Medizinrecht

Streit um Befreiung von Versicherungspflicht

Aktenzeichen  S 30 R 1673/15

Datum:
3.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 5, § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Nr. 2
SGG SGG § 193

 

Leitsatz

Die notwendige Prüfung einer befreiungsfähigen Tätigkeit oder Beschäftigung durch den Rentenversicherungsträger kann nicht so weit ausgedehnt werden, dass letzten Endes ihm die Deutungshoheit über die Berufsbilder des Arztes, des Apothekers, des Rechtsanwalts und des Architekten zuerkannt wird. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2015 zur der bescheidsmäßigen Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht für ihre Tätigkeit seit 01.10.2009 verurteilt.
II.
Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist auch begründet. § 6 Absatz 1 S. 1 Nr. 1 SGB IV gebietet auf Antrag die Befreiung derjenigen Beschäftigten und selbstständig Tätigen von der Versicherungspflicht, die wegen ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit kraft Gesetzes Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe und zugleich kraft Gesetzes Mitglied einer berufsständischen Kammer sind. Mit weiteren vorliegend unstrittigen Anforderungen hat der Gesetzgeber eine in den neunziger Jahren beobachtete Tendenz beschränkt, immer neuen Berufsgruppen durch Schaffung oder Ausweitung von Versorgungswerken außerhalb der Rentenversicherung die Befreiung hiervon zu ermöglichen. Ein Rentenversicherungsträger hat sich bei der Prüfung einer kraft Gesetzes eintretenden Versicherungsfreiheit nach § 5 SGB VI und einer auf Antrag einzuräumenden Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 SGB VI zunächst bei mehreren Varianten in hohem Maße an den Entscheidungen eines jeweils anderen Rechtsträgers zu orientieren. So hat der Rentenversicherungsträger keine Prüfungskompetenz über das für § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 maßgebliche Beamtenverhältnis oder über die Rechtmäßigkeit der Gewährleistungsentscheidung nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI. Auch die Aufnahme einer Apothekerin in die Apothekerkammer und das ihr zugeordnete Versorgungswerk hat eine erhebliche Tatbestandswirkung. Der Rentenversicherungsträger darf und muss angesichts solcher Aufnahmeentscheidungen zunächst durchaus annehmen, dass es sich bei der entsprechenden Person um eine Apothekerin im apothekerlichen Beruf handelt. Gleichwohl ist vom Gesetz gedeckt und von der Rechtsprechung anerkannt, dass durch den Rentenversicherungsträger geprüft werden muss, ob die Mitgliedschaft in einer entsprechenden berufsständischen Versorgungseinrichtung auf genau jener Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit beruht, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht begehrt wird. Eine solche Prüfung könnte im Einzelfall auch zu dem abweichenden Ergebnis führen, dass beispielsweise eine journalistische Tätigkeit in einer mit Fragen der gesundheitsbewussten Ernährung befassten Redaktion oder eine administrative Funktion in der Verwaltung eines Krankenhauses oder eine kommerzielle Tätigkeit im Zusammenhang mit Produktion und Bewerbung von Nahrungsergänzungs-mitteln unter lediglich beiläufiger Nutzung pharmakologischer Kenntnisse ggfs. unter werbewirksamer Nutzung eines Doktortitels ohne berufsspezifischen Zusammenhang mit der zur Mitgliedschaft im Versorgungswerk führenden Berufsausübung bleibt.
In diesem Zusammenhang zu verstehen ist das Urteil des Bayerischen Landessozialge-richts vom 08.09.2015 L 19 R 554/11, in dem es um einen Unternehmensberater ging, der Kenntnisse aus seinem studierten Beruf als Arzt naturgemäß in einer eher weitgefassten und unverbindlichen Ableitung „noch“ nutzen konnte. Sicherlich in einem Grenzbereich des Arztberufes sind die Pharmaberater und Pharmavertreter mit dem kommerziellen Gepräge ihres Geschäfts angesiedelt. Die Tätigkeit der Klägerin hat jedoch mit Bewerbung und Verkauf von Produkten nichts zu tun, so dass die dahingehende Argumentation der Beklagten in die Irre führt. Die notwendige Prüfung einer befreiungsfähigen Tätigkeit oder Beschäftigung durch den Rentenversicherungsträger kann nicht so weit ausgedehnt wer-den, dass letzten Endes ihm die Deutungshoheit über die Berufsbilder des Arztes, des Apothekers, des Rechtsanwalts und des Architekten zuerkannt wird. Vorliegend ist mit ausreichender Deutlichkeit und unwidersprochen belegt, dass die Tätigkeit der Klägerin in der Pharmakovigilanz durch eine streng wissenschaftliche Arbeitsweise gekennzeichnet sind und in größter Unmittelbarkeit dem pharmazeutischen Produkt, dem Heilmittel gewidmet ist und ebenfalls unmittelbar den Patienten zugute kommt. Die systematische Erfassung von Nebenwirkungen und Nebenwirkungsrisiken und die nationale und internationale Kommunikation in diesem Problemfeld kann sowohl unter unmittelbar fachlichen als auch unter ethischen Aspekten nur ausgebildeten und geprüften Ärzten und selbstverständlich auch Apothekern und Naturwissenschaftlern anvertraut werden. Die Beklagte legt viel zu großen Wert auf ein überkommenes apothekerliches Berufsbild, das nur den durch Zubereitung und persönliche Abgabe von Medikamenten an den Patienten charakterisierten Apotheker alter Schule kennen will. Wie bei der bis zur gesetz-lichen Neuregelung gerichtlich zu prüfenden Fallgruppe der Befreiung von Rechtsanwälten bei nichtanwaltlichen Arbeitgebern zeigt der Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, dass die Zugrundelegung „klassischer“ Berufsbilder heute nicht mehr zu Ergebnissen ausreichender Schärfe führt. Die Pharmaindustrie ist, gerade weil sie sich wegen schwerer Fehlleistungen (Stichworte Contergan und HIV-infizierte Blutpräparate) im Kreuzfeuer öffentlicher Kritik behaupten muss, nicht einfach nur eine verkaufs- und gewinnorientierte kleine Schwester der Chemieindustrie, sondern ein breites Betätigungsfeld für höchst verantwortlich arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das gleiche gilt für die der Pharmaindustrie zuarbeitenden Dienstleister im Bereich der Pharmakovigilanz und der Medikamentenzulassung. Bei genauerer Betrachtung ist die Arbeitsweise der Klägerin in Wirklichkeit sogar näher am „Produkt Medikament“ angesiedelt als heute der dem Publikum gegenübertretende Apotheker. Die Herstellung und Dosierung von Medikamenten findet bekanntlich heute so gut wie nicht mehr im Hinterzimmer der städtischen oder ländlichen Apotheke statt, sondern in der Fabrik und mithin im Arbeitsfeld der Klägerin. Die Arbeitsweise des klassischen Apothekers hat heute durchaus Anteile an der Arbeitsweise eines schlichten Verkäufers, der fertig konfigurierte und verpackte Produkte über die Theke reicht und genauso wie der Patient auf die Packungsbeilage vertrauen muss. Die angegriffenen Bescheide betonen stark und schematisch, dass als Einstellungsvoraussetzung für die Klägerin nicht unbedingt ein abgeschlossenes pharmakologisches Studium verlangt wurde. Der Arbeitgeber hätte sich auch für eine Biologin oder eine Ärztin entscheiden können. Die Befreiung der Ärztin von der Versicherungspflicht wäre dann mit dem Argument verweigert worden, – B. hätte auch eine Apothekerin einstellen können. In parallelen Verfahren stellt die Beklagte gerne in den Mittelpunkt ihrer Argumentation, dass theoretisch auch eine nicht näher definierte Ausbildung unterhalb des akademischen Niveaus den Zugang zur jeweils streitbefangenen Beschäftigung geöffnet hätte. Vorliegend war ein akademisches Studium verlangt, so dass genau diese Argumentation ins Leere geht. Ärzte wie auch Apotheker sind in entsprechenden Versorgungswerken erfasst und können die Befreiung von der Rentenversicherung beantragen. Es kann nicht angehen, Mediziner mit dem Hinweis auf ihre Ersetzbarkeit durch Pharma-kologen und Pharmakologen mit dem Hinweis auf ihre Ersetzbarkeit durch Mediziner von der Befreiung auszuschließen. Insoweit wendet das Gericht den Rechtsgedanken des Ur-teils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10.07.2014 mit dem Az. L 14 R 1207/13 an. Die Beklagte wird akzeptieren müssen, dass Arbeitgeber ganz bestimmte Stellen mit Ärzten, Apothekern oder Architekten besetzen und sie mit entsprechenden berufsspezifi-schen Tätigkeiten betrauen, woraus dann der Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht resultiert. Die Überlegung, der jeweilige Arbeitgeber hätte sich auch für eine Person anderer Qualifikation entscheiden können, erweist sich als immer weniger tragfähig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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