Kinder mit DMD ihre Gehfähigkeit und werden im frühen Teenager-Alter rollstuhlpflichtig. Letzten Endes führt der Verlust von Muskelgewebe zu respiratorischen, orthopädischen und kardialen Komplikationen. Häufig tritt der Tod im dritten Lebensjahrzehnt ein. Die Krankheit ist nicht heilbar. (Quelle: PTC Therapeutics, Muskeldystrophie Duchenne (DMD): Was Sie wissen müssen, Broschüre für Patienten, Eltern und Betreuer, https://www.duchenne.de/muskeldystrophieduchenne/ zuletzt recherchiert am 1. März 2019).
f. Für die Einstufung einer Erbkrankheit als schwerwiegend kann jedoch trotz des insoweit missverständlichen Wortlauts des § 3 Satz 2 ESchG nicht allein auf das Krankheitsbild und die Symptomatik der Duchenne-Krankheit abgestellt werden. Dies würde sich im Hinblick auf den Würde- und Lebensschutz der Embryonen verbieten. Vielmehr ist allein auf die Auswirkungen für die gesamte Lebensentwicklung und – gestaltung der Eltern bzw. der Mutter abzustellen, die insbesondere durch die erforderliche Pflege und Betreuung eines mit einer derartigen Krankheit geborenen Kindes entstehen. Dies ergibt sich unmittelbar aus den von der Norm betroffenen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG (Würde- und Lebensschutz der Embryonen – Würdeschutz und Selbstbestimmungsrecht der Mutter/der Eltern, vgl. hierzu auch BayVGH, U.v. 30.11.2018 – 20 B 18.290 – juris Rn. 97).
Die Schranken der jeweiligen Freiheitsgarantien hat der Gesetzgeber so bestimmt, dass grundsätzlich der Lebens- und Würdeschutz der Embryonen einer PID entgegensteht und das Selbstbestimmungsrecht und der Würdeschutz der Mutter bzw. der Eltern nur dann einen Eingriff in die Grundrechte der Embryonen rechtfertigt, wenn das Auftreten einer medizinisch schwerwiegenden Erbkrankheit bei einem Kind zu befürchten ist, weil den Eltern in diesem Fall wegen des zu erwartenden hohen Pflegeaufwands und der großen körperlichen und psychischen Belastung die Erkrankung des Kindes nicht zumutbar ist.
Diese Auslegung wird durch die Begründung des – schließlich in durch den Gesundheitsausschuss veränderter Form (BT-Drs. 17/6400 vom 30. Juni 2011) Gesetz gewordenen – Entwurfs zum Präimplantationsdiagnostikgesetz gestützt. Die Begründung nimmt auf § 218a Abs. 2 StGB als gesetzgeberischen Anknüpfungspunkt für die ebenfalls als Rechtfertigungsgrund formulierte Regelung des § 3a Abs. 2 ESchG Bezug (BT-Drs. 17/5451 Seite 8). § 218a Abs. 2 StGB stellte als Rechtfertigung bereits in der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 3a ESchG gültigen Fassung vom 13. November 1998 maßgeblich darauf ab, ob „der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und künftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“, also ausdrücklich nicht mehr auf eine embryopathische Indikation, wie dies noch in § 218a Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 StGB in der Fassung vom 27. Juli 1992 (BGBl. I S. 1402) vorgesehen war. Wegen der eindeutig erklärten Abkehr des Gesetzgebers von einer embryopathischen Indikation als Rechtfertigung für einen Schwangerschaftsabbruch ergibt sich für die Prüfung der Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG, dass maßgeblich für die Rechtfertigung einer PID nicht die Schwere der medizinischen Indikation, sondern vielmehr die aus dem Schweregrad der Erkrankung resultierenden körperlichen und seelischen Auswirkungen auf die Mutter bzw. die Eltern sind. In diesem Sinn ist die Formulierung in § 3 Satz 2 ESchG, wonach die Auswahl einer Samenzelle dann nicht verboten ist, wenn sie dazu dient „das Kind vor der Erkrankung an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne oder einer ähnlich schwerwiegenden geschlechtsgebundenen Erbkrankheit zu bewahren“ jedenfalls missverständlich.
Allerdings hat der Gesetzgeber in § 3a Abs. 2 ESchG – anders als in § 218a Abs. 2 StGB – keine individuelle Entscheidung nach Unzumutbarkeitskriterien vorgesehen. Daher bleibt ein Wertungswiderspruch zwischen beiden Regelungen bestehen. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Durchführung einer PID sind derzeit höher als die für die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs, weil § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG im Gegensatz zu § 218a StGB das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit verlangt. So kann der Fall eintreten, dass eine PID verboten, ein späterer Schwangerschaftsabbruch hingegen erlaubt ist. Dieses Ergebnis ist für Betroffene in der Regel nicht nachvollziehbar, weil aufgrund der persönlichen Situation eine PID vor Implantation der Embryonen als wesentlich weniger belastend empfunden wird als ein (Spät-)Schwangerschaftsabbruch. Dieser Wertungswiderspruch resultiert jedoch nach derzeitiger Rechtslage aus dem hohen Schutzbedarf, den der Gesetzgeber für den grundrechtlichen Schutz der Embryonen, auch um Missbrauch zu vermeiden (BT-DRs. 17/5451 S. 3 B), sieht.
Aus der unterschiedlichen Normgestaltung kann aber zur Auflösung dieses Wertungswiderspruchs nicht abgeleitet werden, dass im Rahmen des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG subjektive Belange der Betroffenen im Wege einer individuellen Unzumutbarkeitsentscheidung zu beachten wären. Mangels normativer Ansatzpunkte für die Beurteilung der Unzumutbarkeit ist für die Zulässigkeit einer PID allein auf die Schwere der Erkrankung abzustellen. Die derzeitige gesetzliche Regelung beinhaltet keinerlei Maßstab für die Prüfung des „schwerwiegend“ im Sinne einer individuell bestehenden Unzumutbarkeit für die Eltern aufgrund ihrer konkreten Lebenssituation. So ist allein die Schwere der Krankheit vergleichbar Duchenne geeignet, um im Rahmen einer typisierenden Betrachtungsweise die Unzumutbarkeit für die Eltern dann zu indizieren, wenn diese wissen wollen, ob ihr Kind eine schwerwiegende Erbkrankheit haben wird und sich in diesem Fall gegen eine Schwangerschaft mit dem kranken Embryo und für eine Schwangerschaft mit einem gesunden Embryo entscheiden. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte innerhalb der Regelung des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG, dass die konkrete familiäre Situation bei der Einschätzung einer Krankheit als „schwerwiegend“ zu berücksichtigen ist, also insbesondere nicht, wie die gesundheitliche Verfassung der Eltern ist, ob bereits ein behindertes Kind in der Familie lebt, ob Tot- oder Fehlgeburten aufgetreten sind oder ob weitere in der Familie lebende Angehörige einer Betreuung bedürfen. Vielmehr ist Maßstab, wie sich eine derartig schwere Erkrankung bei objektiver Betrachtungsweise auf den seelischen und körperlichen Gesundheitszustand der Eltern auswirken wird (durch hohen Pflegeaufwand „rund um die Uhr“ und durch Belastung wegen Leid, Schmerzen und frühem Tod des Kindes). Hierauf sind allein aus dem zu erwartenden Verlauf der Krankheitsbilder in typisierender Weise Rückschlüsse möglich, eine individuelle Abwägungsentscheidung ist im Rahmen des Rechtfertigungsgrundes der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ nach der derzeitigen Rechtslage nicht zu treffen.
g. § 6 Abs. 4 PIDV kann zur Auslegung des Begriffes „schwerwiegend“ nicht herangezogen werden. Nach dieser Regelung soll die Ethikkommission bei ihrer Entscheidung psychologische, soziale und ethische Kriterien berücksichtigen. Zum einen handelt es sich aber um eine Norm im Rang unterhalb eines formellen Gesetzes, nämlich um eine Rechtsverordnung der Bundesregierung, die als hierarchisch niedrigstehendere Norm nicht zur Auslegung eines formellen Gesetzes herangezogen werden kann. Dies verbietet sich vorliegend auch deshalb, weil die Normgeber nicht identisch sind (Bundestag/Bundesregierung).
Zum anderen ist § 6 Abs. 4 PIDV nichtig und nicht anwendbar, weil er von der Verordnungsermächtigung des § 3a Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ESchG nicht gedeckt ist und damit gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt. Denn § 3a Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 ESchG erteilt die Verordnungsermächtigung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß lediglich zur „Einrichtung, Zusammensetzung, Verfahrensweise und Finanzierung der Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik“. § 3a Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 ESchG erstreckt die darin ausgesprochene Ermächtigung nicht auf inhaltliche Entscheidungsmaßstäbe für die Ethikkommissionen. Dies kann auch nicht dem Begriff „Verfahrensweise“ entnommen werden, der dem Wortverständnis nach nur den Prozess der Entscheidungsfindung erfasst.
Darüber hinaus bestehen erhebliche Bedenken, ob § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG wegen der unmittelbaren Betroffenheit kollidierender Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG den Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie genügt. Hier ist der Gesetzgeber gehalten, inhaltliche Entscheidungskriterien selbst zu regeln und kann diese nicht im Rahmen einer Verordnungsermächtigung an den Verordnungsgeber delegieren (hierzu II.2.b.(2) und II.2.d.).
2. Die Entscheidung der Ethikkommission unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung.
Dies ergibt sich aus dem gefundenen Auslegungsergebnis, das sicherstellt, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Norm gewahrt werden. Daraus folgt aber gleichzeitig, dass kein normativer Ansatz ermittelbar ist, nach dem der Gesetzgeber der Ethikkommission bei der Rechtsanwendung einen Beurteilungsspielraum zugebilligt hat.
Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Beurteilung der Ethikkommission maßgeblich für das Vorliegen einer „schwerwiegenden Erbkrankheit“ sei und nicht durch eine gerichtliche Wertung ersetzt werden solle, findet im Gesetz keine Stütze. Weder ist der Ethikkommission ein Beurteilungsspielraum für eine wertende Entscheidung eines weisungsfreien Gremiums mit besonderer Sachkunde eingeräumt, noch folgt ein solcher aus dem Fehlen hinreichend bestimmter Entscheidungsvorgaben in den gesetzlichen Vorschriften oder aus der Maßgeblichkeit von Erwägungen, die außerhalb des rechtlich exakt erfassbaren Bereiches liegen, da die hierzu notwendigen Voraussetzungen nach der derzeit geltenden Rechtslage nicht vorliegen. Die Gerichte stoßen bei der Einordnung einer Erbkrankheit als schwerwiegend auch nicht an ihre Funktionsgrenzen, weil sich die Schwere einer Erbkrankheit nötigenfalls durch Sachverständigengutachten ermitteln lässt, sodass auch ein Beurteilungsspielraum „aus der Natur der Sache“ ohne das Erfordernis normativer Ermächtigung nicht im Raum steht.
a. Grundsätzlich unterliegen behördliche Entscheidungen im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG voller verwaltungsgerichtlicher Kontrolle (BVerfG, B.v. 31.5.2011 – 1 BvR 857/07 – BVerfGE 129, 1 – 37 (Leitsatz 2d.) = NVwZ 2011, 1062; BVerwG, U.v. 21.12.1995 – 3 C 24/94 – BVerwGE 100, 221 -230, zitiert nach juris Rn. 29). Dies gilt auch im Anwendungsbereich unbestimmter Rechtsbegriffe (BVerfGE, B.v. 28.6.1983 – 2 BvR 539/80, 2 BvR 612/80 – BVerfGE 64, 261 (279); BVerwG U.v. 16.5.2007 – 3 C 8/06 – BVerwGE 129, 27 – 42 zitiert nach juris Rn. 26; BVerwG, U.v. 1.3.1990 – 3 C 50.86 – DVBl 1991, 46 – 49, zitiert nach juris Rn. 38f.). Sowohl die Bestimmung des Sinngehalts, die Feststellung der Tatsachengrundlagen als auch die Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs auf den Einzelfall unterliegen der uneingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung (BVerwG, U.v. 1.3.1990 – 3 C 50.86 – a.a.O. juris Rn. 38 f.; BVerwG, B.v. 17.9.2015 – 2 A 9/14 – BVerwGE 153, 36 – 48, zitiert nach juris Rn. 17).
Der lückenlose Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG gewährt, schließt dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts normativ eröffnete Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume nicht von vornherein aus, da die verwaltungsgerichtliche Überprüfung nicht weiter reichen kann als die materiellrechtliche Bindung der Verwaltung (BVerfG, B.v. 16.12.1992 – 1 BvR 167/87 -BVerfGE 88, 40 – 63, zitiert nach juris Rn. 44, 55; BVerfG, B.v. 8.7.1982 – 2 BvR 1187/80 – BVerfGE 61, 82 (111) = NJW 1982, 2173-2177; BVerfG, B.v. 17.4.1991 -1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 – BVerfGE 84, 34 (50)). Gerichtliche Kontrolle kann demnach nicht stattfinden, soweit das materielle (Gesetzes- oder Richter-)Recht in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise das Entscheidungsverhalten nicht vollständig determiniert und der Verwaltung einen Einschätzungs- und Auswahlspielraum belässt (BVerfG B.v. 31.5.2011 – 1 BvR 857/07 a.a.O., zitiert nach juris Rn. 73 m.w.N.). In einer solchen Lage handelt die Verwaltung kraft eigener Kompetenz (BVerfG, B.v. 8.8.1978 – 2 BvL 8/77 – BVerfGE 49, 89 (124 ff.) = DVBL 1979, 45 – 52).
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wurden derartige Prärogativen der Verwaltung anerkannt für beamtenrechtliche Beurteilungen, bei Prüfungsentscheidungen („aus der Natur der Sache“, vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 114 Rn. 67), bei Wertungen, die das Gesetz sachverständigen oder pluralistisch zusammengesetzten Gremien anvertraut (Rennert in Eyermann, VwGO, a.a.O., § 114 Rn. 73, der allein die Übertragung nicht für ausreichend erachtet, sondern zusätzlich einen gewichtigen Sachgrund für erforderlich hält), bei prognostischen Einschätzungen mit politischem Einschlag und bei planerisch gestaltenden Entscheidungen (vgl. die Übersicht in BVerwG U.v. 26.6.1990 – 1 C 10/88 – NVwZ 1991, 268 – 270, zitiert nach juris Rn. 20 m.w.N.). Eine Bezeichnung als „Fallgruppen“ verbietet sich jedoch, da jeweils nur Einzelfälle entschieden wurden und in jedem Einzelfall durch Auslegung der Norm zu ermitteln ist, ob eine Beurteilungsermächtigung eingeräumt wird oder ausnahmsweise aus anderen Gründen angenommen werden kann (so auch Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand September 2018, § 114 Rn. 57).
Voraussetzung für die Annahme eines solchen Beurteilungsspielraums ist nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen zunächst, dass die Ermächtigung ihrer Art und ihrem Umfang nach den jeweiligen Rechtsvorschriften zumindest konkludent entnommen werden kann und dass es für sie einen hinreichend gewichtigen Sachgrund gibt (BVerfG, B.v. 31.5.2011 – 1 BvR 857/07 -a.a.O. zitiert nach juris Rn. 99; BVerwG, U.v. 29.6.2016 – 7 C 32/15 – NVwZ 2016, 1566 – 1570, zitiert nach juris Rn. 29). Im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ist es Aufgabe des Gesetzgebers, unter Beachtung der Grundrechte die Rechtsposition zuzuweisen und auszugestalten, deren gerichtlichen Schutz Art. 19 Abs. 4 GG voraussetzt und gewährleistet (BVerwG, B.v. 21.12.1995 – 3 C 24/94 – a.a.O., zitiert nach juris Rn. 30). Ob das Gesetz eine solche Beurteilungsermächtigung enthält, ist durch Auslegung des jeweiligen Gesetzes zu ermitteln (BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 3 C 8/06 – a.a.O. zitiert nach juris Rn. 26 m.w.N.; BVerwG, U.v. 23.1.2008 – 6 A 1/07 – BVerwGE 130,180 – 197, zitiert nach juris Rn. 43; BVerwG, U.v. 23.11.2011 – 6 C 11.10 – NVwZ 2012, 1047 – 1051, zitiert nach juris Rn. 37).
b. § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG lässt sich nach Auslegung der in ihm enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe unter Anwendung der dargestellten Grundsätze keine normative Ermächtigung zur Annahme eines Beurteilungsspielraums für die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik auf der Tatbestandsseite des Rechtfertigungsgrundes entnehmen. Es ergeben sich keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber der Verwaltung einen Spielraum für die nach § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG zu treffende Entscheidung einräumen wollte. Dies folgt insbesondere daraus, dass er keine Kriterien benennt, die über den Schweregrad der Erkrankung hinaus in eine Abwägungsentscheidung zwischen den betroffenen Grundrechten einzustellen wären. Aus dem Fehlen dieser Kriterien darf nicht abgeleitet werden, dass der Gesetzgeber der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum einräumen wollte.
Ein anderes Verständnis des Norminhalts des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG wäre sowohl im Hinblick auf die Normenklarheit und Normbestimmtheit als auch im Hinblick auf die Wesentlichkeitstheorie verfassungsrechtlich bedenklich.
(1) Das Gebot der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit (vgl. BVerfG, B.v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 (145) = DVBl 1991, 261 – 266; VerfG B.v. 3.6.1992 – 1 BvR 1041/88, 2 BvR 78/89 – BVerfGE 86, 288 (311) = NJW 1992, 2974 – 2960; BVerfG, B.v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01 – BVerfGE 108, 52 (75) = NJW 2003, 2733 – 2737; BVerfG B.v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92 – BVerfGE 110, 33 (57) = NJW 2004, 2213 – 2222) soll die Betroffenen befähigen, die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung zu erkennen, damit sie ihr Verhalten danach ausrichten können (BVerfG, B.v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 – 155 = DVBl 1991, 261 – 266, zitiert nach juris Rn. 45). Zu den Anforderungen an die Normenbestimmtheit und Normenklarheit gehört, dass hinreichend klare Maßstäbe für Abwägungsentscheidungen bereitgestellt werden. Je ungenauer die Anforderungen an die dafür maßgebliche tatsächliche Ausgangslage gesetzlich umschrieben sind, umso größer ist das Risiko unangemessener Zuordnung von rechtlich erheblichen Belangen. Die Bestimmtheit der Norm soll auch vor Missbrauch schützen. Schließlich dienen die Normenbestimmtheit und die Normenklarheit dazu, die Gerichte in die Lage zu versetzen, getroffene Maßnahmen anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren (BVerfG, U.v. 26.7.2005 – 1 BvR 782/94 und 1 BvR 957/96 – BVerfGE 114, 1 – 71 = NJW 2005, 2363 – 2376, zitiert nach juris Rn. 184). Die Anforderungen an die Bestimmtheit erhöhen sich mit der Intensität, mit der auf Grundlage der betreffenden Regelung in grundrechtlich geschützte Bereiche eingegriffen werden kann. Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass die Norm überhaupt keine Auslegungsprobleme aufwerfen darf. Dem Bestimmtheitserfordernis ist vielmehr genügt, wenn diese mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können (BVerfG, B.v. 24.7.1963 – 1 BvR 425/58, 1 BvR 786/58, 1 BvR 787/58 – BVerfGE 17, 67 (82) = MDR 1963, 905; hierzu auch BVerfG, U.v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – a.a.O., juris Rn. 45).
Diesem Gebot trägt nach der derzeit geltenden Rechtslage allein das gefundene Auslegungsergebnis hinreichend Rechnung.
Für die Betroffenen ist klar erkennbar, wann eine Erbkrankheit als schwerwiegend anzusehen ist. An dem Maßstab der Muskeldystrophie Duchenne können sie ihr Verhalten ausrichten. Dies ist auch im Hinblick auf das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG bedeutsam, das gewahrt werden muss, weil es sich bei § 3a ESchG um eine Norm des Nebenstrafrechts handelt. Auch für die Beurteilung des Vorliegens von Rechtfertigungsgründen gelten die Anforderungen an die strafrechtliche Bestimmtheit der Norm. Dabei gebietet es der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung (BVerfG, B.v. 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79 – BVerfGE 54, 277 – 300, zitiert nach Juris Rn. 48), innerhalb einer Norm verwendete unbestimmte Rechtsbegriffe im strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sinn gleich zu verstehen. Die strafrechtliche Bestimmtheitsanforderung ist ein klares Indiz gegen einen Beurteilungsspielraum.
Außerdem würde eine Norminterpretation, die über die Schwere der Krankheit im medizinischen Sinn hinausgehende Belange berücksichtigen und einen Beurteilungsspielraum im Sinne einer Abwägungsentscheidung eröffnen wollte, in einem unmittelbar grundrechtsrelevanten Bereich zu einer Schutzlosigkeit der Normadressaten führen, da ihnen nur eingeschränkte Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber behördlichen Entscheidungen zur Verfügung stünden und damit gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen.
(2) Bedenken hinsichtlich eines Normverständnisses, das weitere Abwägungskriterien zur Beurteilung einer Erbkrankheit als „schwerwiegend“ umfasst, ergeben sich außerdem aus der Wesentlichkeitstheorie.
In einem Bereich, wo die Ausübung eines Grundrechts gleichzeitig die Beeinträchtigung eines gleichrangigen Grundrechts zur Folge hat, ist allein der Gesetzgeber zu einer Regelung berufen, die die betroffenen Grundrechte zum Ausgleich zu bringen vermag. Nachdem auch Embryonen als Grundrechtsträger anzusehen sind, kollidieren deren Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG mit dem Selbstbestimmungsrecht und dem Würdeschutz der betroffenen Eltern aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG (zu den bei PID betroffenen Grundrechten siehe BayVGH, U.v. 30.11.2018 – 20 B 18.290 – a.a.O.). Nach der Wesentlichkeitstheorie ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte wesentlich sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muss (BVerfG, B.v. 27.11.1990 I BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 – 155 = DVBl 1991, 261 – 266, zitiert nach juris Rn. 39 unter Bezugnahme auf weitere Entscheidungen). Diesem folgend hätte der Gesetzgeber selbst weitergehende Kriterien zur Abwägung der betroffenen Grundrechte regeln müssen. Aus der derzeit geltenden Regelung lässt sich allein die Schwere der Erkrankung als Maßstab für das Vorliegen einer „schwerwiegenden Erbkrankheit“ entnehmen.
c. Aus dem Erfordernis einer Wertung in Form des Vergleichs der vorliegenden Erbkrankheit mit dem Schweregrad der Muskeldystrophie Duchenne ergibt sich auf Tatbestandsseite kein Beurteilungsspielraum für die Entscheidung der Ethikkommission.
Denn wertende Entscheidungen sind bei Auslegung und Ausfüllung nahezu jedes unbestimmten Rechtsbegriffs zu treffen. Ein Beurteilungsspielraum kommt bei wertenden Entscheidungen aber nur in Betracht, soweit das materielle Recht der Verwaltung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne dafür hinreichend bestimmte Vorgaben zu enthalten (BVerwG, U.v. 23.6.1993 II C 12/92 – BVerwGE 92, 340 – 353, zitiert nach juris Rn. 33). Nach dem Ergebnis der gefundenen Auslegung stellt das Gesetz ein derartiges Letztentscheidungsrecht der Verwaltung nicht zur Verfügung. Bereits aus diesem Grund ist dem Verwaltungsgericht nicht zu folgen, dass aus der nur vagen gesetzlichen Regelung, die sich vorliegend eher als Regelungsdefizit darstellt, ein Beurteilungsspielraum für die Verwaltung folge, der gerichtlich nur noch eingeschränkter Prüfung unterliegt.
d. Auch § 3a Abs. 3 ESchG lässt sich keine Beurteilungsermächtigung entnehmen. Für die Frage der Einräumung eines Spielraums für die Verwaltung ist allein auf materielle Kriterien für die Verwaltungsentscheidung abzustellen und nicht auf die Übertragung der Entscheidung auf ein Kollegialorgan (vgl. Rennert, a.a.O. Rn. 73). Materielle Entscheidungskriterien, die einen Beurteilungsspielraum eröffnen könnten, liegen nicht vor. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht mehrfach zugunsten eines Beurteilungsspielraums bei Gremien-Entscheidungen entschieden, wenn diesen Entscheidungen stark wertende Elemente anhafteten und das Gesetz für sie deshalb ein besonderes Verwaltungsorgan für zuständig erklärt, das weisungsfrei, mit besonderer fachlicher Legitimation und in einem besonderen Verfahren entscheidet (z.B. Bewertung von Weizensorten durch unabhängigen Sachverständigenausschuss nach dem Saatgutverkehrsgesetz: BVerwG, U.v. 25.6.1981 – 3 C 35/80 – BVerwGE 62, 331 = DVBl 1982, 29 – 31; Zulassung eines Börsenmaklers durch den Börsenvorstand: BVerwG, U.v. 7.11.1985 – 5 C 29/82 – BVerwGE 72, 195 = DVBl 1986, 565; zur Beurteilung, ob ein Wein in Aussehen, Geruch und Geschmack frei von Fehlern ist: BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 3 C 8/06 – BVerwGE 129, 27 = NJW 2007, 2790 unter Aufgabe von BVerwG, U.v. 25.11.1993 – 3 C 38/91 – BVerwGE 94, 307 = NVwZ 1995, 707 – 710).
Jedoch steht der Annahme eines Beurteilungsspielraumes auch hier entgegen, dass sich nach verfassungsgemäßer Auslegung der Norm dieser materiell keine Anhaltspunkte für die Einräumung eines Beurteilungsspielraums entnehmen lassen. Wie oben unter II.1.g. dargelegt, stellt auch § 6 Abs. 4 PIDV diese nicht zur Verfügung. Diese Norm verstößt zum einen gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, weil die Verordnungsermächtigung in § 3a Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 ESchG den Verordnungsgeber nicht zur Festlegung inhaltlicher Entscheidungskriterien ermächtigt und zum anderen gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz, weil wegen der im Bereich des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG unmittelbar kollidierenden Grundrechte der Gesetzgeber selbst zur Regelung inhaltlicher Entscheidungskriterien berufen wäre.
Aus dem organisationsrechtlichen Akt der Errichtung und Benennung von „Ethikkommissionen“ allein ist ein Rückschluss auf materiellrechtliche Entscheidungsbefugnisse nicht zulässig.
Einem solchen Normverständnis stehen Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG entgegen.
Wegen der unmittelbaren Grundrechtsrelevanz obliegt es dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit, taugliche Abwägungskriterien in einem förmlichen Gesetz zu regeln und der Verwaltung damit Entscheidungsspielräume einzuräumen. Unterlässt er dies, kann er dieses Regelungsdefizit nicht durch die Errichtung von Verwaltungseinheiten ausgleichen und diesen die unterlassene gesetzgeberische Entscheidung übertragen. Es kann weder der Verwaltung noch den Gerichten überlassen werden, ohne gesetzliche Grundlage durch die Annahme behördlicher Letztentscheidungsrechte die Grenzen zwischen Gesetzesbindung und grundsätzlich umfassender Rechtskontrolle der Verwaltung zu verschieben. Anderenfalls könnten diese „in eigener Sache“ die grundgesetzliche Rollenverteilung zwischen Exekutive und Judikative verändern. Nimmt ein Gericht ein behördliches Letztentscheidungsrecht an, das mangels gesetzlicher Grundlage nicht besteht, und unterlässt es deshalb die vollständige Prüfung der Behördenentscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit, steht dies nicht nur im Widerspruch zur Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG), sondern verletzt vor allem auch das Versprechen wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG, B.v. 31.5.2011 – 1 BvR 857/07 – NVwZ 2011, 1062).
Dies gilt, obwohl sich § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 Nr. 2 ESchG an mehreren Stellen Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass der Gesetzgeber der Ethikkommission für die nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG zu treffende Entscheidung möglicherweise einen Beurteilungsspielraum einräumen könnte. Diese verfahrensrechtlichen Regelungen laufen aber ins Leere, weil § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG keine Entscheidungshilfen oder Leitlinien enthält, mit welchen die Ethikkommissionen arbeiten könnten. Das eingeräumte Verfahrensrecht spiegelt sich materiellrechtlich nicht wider.
Der Gesetzgeber hat im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nrn. 1 und 26 GG ein Gremium zur Entscheidung über die Zulässigkeit der Durchführung einer PID berufen, dieses als „Ethik“-Kommission bezeichnet, geregelt, dass es „interdisziplinär“ zu besetzen und eine „zustimmende Bewertung“ abgeben müsse. Daraus könnte man entnehmen, dass der Gesetzgeber auch andere als nur medizinische Kriterien für die Frage der Durchführung einer PID für relevant hielt (die derzeit nur in § 6 Abs. 4 PIDV Eingang gefunden haben) und diese von der Ethikkommission behandeln und durch sie entscheiden lassen wollte. Dafür spricht auch, dass der Gesetzgeber von einem Indikationenkatalog zur Einstufung des Schweregrades einer Erbkrankheit bewusst absah und jeweils Einzelfallentscheidungen wünschte (BT-Drs. 17/5451 S. 7 III.).
Gegen eine entsprechende Absicht des Gesetzgebers spricht jedoch der Umstand, dass § 6 Abs. 4 PIDV im ursprünglichen Entwurf der Präimplantationsdiagnostikverordnung lediglich vorgesehen hatte, dass die Ethikkommissionen den Antrag auf Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik zustimmend zu bewerten haben, wenn sie nach Prüfung der in § 5 Abs. 4 PIDV genannten Angaben und Unterlagen zu dem Ergebnis kommen, dass die in § 3a Abs. 2 ESchG genannten Voraussetzungen erfülllt sind (vgl. BR-Drucksache 711 ‘7/12 S. 6). Der Begründung dieses ersten Verordnungsentwurfs lassen sich keine Anhaltspunkte für einen entsprechenden Beurteilungsspielraum entnehmen, sodass die Vermutung naheliegt, dass der Verordnungsgeber § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG als gebundene Entscheidung ohne Entscheidungsspielraum verstanden hat.
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wurden auch Externe angehört, insbesondere die Sozialverbände. Der Stellungnahme der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (Lebenshilfe) an die Bundesregierung zum Referentenentwurf einer Verordnung über die rechtmäßige Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik (PIDV) vom 15. August 2012 lässt sich entnehmen, dass dieser Referentenentwurf als reine Indikationslösung verstanden wurde (S. 4 Abs. 6 der Stellungnahme). Gleichzeitig wurde die Bundesregierung aufgefordert, den „Beurteilungsspielraum“ der Ethikkommissionen zu erweitern, damit sie eine ethische Bewertung und Abwägung vornehmen könnten (S. 4 der Stellungnahme unten). Daraufhin erhielt § 6 Abs. 4 PIDV aufgrund der Empfehlung der Ausschüsse für Gesundheit, Frauen und Jugend und Kulturfragen vom 18. Januar 2013 (BR-Drucksache 717/1/12) seine jetzige Fassung. Auch hier ist lediglich von einer Zusammenschau aller berührten medizinischen, psychischen, sozialen und ethischen Aspekte und nicht von einem Beurteilungsspielraum die Rede (vgl. BR-Drucksache 717/1/12 S. 8).
Damit kann den Gesetzesmaterialien kein entsprechender Wille des formellen Gesetzgebers, den Ethikkommissionen einen Beurteilungsspielraum einzuräumen, entnommen werden.
Außerdem hat der Gesetzgeber nicht geregelt, in welcher Besetzung und unter Beteiligung welcher Fachrichtungen eine „interdisziplinäre“ Entscheidung getroffen werden sollte. Dem Gesetzgeber selbst obliegt es aber, wegen der Grundrechtsrelevanz der Entscheidung über Zustimmung oder Ablehnung der Durchführung einer PID, Wesentliches zu regeln (vgl. etwa § 8 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Stammzellgesetz (StZG)). Dazu gehört nach Auffassung des Senats auch die konkrete Ausgestaltung der Zusammensetzung der Ethikkommission, weil diese mit den dort vertretenen Fachrichtungen unmittelbaren Einfluss auf die Gewichtung der möglichen (in § 3a Abs. 2 Satz 2 ESchG aber nicht geregelten) Entscheidungskriterien hat. § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG genügt insoweit wohl nicht den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts. Die über § 3a Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 ESchG, § 4 Abs. 1 Satz 3, Abs. 4 Satz 1 PIDV, Art. 2 Abs. 3 Satz 1 BayAGPIDV vorgenommene Delegation der Zusammensetzung der Ethikkommission auf den Landesgesetzgeber dürfte zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht ausreichen.
Zweifelhaft ist des Weiteren, ob die Einrichtung der Ethikkommissionen in § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ESchG dem Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG entspricht, weil ihre Mitglieder von der jeweiligen Landesregierung ernannt werden (Art. 2 Abs. 4 BayAGPIDV). Nach dem Demokratieprinzip müssen Behörden ihre Legitimation im Wege einer „Legitimationskette“ vom Souverän des Parlaments ableiten (BVerfG, B.v. 5.12.2002 – 2 BvL 5, 6/98 – BVerfGE 127, 59 Leitsatz Nr. 3; BVerfG, B.v.13.7.2004 – 1 BvR 1298, 1299/94, 1332/95, 613/97 – BVerfGE 111, 191 (217); Silja Vöneky, „Recht, Moral und Ethik“, Jus Publicum Band 198, Tübingen 2010, S. 584 ff., 613, 621). Dies erscheint bei der derzeitigen Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen fraglich, zumal die Entscheidung der Ethikkommissionen über die Zulässigkeit der Durchführung einer PID nicht als sachverständige Äußerung in ein behördliches Genehmigungsverfahren eingebunden (wie etwa in § 6 Abs. 4 Nr. 3 Stammzellgesetz (StZG) und § 42 Abs. 1 Satz 1 Arzneimittelgesetz (AMG)), sondern als eigenständiges Verwaltungsverfahren ausgestaltet ist. Ob ehrenamtliche (Art. 2 Abs. 5 Satz 1 BayAGPIDV), von der Landesregierung berufene Mitglieder der Ethikkommission eine das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise treffen dürfen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedoch wird die Frage der Entscheidungskompetenz von Ethikkommissionen durchaus kritisch diskutiert (vgl. Gutachten von Pestalozza u.a. „Ethikkommissionen in der medizinischen Forschung“ im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland für die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages, 15. Legislaturperiode, Gutachten für Bundesregierung, Zusammenfassung: S. 307).
Jedenfalls aber ist – unabhängig vom Vorliegen verfassungsrechtlicher Bedenken -den organisationsrechtlichen Bestimmungen des § 3a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. §§ 4 – 6 PIDV keine Beurteilungsermächtigung zugunsten der Verwaltung zu entnehmen (BVerwG U.v. 21.12.1995 – 3 C 24/94 – a.a.O. juris Rn. 32) . Die Entscheidung des Gesetzgebers, einer interdisziplinär besetzten Kommission die Befugnis zur Erteilung der Zustimmung zur PID zu übertragen, kann ohne Hinzutreten materieller Regelungen nicht zur Einräumung eines Beurteilungsspielraums auf Seiten der Ethikkommission führen. Diese stellt § 3a Abs. 2 Satz 2 ESchG – wie dargelegt – nach verfassungsgemäßer Auslegung nicht zur Verfügung.
e. Anhaltspunkte dafür, dass mit der Entscheidung über das Vorliegen einer „schwerwiegenden Erbkrankheit“ die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung erreicht wären, weshalb ein Letztentscheidungsrecht der Verwaltung bestehen könnte, sind nicht ersichtlich. Das Auslegungsergebnis ermöglicht ohne Weiteres die Rechtsanwendung. Demnach ergibt sich ein Beurteilungsspielraum ohne das Erfordernis normativer Verankerung auch nicht „aus der Natur der Sache“ (vgl. Rennert in Eyermann, a.a.O. § 114 VwGO Rn. 67, 71a; Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, a.a.O. Einl. 114 VwGO Rn. 188; offengelassen BVerfG, B.v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81, 213/83 – BVerfGE 84, 34 – 58 = DVBl 1991, 801 – 805; B.v. 31.5.2011 -1 BvR 857/07 – BVerfGE 129, 1 – 37 = NVwZ 2011, 1062 – zitiert nach juris Rn. 76; hierzu auch BVerwG, U.v. 22.9.2016 – 4 C 2/16 – BVerwGE 156, 148 – 159, zitiert nach juris Rn. 24; BVerwG, U.v. 23.3.2011 – 6 C 6/10 – BVerwGE 139, 226 – 246, zitiert nach juris Rn. 20; kritisch hierzu Kment/Vorwalter „Beurteilungsspielraum und Ermessen“ JUS 2015, 193, S. 6 m.w.N.; anerkannt für Prüfungen, prüfungsähnliche Entscheidungen, Beurteilungen, vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, a.a.O. § 114 Rn. 67, 68). Vom Bundesverwaltungsgericht und kürzlich auch vom Bundesverfassungsgericht ist ein gerichtlich nicht überprüfbarer Spielraum der Verwaltung im Naturschutzrecht angenommen worden. Dort geht es regelmäßig um fachliche Bewertungen und Einschätzungen, für die normkonkretisierende Maßstäbe fehlen. Die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung werden bejaht, wo die Rechtsprechung zwischen verschiedenen jeweils vertretbaren fachwissenschaftlichen Positionen entscheiden müsste. Es ist weder Aufgabe der Verwaltungsgerichte, wissenschaftliche Streitfragen zu entscheiden, noch, eine solche Entscheidung durch die Erteilung von Forschungsaufträgen zu ermöglichen oder zu fördern (BVerwG, U.v. 6.4. 2016 – 4 C 1.15 – NVwZ 2016, 1247 Rn. 24; BVerwG, U.v. 22.9.2016 – 4 C 2/16 – a.a.O. juris Rn. 35; in diesem Sinne auch BVerfG, B.v. 23.10.2018 – 1 BvR 2523/13 – DVBl. 2019, 42). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Vielmehr ist unter Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe in ihrem durch Auslegung ermittelten Bedeutungsgehalt eine Entscheidung, ob eine Erbkrankheit als schwerwiegend anzusehen ist, möglich. Die Schwierigkeit und Komplexität der zu treffenden Entscheidung ist kein Kriterium für die Annahme eines Beurteilungsspielraums (vgl. BVerwG, U.v. 25.7.2013 – 2 C 12/11 – BVerwGE 147, 244 – 261, zitiert nach juris Rn. 25). Die Beurteilung medizinischer Sachverhalte nach Aufklärung und ihre Subsumption unter das nach Auslegung ermittelte anzuwendende Recht ist den Gerichten ohne Weiteres – nötigenfalls unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen – möglich und deren originäre Aufgabe (BVerfG, B.v. 17.4.1991 – 1 BvR 1529/84, 1 BvR 138/87 -BVerfGE 84, 59 (79) = NJW 1991, 2008).
3. Das „hohe Risiko“ ist bei monogenen Erbkrankheiten bei einer Eintrittswahrscheinlichkeit zwischen 25 und 50% zu bejahen. Dies ergibt die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs.
a. Aus dem Wortlaut allein sind keine sicheren Rückschlüsse auf die Wortbedeutung möglich. „Risiko“ wird beschrieben als „möglicher negativer Ausgang bei einer Unternehmung, mit dem Nachteile, Verlust, Schäden verbunden sind; mit einem Vorhaben, Unternehmen o.ä. verbundenes Wagnis“ (Duden).
Dem Begriff „hohes Risiko“ kann keine mathematische Größe der Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden. Zwar ist im Sprachgebrauch eine Abgrenzung des „hohen Risikos“ zum „überwiegenden Risiko“ anerkannt. Ein überwiegendes Risiko ist demnach anzunehmen, wenn der Eintritt eines Ereignisses wahrscheinlicher ist als dessen Ausbleiben, also in einem Bereich der Wahrscheinlichkeit von über 50%. Ein hohes Risiko ist damit jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit an einen Bereich von 50% heranreicht, eine trennscharfe Abgrenzung zum „überwiegenden Risiko“ ist aber nicht möglich. Genauso wenig exakt verläuft nach dem Sprachgebrauch die Abgrenzung in Bereiche geringerer Wahrscheinlichkeit. Wann aus einem „hohen Risiko“ ein „erhöhtes“, „normales“ oder gar „geringes“ Risiko wird, lässt sich nicht bestimmen, da es sich nicht um absolut, sondern nur relativ bestimmbare Wahrscheinlichkeiten handelt, die jeweiliger Einordnung in einen Lebenssachverhalt bedürfen. Die sprachlichen Kategorisierungen sind daher wenig geeignet, anhand prozentualer Grenzen den Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit auszudrücken. Gemein ist den genannten Kategorien lediglich, dass sich die Eintrittswahrscheinlichkeit jeweils – legt man obige Ausführungen zugrunde – in einem Bereich unterhalb von 50% bewegen dürfte.
b. Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, ein „hohes Risiko“ sei eine hohe Wahrscheinlichkeit, die vom üblichen Risiko der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wesentlich abweiche. Zum anderen sei die Eintrittswahrscheinlichkeit nach den Gesetzlichkeiten der Übertragbarkeit und Kombination erblicher Anlagen genetisch einzuschätzen: Eine Wahrscheinlichkeit von 25 bis 50% werde als hohes Risiko bezeichnet. Das „Risiko des Paares“ müsse nicht auf einer Belastung beider Partner beruhen, sondern könne sich auch bei nur einem Partner ergeben (Begründung zum Entwurf eines Präimplantationsgesetzes, BT-Drs. 17/5451 Seite 8).
Hintergrund der Festlegung auf einen Grad der Wahrscheinlichkeit von 25 bis 50% bei monogenen Erbkrankheiten sind die Grundsätze der Vererbungslehre (Mendel’sche Gesetze). Demnach besteht bei rezessiver Vererbung eine Wahrscheinlichkeit der Weitergabe auf die Nachkommen von 25%, bei dominanter Vererbung eine Wahrscheinlichkeit von 50%. Im Ergebnis wird so durch die Festlegung auf eine Eintrittswahrscheinlichkeit zwischen 25 und 50% jede schwerwiegende monogene Erbkrankheit erfasst (so auch Günther/Taupitz/Kaiser, Embryonenschutzgesetz, 2. Auflage 2014, § 3a Rn. 30; Pelchen/Häberle in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand Dezember 2018, § 3a ESchG Rn. 7; Frister/Lehmann, JZ 2012, 659, 660).
c. Der Auffassung von Taupitz (a.a.O. Rn. 30), wonach sich das Risiko nicht (stets) in einem mathematisch exakten Sinn ermitteln lasse und das (vielleicht seltene) Krankheitsbild ebenfalls eine Rolle spiele, folgt der Senat zwar nicht. Richtig ist aber, dass die dargelegte Wahrscheinlichkeit von 25 bis 50% nicht für alle von § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG erfassten Erbkrankheiten gilt. Insbesondere im Bereich chromosomaler Störungen können Erbkrankheiten erst erkennbar werden, wenn es beim Nasciturus bei phänotypisch gesunden Eltern zu erheblichen, teilweise lebensfeindlichen Beeinträchtigungen kommt. In diesen Konstellationen ist die Berechnung einer Wahrscheinlichkeit anders als bei monogenen Erbkrankheiten nicht in allen Fällen möglich. In diesem Sinn ist auch die Passage der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/5451 S. 8) zu verstehen, wonach es sich um die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung handeln müsse, die vom üblichen Risiko der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland abweicht. Eine rein medizinischnaturwissenschaftliche Betrachtungsweise ist aber bei monogenen Erbkrankheiten zulässig.
d. Deshalb ist der Argumentation des Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht zu folgen, wonach der Risiko-Begriff des § 3a ESchG bereits die zu erwartende Schwere der Erkrankung enthalte, sodass die Möglichkeit schwerster Erkrankung allein zu einem hohen Risiko führen könne. Denn das Gesetz verwendet in seinem Wortlaut die Begriffe „hohes Risiko“ und „schwerwiegende Erbkrankheit“ nebeneinander. Wäre die Schwere der Erbkrankheit begrifflich im „Risiko“ enthalten, wäre der unbestimmte Rechtsbegriff „schwerwiegend“ bedeutungslos. Die Änderung der Begrifflichkeiten von „Wahrscheinlichkeit“ in „Risiko“ im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ist ebenfalls nicht geeignet, dem Wort „Risiko“ eine von der hier vertretenen Auffassung abweichende, in Bezug auf die Erbkrankheit qualitative Bedeutung beizumessen. Der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses vom 11. Juni 2011 lässt sich kein Grund für die Änderung des Gesetzestextes von „Wahrscheinlichkeit“ in „Risiko“ entnehmen. Die Begriffe wurden bereits in der parlamentarischen Debatte (1. – 3. Beratung BT-PlPr 17/105 S. 11945A-11972D, 17/120 S. 13871C-13913C, 17/120 S. 13910C-13913C) nebeneinander verwendet, wobei „Wahrscheinlichkeit“ eher gebräuchlich war, um die Chance für Paare, einen lebensfähigen Embryo zu zeugen, zu benennen. „Risiko“ wurde dann verwendet, wenn die eingeschränkten Lebenschancen für den Embryo im Fokus standen. Dementsprechend drückt die Änderung in „Risiko“ nur eine unerwünschte Wahrscheinlichkeit aus. Dies führt aber nicht dazu, dass dem Begriff des Risikos der Schweregrad der Erkrankung schon immanent ist.
Demnach liegt bei monogenen Erbkrankheiten ein hohes Risiko dann vor, wenn sie eine Auftrittswahrscheinlichkeit zwischen 25 und 50% haben. Diese Wahrscheinlichkeitsberechnung ergibt sich aus medizinischnaturwissenschaftlichen Grundsätzen.
4. Aus Vorgenanntem folgt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes des § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG nicht vorliegen. Es besteht für die Nachkommen der Klägerin und ihres Partners kein hohes Risiko, an der DM1 in einer Ausprägung zu erkranken, die die Durchführung einer PID rechtfertigen könnte.
a. Bei der myotonen Dystrophie Typ 1 handelt es sich zweifellos um eine Erbkrankheit i.S.d. § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG. Eine Erbkrankheit ist eine Krankheit, bei der krankhaft veränderte Erbmasse eine ursächliche Rolle spielt (Duden). Nach der Gesetzesbegründung versteht der Gesetzgeber unter Erbkrankheit i.S.d. § 3a ESchG monogen bedingte Erkrankungen sowie Chromosomenstörungen (BT-Drs. 17/5451, S. 8). Nachdem Ursache für die myotone Dystrophie eine Mutation im Dystrophia-Myotonica-Proteinkinase-Gen (DMPK) auf Chromosom 19q13.2-13-3 ist, handelt es sich (unstreitig) um eine monogene Erkrankung.
b. Die myotone Dystrophie Typ 1 tritt in unterschiedlichen Schweregraden auf. Bei der beim potentiellen Kindsvater vorliegenden klassischen Form der DM1 handelt es sich jedenfalls nicht um eine Erbkrankheit, die einen Schweregrad aufweist, der die Durchführung einer PID zu rechtfertigen vermag.
Die myotonen Dystrophien sind erbliche Muskelerkrankungen, die durch Muskelschwund (Dystrophie) sowie eine verzögerte Erschlaffung der Muskeln (Myotonie) gekennzeichnet sind. Auch wenn die myotonen Dystrophien mit einer Häufigkeit von 1 : 12.000 (1/8.000 – 1/20.000, Quelle: Dr. Gumbert https://www.drgumbert.de/html/ myotone dystrophie.html, zuletzt recherchiert am 16. Januar 2019; 1 : 10.000 -1 : 15.000, Quelle. Genetikum, Genetische Diagnostik in der Neurologie, https://www. genetikum.de/de/genetikum/Infothek/infothek detail, zuletzt recherchiert am 16. Januar 2019) zu den seltenen Erkrankungen zählen, sind es die häufigsten Muskelerkrankungen im Erwachsenenalter. Es werden zwei Formen unterschieden, die myotone Dystrophie Typ 1 (DM1; auch Curschmann-Steinert-Erkrankung) und die myotone Dystrophie Typ 2 (DM2; auch Proximale myotone Myopathie, PROMM). Bei beiden Formen handelt es sich um multisystemische Erkrankungen. Dies bedeutet, dass die Symptome nicht nur die Skelettmuskulatur, sondern auch glatte Muskulatur, Auge, Herz, den Hormonhaushalt und das Zentralnervensystem betreffen können. Im Bereich der Skelettmuskulatur führt die Erkrankung zu einer Muskelschwäche und abnormen Muskelentspannbarkeit (Myotonie). Es besteht möglicherweise eine milde bis mäßige Erhöhung des CK-Wertes, eines im Blut messbaren Muskelenzyms. In einer Bildgebung des Gehirns (cMRT) können sich Aufhellungen in der sog. weißen Substanz darstellen. Eine Herzbeteiligung kann sich in Form von Herzrhythmusstörungen und seltener in einer Kardiomyopathie (Herzmuskelschwäche) äußern. Am Auge entwickelt sich häufig eine Linsentrübung (Katarakt, Grauer Star). Hormonelle Störungen können sich z.B. in einem Diabetes mellitus zeigen. Bei der DM1 sind im Bereich der Skelettmuskulatur hauptsächlich die Muskeln des Gesichts, der Nackenbeuger, sowie die stammferne (distale) Muskulatur der Extremitäten (Unterarme und Hände sowie Unterschenkel und Füße) betroffen. Typisch für die DM1 ist, dass die Patienten im Krankheitsverlauf an einer vermehrten Tagesmüdigkeit (Fatigue) leiden.
Generell kann der Schweregrad der DM1 sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und reicht von einer milden Form (40 – 200 Repeats, Erkrankungsalter >50), bei der es nur in höherem Lebensalter zu einer leichten Myotonie und dem Auftreten von Katarakten und einem Diabetes mellitus kommt, über eine klassische Form (200 – 1000 Repeats, Beginn in der Jugend/frühem Erwachsenenalter) zu einer angeborenen (kongenitalen) Form (ca. 1.000 oder mehr Repeats). Es wird in der Literatur auch eine „childhoodonset“ Form der Erkrankung beschrieben, die im jüngeren Kindesalter beginnt. Die Kinder zeigen meist neuropsychologische und neuropsychiatrische Symptome wie Autismus-Spektrum-Störungen, auffälliges Verhalten wie ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, häufig Intelligenzminderung (60 – 80% der Patienten) und kognitive Verlangsamung. Weitere Symptome der klassischen DM1 können in unterschiedlicher Ausprägung hinzutreten. Die Repeat-Länge liegt wie bei der klassischen Form der Erkrankung meist zwischen 50 – 1.000 (Quelle:„Zerebrale Beteiligung bei myotoner Dystrophie Typ 1 und Typ 2 -Eine systematische Analyse neuropsychologischer Leistungsprofile“, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Hohen Medizinischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Sandra Michaela Adler geb. Mirbach aus Bonn, 2013, S. 15).
Das klinische Bild der schwersten Form der Erkrankung, der kongenitalen Form, ist durch Muskelhypotonie, Schwäche der mimischen Muskulatur, Gedeihstörungen, Extremitätenkontraktur, schwere Ateminsuffizienz und Schluckstörungen v.a. in den ersten Lebensmonaten gekennzeichnet. Im Verlauf zeigt sich eine psychomotorische Retardierung. Eine schwere Beteiligung der Atemmuskulatur kann auch zu einem frühzeitigen Versterben betroffener Kinder führen. Einer Quelle zufolge sind viele Neugeborene auf künstliche Beatmung angewiesen und 25 – 50% sterben innerhalb der ersten 18 Lebensmonate (https://medlexi.de/Myotone Dystrophie Typ 1, zuletzt recherchiert am 16. Januar 2019).
Bei der DM1 ist eine Antizipation charakteristisch. Dies bedeutet, dass die Anzahl der Repeats bei einer Vererbung von einer Generation auf die nächste zunehmen kann (v.a. bei der Vererbung über die weibliche Keimbahn), sodass es bei den Nachkommen zu einer früheren und stärkeren Symptomatik kommt. Im Unterschied zu der DM1 beobachtet man bei der DM2 keine mentale Störung und keine regelhafte Verschlechterung bei Vererbung auf die nächste Generation. Auch gibt es keine angeborenen Verlaufsformen, die sich klinisch bereits im Säuglings- oder Kindesalter manifestieren (Quellen: Medizinisch Genetisches Zentrum – MGZ, München, www.mgzmuenchen.de; Mitteldeutscher Praxisverbund Humangenetik http://www. genetikdresden.de/node/90; Neurologienetz – Das Informationsportal für Ärzte https: …www. neurologienetz.de/fachliches/erkrankungen/neuromuskulaereerkrankungen/ myotonedystrophietyp-1-curschmannsteinerterkrankung; Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V., https://www.dgm.org/muskelerkrankungen/ myotonedystrophie; Schweizerische Muskelgesellschaft, https://www.muskelgesellschaft.ch/diagnosen/muskeldystrophie/myotonedystrophie, alle zuletzt recherchiert am 16. Januar 2019).
Die beim potentiellen Kindsvater (unstreitig) vorliegende klassische Form der DM1 ist nach ihrem Schweregrad nicht geeignet, die Vornahme einer PID zu rechtfertigen, auch wenn die Krankheit fortschreitet, zu erheblichen Beeinträchtigungen in der Lebensgestaltung führt und mit einer eingeschränkten Lebenserwartung zu rechnen ist. Denn den Schweregrad der Muskeldystrophie Typ Duchenne erreicht sie nicht. Insbesondere sind die Betroffenen nicht schon in der Kindheit und im jungen Erwachsenenalter auf intensive Pflege im Alltag angewiesen und haben zwar eine eingeschränkte Lebenserwartung, erreichen jedoch – wenn auch mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen – das fortgeschrittene Erwachsenenalter. Patienten mit der Muskeldystrophie Duchenne erreichen bei sehr frühem Verlust der Gehfähigkeit und progredientem Krankheitsverlauf bislang nur das dritte Lebensjahrzehnt, wobei im Moment nicht abgesehen werden kann, ob und wenn ja in welchem zeitlichen Rahmen und Umfang durch den medizinischen Fortschritt eine Verlängerung der Lebenserwartung erreichbar ist.
Hingegen spricht – auch nach übereinstimmenden Einschätzungen der Beteiligten -viel dafür, dass die kongenitale Form der myotonen Dystrophie Typ 1 die Kriterien für eine schwerwiegende Erbkrankheit im medizinischen Sinn erfüllt. Sie geht mit einer geringen Lebenserwartung (teilweise unter 18 Monaten), und schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Schluckstörungen, Ateminsuffizienz) einher.
c. Für die kongenitale Form der DM1 besteht nach übereinstimmender Einschätzung der Beteiligten und nach Überzeugung des Senats kein hohes Risiko, da die schwere Form der DM1 fast ausschließlich über die mütterliche Keimbahn und nicht im paternalen Erbgang weitergegeben wird.
Das Risiko, dass die Nachkommen der Klägerin an DM1 erkranken werden, besteht wegen der Grundsätze der Vererbung i. H. v. 50%. Es handelt sich um eine autosomaldominante Erbkrankheit, bei der beim Vorliegen eines erkrankten homologen Chromosoms mit der Manifestation der Erkrankung zu rechnen ist. Das für die Erkrankung verantwortliche mutierte Gen liegt nicht auf den Geschlechtschromosomen X oder Y, sondern auf einem der 22 Autosomen, also den geschlechtsunabhängigen Chromosomen. Ein Allel (verschiedene Ausprägungsformen eines Gens) bzw. eine Mutation übt bereits bei heterozygotem Vorliegen eine erkennbare Wirkung auf den Phänotyp aus (http://www.drze.de/imblickpunkt/ praedikativegenetischetestverfahren/module/erbgaengeundbegriffsdefinitionen, zuletzt recherchiert am 20. Februar 2019), sodass nach der Vererbungslehre eine Wahrscheinlichkeit von 50% besteht, dass die Nachkommen der Klägerin an DM1 erkranken.
Abzustellen ist für die Bemessung des Risikos i.S.d. § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG aber nicht auf die klassische Form der DM1. Allein die kongenitale Form der DM1 weist die Kriterien auf, die eine medizinische Indikation rechtfertigen könnten. Nach übereinstimmenden Angaben der Beteiligten und nach den im Verfahren vorgelegten medizinischen Fachaufsätzen besteht für diese schwerste Form der DM1 kein hohes Risiko für die Nachkommen der Klägerin, weil diese Form fast ausschließlich über die mütterliche Keimbahn und nicht durch einen von DM1 betroffenen Vater weitergegeben wird.
Selbst wenn man aufgrund des Merkmals der Antizipation bei der DM1 eine geringere Wahrscheinlichkeit ausreichen lassen wollte, um ein hohes Risiko zu bejahen, da eine Berechnung des Risikos einer Antizipation naturwissenschaftlich nicht möglich ist, ergeben sich weder aus den von Beteiligtenseite vorgelegten fachmedizinischen Aufsätzen, noch aus deren Vortrag oder aus sonstigen allgemein zugänglichen Quellen belastbare Anhaltspunkte dafür, dass für die Nachkommen der Klägerin ein hohes Risiko im dargestellten Sinn besteht. Die Möglichkeit der Weitergabe im paternalen Erbgang, die in der medizinischen Fachliteratur in Einzelfällen beschrieben wird, stellt jedenfalls kein hohes Risiko im dargestellten Sinn dar, da eine relevante Gruppenbildung wissenschaftlich bislang nicht bestätigt wird.
Damit war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Revision war nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil die Fragen, welcher Maßstab für die Einstufung einer Erbkrankheit als schwerwiegend i.S.d. § 3a Abs. 2 Satz 2 ESchG anzulegen ist und ob der Ethikkommission dabei ein Beurteilungsspielraum zusteht, grundsätzliche Bedeutung haben.


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