Medizinrecht

Strenger Verweis wegen Einfahrens in einen für den Verkehr gesperrten Bereich eines Truppenübungsplatzes

Aktenzeichen  2 WD 7/21

Datum:
10.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2022:100322U2WD7.21.0
Spruchkörper:
2. Wehrdienstsenat

Leitsatz

1. Ein Soldat, der einen rechtswidrigen, aber verbindlichen Befehl befolgt, handelt hinsichtlich der mit der Befehlsausführung verbundenen Dienstpflichtverletzungen ohne Schuld.
2. Auf Befehlsnotstand kann sich auch ein Soldat berufen, der einen rechtswidrigen und unverbindlichen gefährlichen Befehl befolgt, ohne dabei eine Straftat zu begehen.
3. § 35 Abs. 2 StGB gilt entsprechend für einen Irrtum über das Vorliegen der Voraussetzungen eines Befehls.

Verfahrensgang

vorgehend Truppendienstgericht Süd, 27. Januar 2021, Az: S 5 VL 36/18, Urteil

Tenor

Auf die Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird das Urteil der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 27. Januar 2021 aufgehoben.
Gegen den Soldaten wird ein strenger Verweis verhängt.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens werden dem Bund auferlegt, der auch die dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen hat.

Tatbestand

1
Das Verfahren betrifft das Führen eines mit Kameraden besetzten Dienstkraftomnibusses in für den Verkehr gesperrte Bereiche eines Truppenübungsplatzes während des laufenden Schießbetriebs.
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1. Der … geborene Soldat ist ausgebildeter Maurer. Er leistete ab 2009 neun Monate Grundwehrdienst und 14 Monate freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst. Nach Tätigkeiten als Maurer und Fließbandarbeiter wurde er 2012 Zeitsoldat. Seit 2015 wird er bei der … in … verwendet, wo er als Kraftfahrer eingesetzt wird. Zuletzt wurde er 2016 zum Oberstabsgefreiten befördert. Seit April 2017 ist er zu 75 % teilzeitbeschäftigt. Er lebt …, in angespannten finanziellen Verhältnissen. Seine Dienstzeit endet planmäßig mit Ablauf Juli 2022. Er strebt eine Verlängerung um ein bis zwei Jahre an.
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2. Auszüge aus dem Zentralregister und dem Disziplinarbuch von Januar 2022 enthalten keine Einträge.
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3. In dem am 11. April 2018 eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren hat die Wehrdisziplinaranwaltschaft den Soldaten am 19. Oktober 2018 beim Truppendienstgericht wie folgt angeschuldigt:
“Der Soldat führte am 04.12.2017 gegen 08.30 Uhr auf dem Truppenübungsplatz … in … als Fahrer den mit 32 Teilnehmern der … besetzten Dienst-KOM, amtliches Kennzeichen …, unter Abweichung von der befohlenen Fahrtstrecke in für den Verkehr gesperrte Gefahrenbereiche, wobei er Einfahrtsverbotsschilder, welche gleichzeitig auf Schießbetrieb und Lebensgefahr hinwiesen, missachtete und selbst Warnbarken öffnete und danach wieder verschloss sowie Schilder verrückte, um die Einfahrt für den Bus zu ermöglichen, obwohl ihm als Kraftfahrer bekannt war, dass Straßen und Wege nicht befahren werden dürfen, die durch Verbotsschilder gesperrt sind. Auf Grund seiner Handlungen geriet er mit dem KOM, was er billigend in Kauf nahm, sich ihm zumindest aber hätte aufdrängen müssen, in den Zielbereich der Schießbahn 6, auf der ein Schießen einer Fremdtruppe bereits begonnen hatte.”
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4. Das Truppendienstgericht hat den Soldaten mit Urteil vom 27. Januar 2021 freigesprochen. Zwar sei die Anschuldigung im Wesentlichen erwiesen; auch habe der Soldat – teils vorsätzlich, teils fahrlässig – seine Pflichten zum treuen Dienen, zur Kameradschaft und zum innerdienstlichen Wohlverhalten verletzt. Er habe aber ohne Schuld gehandelt, weil er unvermeidbar irrtümlich angenommen habe, aufgrund von Befehlen des ihm als sogenannten “Führer des Busses” zur Seite gestellten Oberstabsfeldwebels A zu handeln. Dieser habe die Navigation zum Zielort (Schießbahn 9) per Handy übernommen, als das Navigationsgerät unterwegs Probleme bereitet habe. Der Soldat habe gedacht, dass Oberstabsfeldwebel A ihm vorgesetzt gewesen sei. Dies sei gut nachvollziehbar, da jener im Spitzendienstgrad der Portepeeunteroffiziere gewesen und die Funktion des “Führers des Busses” regelmäßig in der Praxis mit – zumindest angenommener – Weisungsbefugnis verknüpft sei. Der Soldat habe dessen Richtungsvorgaben als Anweisungen mit Anspruch auf Gehorsam aufgefasst. Ein Handeln aufgrund verbindlicher Befehle wäre ein Schuldausschließungsgrund gewesen. Dasselbe Ergebnis gelte hier entsprechend § 17 Satz 1 StGB, weil der Irrtum des Soldaten über das Vorliegen dieses Entschuldigungsgrundes unvermeidbar gewesen sei. Er habe wegen der besonderen Umstände (Busfahrt unter Zeitdruck bei schlechter Witterung, keine realitätsnahe Möglichkeit, Kameraden zu fragen oder Rechtsrat einzuholen, “Dienstgradgefälle” gegenüber Oberstabsfeldwebel A und dessen bestimmtes Auftreten) und der Eigenart seiner Person (Mannschaftsdienstgrad ohne vertiefte Ausbildung im Befehlsrecht, Autoritätsgläubigkeit, keine Durchsetzungsstärke und Vertrauen auf die Entscheidung eines erfahrenen Vorgesetzten) keinen Grund zur Annahme gehabt, dass er den Anweisungen nicht nachkommen müsse oder dürfe.
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5. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hat gegen das Urteil unbeschränkt Berufung eingelegt. Oberstabsfeldwebel A habe den Soldaten nicht angewiesen, in den durch den inneren Schrankenring des Truppenübungsplatzes (Halbschranken und Schilder ca. 50 m nach Querung der Ringstraße) gesperrten Bereich einzufahren. Seine 1,5 km hinter dieser Sperre erfolgte Anweisung, im Baustellenbereich (ehemalige Schießbahn 10) eine weitere Sperre (Schrankenzäune und Schilder) mit wegzurücken und in den dort beginnenden Tagesgefahrenbereich zu fahren, hätte der Soldat nicht befolgen dürfen. Ihm hätte klar sein müssen, dass dieser vermeintliche Befehl wegen der damit verbundenen konkreten Lebensgefahr für die Insassen des Busses unverbindlich sein müsse. Würde man insoweit einen unvermeidbaren Verbotsirrtum annehmen, wäre der Soldat selbst in dem Fall, dass bei der anschließenden Querung der in Nutzung befindlichen Schießbahn 6 alle Kameraden im Bus getötet worden wären, freizusprechen gewesen. Dieses Ergebnis sei untragbar.
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Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält ein 24-monatiges Beförderungsverbot in Verbindung mit einer Kürzung der Dienstbezüge um 1/20 für die Dauer von zehn Monaten für angemessen.
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6. Der Soldat verteidigt seinen Freispruch und begehrt hilfsweise eine Einstellung des Verfahrens unter Feststellung eines Dienstvergehens. Ihm sei kein Schuldvorwurf zu machen. Er habe angenommen, dass die von ihm befolgten Anweisungen des Oberstabsfeldwebels A Befehle seien. Gegen dessen Vorgaben habe er teilweise Bedenken geäußert, sich aber daran gebunden gesehen. Vor der Fahrt habe er sich wiederholt erfolglos bemüht, die genaue Fahrtstrecke zum Zielort in Erfahrung zu bringen.
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7. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person des Soldaten, zur Anschuldigung und zur Begründung des erstinstanzlichen Urteils wird auf dieses verwiesen. Zu den im Berufungsverfahren eingeführten Unterlagen wird auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist nur zu einem geringen Teil begründet. Da sie in vollem Umfang eingelegt worden ist, hat der Senat im Rahmen der Anschuldigung eigene Tat- und Schuldfeststellungen zu treffen und auf deren Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Danach stellt nur ein kleiner Teil der im Wesentlichen erwiesenen Anschuldigung ein Dienstvergehen dar, für das die Verhängung eines strengen Verweises angemessen ist.
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1. Der angeschuldigte Sachverhalt ist im Wesentlichen erwiesen.
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a) In objektiver Hinsicht steht fest, dass der Soldat am 4. Dezember 2017 als Fahrer den in der Anschuldigungsschrift bezeichneten Dienstkraftomnibus, in dem 32 Teilnehmer der … saßen, auf dem Truppenübungsplatz … in … in den Bereich innerhalb des inneren Schrankenrings und etwa 1,5 km weiter in den dort beginnenden Tagesgefahrenbereich sowie durch den Zielbereich der darin befindlichen Schießbahn 6 führte. Denn der Soldat hat die von der Truppenübungsplatzkommandantur unmittelbar nach der Fahrt anhand der Spuren im Schnee rückverfolgte Fahrtroute, die in der in der Berufungshauptverhandlung in Augenschein genommenen Karte eingezeichnet ist, eingeräumt.
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Sowohl der Bereich innerhalb des inneren Schrankenrings als auch der Tagesgefahrenbereich waren für den Verkehr gesperrt. Dies ergibt sich aus den im Rahmen der Ermittlungen gefertigten Fotos:
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Danach befanden sich an der Stelle, an welcher der Soldat mit dem Bus den inneren Schrankenring querte (ca. 50 m nach Querung der Ringstraße), zwei fest installierte, von rechts und links in die Fahrbahn geklappte rot-weiß gestreifte Halbschranken. Auf der rechten Halbschranke waren das Vorschriftszeichen 250 (Verbot für Fahrzeuge aller Art) mit der Aufschrift “Durchfahrt verboten” und ein Schild mit der Aufschrift “Halt! Scharfschießen! Lebensgefahr!” angebracht. Die Halbschranken waren zwar so weit voneinander versetzt, dass ein Umfahren möglich war. Wegen des laufenden Schießbetriebs waren sie aber entgegen ihrer außerhalb des Schießbetriebs üblichen Stellung (parallel zur Fahrbahn am Fahrbahnrand) orthogonal in die Fahrbahn geklappt. Dies hat der Zeuge Oberstleutnant B in der Berufungshauptverhandlung nachvollziehbar erläutert und in dieser, auf den Fotos zu sehenden Stellung wurden die Halbschranken unmittelbar nach der Fahrt vorgefunden.
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Der etwa 1,5 km weiter auf dem befahrenen Weg an einem Baustellenbereich (ehemalige Schießbahn 10) beginnende Tagesgefahrenbereich war ausweislich der Fotos durch zwei mobile, in die Fahrbahn gestellte, rot-weiß gestreifte Schrankenzäune gesperrt. Auf dem rechten Schrankenzaun war ein weiteres Schild mit der Aufschrift “Halt! Scharfschießen! Lebensgefahr!” angebracht. Hinter dem rechten Schrankenzaun stand am Wegesrand ein Vorschriftszeichen 250 mit der Aufschrift “Scharfschießen”. Die Schrankenzäune standen zwar nach den übereinstimmenden Angaben des Soldaten und des Zeugen Oberstleutnant B in der Berufungshauptverhandlung sowie des gesondert verfolgten Oberstabsfeldwebel A in dessen Hauptverhandlung ebenfalls versetzt. Laut Aussage von Oberstabsfeldwebel A in dessen Hauptverhandlung war aber ein Umfahren mit dem Bus nicht möglich, was dadurch bestätigt wird, dass der Soldat nach eigenen Angaben zunächst wendete, um umzukehren.
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Der Soldat führte den Bus – wie angeschuldigt – “gegen 8:30 Uhr” in diese für den Verkehr gesperrten Bereiche. Denn aus den in der Akte dokumentierten Uhrzeiten der während der Fahrt geführten Telefonate und der Schießkontrollliste ergibt sich, dass der Bus um 8:53 Uhr bei … auf der Fahrt zum Truppenübungsplatz, um 9:39 Uhr im Baustellenbereich und um 9:53 Uhr auf der Schießbahn 6 war.
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Fest steht auch, dass der Zielbereich der Schießbahn 6 durchquert wurde, als sich dort gerade eine andere Truppe in den Stellungen beim Drillschießen im scharfen Schuss befand. Laut Schießkontrollliste wurde um 9:51 Uhr der erste Schuss auf der Schießbahn 6 abgegeben, um 9:53 Uhr der Bus auf der Schießbahn 6 gemeldet und um 9:57 Uhr dort festgesetzt.
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Nicht erwiesen ist allerdings, dass der Soldat den Bus in Abweichung von einer ihm befohlenen Fahrstrecke führte. Ihm war keine konkrete Fahrtstrecke befohlen worden. Er hatte keinen schriftlichen Fahrauftrag erhalten. Bei der Belehrung zum Truppenübungsplatzaufenthalt am 1. Dezember 2017, bei der Anweisungen zum Weg erteilt wurden, war er nicht anwesend.
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Der Senat ist des Weiteren davon überzeugt, dass der Soldat im Baustellenbereich gemeinsam mit Oberstabsfeldwebel A die Schrankenzäune zur Seite räumte, um die Durchfahrt des Busses zu ermöglichen. Zwar hat der Soldat in der Berufungshauptverhandlung ausgesagt, nach seinem zunächst eingeleiteten Wendemanöver habe er Oberstabsfeldwebel A auf dessen Wunsch aussteigen lassen; sodann habe der Oberstabsfeldwebel ihn aufgefordert, erneut zu wenden und die Fahrt fortzusetzen, wobei die Schrankenzäune nunmehr anders ausgesehen hätten als zuvor; er selbst habe lediglich einen im Weg liegenden Kunststofffuß zur Seite geräumt, um bei der Durchfahrt den Unterboden des Busses nicht zu beschädigen. Jedoch hat Oberstabsfeldwebel A vorgerichtlich sowie in seiner Hauptverhandlung erläutert, beide hätten je einen Schrankenzaun zur Seite gestellt. Diese Darstellung entspricht derjenigen der weiteren Businsassen Stabsunteroffizier C und Stabsgefreiter D in deren vorgerichtlichen Zeugenvernehmungen, die im Einverständnis mit den Beteiligten im Selbstleseverfahren in die Berufungshauptverhandlung eingeführt wurden. Der Senat hält diese drei übereinstimmenden Aussagen für glaubhafter als die des Soldaten. Denn der Soldat wirkte bei der Schilderung der Ereignisse im Baustellenbereich in der Berufungshauptverhandlung mit seinem ausweichenden Aussageverhalten unglaubwürdig. Auch hat er sich dort teilweise in Widersprüche verstrickt. So hat er bestritten, Schilder im Baustellenbereich wahrgenommen sowie gesehen zu haben, dass Oberstabsfeldwebel A etwas weggeräumt habe. Demgegenüber hatte er erstinstanzlich ausgesagt, im Baustellenbereich das Schild “Durchfahrt verboten” wahrgenommen und gesehen zu haben, dass Oberstabsfeldwebel A etwas zur Seite geräumt habe. Schließlich ist kein Grund ersichtlich, weshalb die weiteren Businsassen insoweit unwahre Angaben gemacht haben sollten.
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Hingegen steht nicht hinreichend sicher fest, dass der Soldat im Baustellenbereich Schilder verrückte und nach der Durchfahrt die Schrankenzäune wieder schloss. Er hat beides bestritten. Der Zeuge Oberstleutnant B hat in der Berufungshauptverhandlung erklärt, das auf dem in Augenschein genommenen Foto abgebildete Vorschriftszeichen 250 am rechten Fahrbahnrand im Baustellenbereich sei nicht bewegt worden. Soweit Oberstabsfeldwebel A vorgerichtlich ausgesagt hat, er habe gemeinsam mit dem Soldaten nach der Durchfahrt die Schrankenzäune wieder positioniert, ist dies – anders als das gemeinsame Wegräumen der Schrankenzäune vor der Durchfahrt des Busses – von den weiteren Zeugen nicht bestätigt worden, so dass der Soldat von diesen Vorwürfen nach dem Grundsatz “in dubio pro reo” freizustellen ist.
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b) In subjektiver Hinsicht steht nach dem Ergebnis der Berufungshauptverhandlung fest, dass der Soldat beide Sperren einschließlich der dortigen Schilder wahrnahm und damit wissentlich und willentlich in die für den Verkehr gesperrten Bereiche des Truppenübungsplatzes einfuhr.
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Dies gilt zunächst für die zum inneren Schrankenring gehörende Sperre ca. 50 m nach Querung der Ringstraße. Zwar hat der Soldat behauptet, weder die rot-weiß gestreiften Halbschranken noch die darauf angebrachten Schilder gesehen zu haben. Der Senat glaubt ihm dies aber nicht. Denn nach den Fotos – insbesondere dem vom Zeugen Oberstleutnant B in der Berufungshauptverhandlung vorgelegten Foto, das die direkte Sicht des Fahrers beim Zufahren auf die in die Fahrbahn geklappten Halbschranken zeigt – erscheint es ausgeschlossen, dass diese übersehen werden können, da sie nur durch deutliche Schlenker umfahren werden konnten. Entgegen der Behauptung des Soldaten herrschte beim Durchfahren dieser Sperre auch keine Morgendämmerung mehr. Denn aus den dokumentierten Uhrzeiten der während der Fahrt geführten Telefonate ist zu schließen, dass der Soldat diese Stelle etwa gegen 9:30 Uhr passierte. Der Sonnenaufgang war an jenem Tag in … aber nach den in die Berufungshauptverhandlung eingeführten Ergebnissen einer Internetrecherche bereits um 7:57 Uhr. Da der vorgerichtlich vernommene Zeuge Stabsgefreiter D, der direkt hinter dem Soldaten saß, ausgesagt hat, er habe die Halbschranken und Schilder gesehen und hätte sie nicht passiert, können sie auch nicht eingeschneit gewesen sein. Denn es ist kein Grund ersichtlich, weshalb er insoweit die Unwahrheit gesagt haben sollte.
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Dass der Soldat die Schrankenzäune im Baustellenbereich und das am rechten Schrankenzaun angebrachte Schild mit der Aufschrift “Halt! Scharfschießen! Lebensgefahr!” gesehen hat, ergibt sich bereits daraus, dass er zunächst direkt darauf zufuhr, sodann wendete und schließlich die Schrankenzäune wissentlich und willentlich gemeinsam mit Oberstabsfeldwebel A zur Seite räumte. Erstinstanzlich hat er zudem eingeräumt, das Schild “Durchfahrt verboten”, also das Vorschriftszeichen 250, hinter dem rechten Schrankenzaun am rechten Fahrbahnrand wahrgenommen zu haben. Seine anderslautende Aussage in der Berufungshauptverhandlung hält der Senat aus den bereits aufgezeigten Gründen für unglaubhaft, zumal er den Widerspruch zu seiner erstinstanzlichen Aussage nicht plausibel hat erklären können.
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Hingegen ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Soldat wusste, den Zielbereich einer Schießbahn zu queren, auf der gerade geschossen wurde. Denn er hatte auf dem ihm unbekannten Truppenübungsplatzgelände ersichtlich keine Orientierung und hat versichert, keine Schüsse gehört oder sonstige Hinweise auf eine Schießtätigkeit gesehen zu haben.
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2. Der Soldat hat mit einem Teil der erwiesenen Anschuldigung nach § 23 Abs. 1 SG ein Dienstvergehen begangen, weil er insoweit schuldhaft seine Dienstpflichten verletzt hat. Im Übrigen hat er mit seinem Verhalten zwar ebenfalls Dienstpflichten verletzt. Jedoch ist ihm diesbezüglich kein Schuldvorwurf zu machen.
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a) Eine schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten liegt in dem wissentlichen und willentlichen Passieren der zum inneren Schrankenring gehörenden Sperre ca. 50 m nach Querung der Ringstraße. Damit hat der Soldat vorsätzlich seine Pflichten zum treuen Dienen (§ 7 SG) und zum innerdienstlichen Wohlverhalten (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG) verletzt.
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aa) Mit der Missachtung der in die Fahrbahn geklappten Halbschranken mit dem Vorschriftszeichen 250 hat der Soldat gegen die dienstlichen Weisungen nach Nr. 501 und 519 der Zentralen Dienstvorschrift A-1050/11 (Betrieb von Dienstfahrzeugen) in der ab dem 7. November 2017 geltenden Version 2 i.V.m. Nr. 328 der Zentralrichtlinie A2-220/0-0-5 (Übungsplätze und Schießanlagen am Standort) in der ab dem 6. August 2015 geltenden Version 1.4 verstoßen. Nach Nr. 501 ZDv A-1050/11 sind Kraftfahrer von Dienstkraftfahrzeugen für die Einhaltung der straßenverkehrsrechtlichen Bestimmungen und der Regelungen der Bundeswehr zum Kraftfahrbetrieb verantwortlich. Nach Nr. 519 ZDv A-1050/11 haben Kraftfahrer der Bundeswehr während der Benutzung die straßenverkehrsrechtlichen Regelungen und die besonderen Bestimmungen der Bundeswehr zum Kraftfahrbetrieb einzuhalten.
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Zwar galt an der betreffenden Stelle nicht die Straßenverkehrsordnung. Denn diese gilt nur im öffentlichen Verkehrsraum (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 2004 – 4 StR 377/03 – juris Rn. 7). Nach Nr. 327 der Zentralrichtlinie A2-220/0-0-5 sind die Straßen eines Übungsplatzes im Allgemeinen nichtöffentliche Straßen. Auch der hier auf dem Truppenübungsplatz befahrene Weg durfte nicht vom öffentlichen Straßenverkehr mitgenutzt werden. Jedoch muss gemäß Nr. 328 der Zentralrichtlinie A2-220/0-0-5 – vorbehaltlich nicht einschlägiger Ausnahmen – auch auf nichtöffentlichen Straßen des Übungsplatzes das Verhalten der Verkehrsteilnehmer grundsätzlich den Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung entsprechen.
29
Das Passieren der beschilderten Halbschranken entsprach nicht der danach entsprechend anwendbaren Straßenverkehrsordnung. Denn bei den in die Fahrbahn geklappten, rot-weiß gestreiften Halbschranken handelte es sich um eine Verkehrseinrichtung in Form einer Absperrschranke im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StVO i.V.m. lfd. Nr. 1 der Anlage 4 zur StVO (Zeichen 600), die nach § 43 Abs. 3 Satz 2 StVO nicht passiert werden durfte. Zudem war das an der rechten Halbschranke angebrachte Vorschriftszeichen 250 (Verbot für Fahrzeuge aller Art) gemäß § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. lfd. Nr. 28 der Anlage 2 zur StVO zu beachten.
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Darüber hinaus handelte es sich bei der Sperre um eine Absperrungsvorkehrung der Truppenübungsplatzkommandantur gemäß Nr. 502 der Zentralrichtlinie A2-2090/0-0-1 (Schießsicherheit) in der seit dem 8. November 2005 geltenden Version 1.2, nämlich um eine geschlossene Schranke an einem Weg, der in einen gefährdeten Bereich führte. Dass diese Schranke trotz der Möglichkeit, sie zu umfahren, für den allgemeinen Verkehr geschlossen war, ergibt sich daraus, dass die Halbschranken entgegen ihrer üblichen Stellung (parallel zur Fahrbahn am Fahrbahnrand) in die Fahrbahn geklappt waren und dadurch das an der rechten Halbschranke angebrachte Vorschriftszeichen 250 mittig in der Fahrbahn zu sehen war. In einer solchen Sperre ist eine – mit der Durchfahrt verletzte – Weisung der Truppenübungsplatzkommandantur zu sehen, nicht in den abgesperrten Bereich einzufahren.
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bb) Der Soldat handelte auch vorsätzlich und vorwerfbar. Seine Schuld ist nicht wegen eines Befehls von Oberstabsfeldwebel A zum Passieren dieser Sperre entfallen.
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(1) Zwar kann bei einem Handeln auf Befehl die Schuld entfallen. Denn ein Soldat muss nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SG seinen Vorgesetzten gehorchen und ihre Befehle gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 SG nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und zügig ausführen. Dies gilt, sofern ein Befehl nicht ausnahmsweise unverbindlich ist, auch für rechtswidrige Befehle, selbst wenn damit Ordnungswidrigkeiten begangen oder – wie hier – Dienstpflichten verletzt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. September 2018 – 2 WD 14.17 – Buchholz 449 § 11 SG Nr. 3 Rn. 41; Lucks, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, SG, 10. Aufl. 2018, § 11 Rn. 12 m.w.N.).
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In diesem Fall trägt nach § 10 Abs. 5 Satz 1 SG der Vorgesetzte für seine Befehle die Verantwortung. Dieser der hierarchischen Ordnung der Streitkräfte entsprechende Grundsatz (vgl. BT-Drs. 2/1700 S. 4 zu § 8 SG-E) verlagert die Verantwortung für das Handeln des Untergebenen auf den befehlenden Vorgesetzten. Während bei einem einvernehmlichen Handeln vom Vorgesetzten und Untergebenen letzteren eine Mitverantwortung trifft, trägt der Vorgesetzte bei einem Befehl im Grundsatz die Alleinverantwortung für dessen Ausführung.
34
Ob das Handeln aufgrund eines zwar rechtswidrigen, aber verbindlichen Befehls gerechtfertigt oder nur entschuldigt ist, ist umstritten (siehe dazu Lingens/Korte, WStG, 5. Aufl. 2012, § 2 Rn. 33 m.w.N.; Dau, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand September 2021, § 2 WStG Rn. 5). Die letztgenannte Auffassung ist überzeugender. Denn eine rechtswidrige Ausführungshandlung kann durch einen rechtswidrigen Befehl nicht zur rechtmäßigen Handlung werden. Auch könnte andernfalls ein von der rechtswidrigen Ausführungshandlung betroffener Dritter Notwehr ausüben, wenn der Vorgesetzte diese Handlung selbst beginge, wäre hingegen schutzlos, wenn der Untergebene sie ausführt. Aus diesem Grund führt auch ein unverbindlicher Befehl, mit dessen Befolgen eine Straftat begangen wird, gemäß § 5 WStG unter den dort genannten Voraussetzungen nur zu einem Schuldausschluss oder zu einer Schuldmilderung des Untergebenen.
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(2) Vorliegend ist jedoch die Schuld des Soldaten für sein nicht strafbares Verhalten nicht aufgrund eines Befehls ausgeschlossen. Denn Oberstabsfeldwebel A hat ihm keinen Befehl erteilt, die betreffende Sperre zu passieren.
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Ein “Befehl” im Sinne des § 11 Abs. 1 SG i.V.m. § 2 Nr. 2 WStG setzt voraus, dass einem militärischen Untergebenen durch einen militärischen Vorgesetzten schriftlich, mündlich oder in anderer Weise eine Anweisung zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen mit Gehorsamsanspruch erteilt wird. Zwar muss dabei der Ausdruck “Befehl” nicht verwendet werden. Der Anspruch auf Gehorsam muss aber aus Sicht eines objektiven Betrachters (vgl. BVerwG, Urteile vom 22. August 2007 – 2 WD 27.06 – BVerwGE 129, 181 Rn. 45 und vom 17. Januar 2013 – 2 WD 25.11 – juris Rn. 45) nach dem Kontext und dem objektiven Erklärungsgehalt der Äußerung eindeutig erkennbar sein. Dem Adressaten muss vermittelt und deutlich werden, dass der militärische Vorgesetzte nicht nur eine bloße Erwartung kundtut, sondern mit seinem Verlangen die Gehorsamspflicht einfordert, die notfalls mit einer Drohung mit disziplinar- und/oder strafrechtlichen Konsequenzen oder anderen Maßnahmen durchgesetzt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2006 – 2 WD 7.05 – Buchholz 450.2 § 107 WDO 2002 Nr. 2 LS 2 und Rn. 30).
37
Diese Voraussetzungen lagen hier nicht vor; Oberstabsfeldwebel A hat dem Soldaten keine eindeutige Anweisung mit Gehorsamsanspruch erteilt, die betreffende Sperre zu passieren. Denn nach ihren insoweit übereinstimmenden Aussagen ist über diese Sperre nicht gesprochen worden, weil keiner von ihnen sie wahrgenommen haben will. Der Senat glaubt zwar – wie ausgeführt – nicht, dass der Soldat sie nicht gesehen hat. Es gibt aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass die betreffenden Halbschranken oder Schilder von einem von ihnen auch nur erwähnt wurden. Darauf lassen auch die vorgerichtlichen Aussagen der weiteren Insassen Stabsgefreiter D und Stabsunteroffizier C nicht schließen.
38
Ob es vor dem Passieren der Sperre eine allgemein gehaltene Navigationsanweisung von Oberstabsfeldwebel A (“weiter geradeaus”) gab, kann dahinstehen. Diese wäre ihrem objektiven Erklärungsgehalt nach schon keine eindeutige Anweisung gewesen, im Zuge eines solchen Geradeausfahrens eine Sperre mit einem Verbot für Fahrzeuge aller Art zu passieren. Zudem wäre eine solche allgemeine Navigationsanweisung aus Sicht eines objektiven Betrachters nicht mit einem Gehorsamsanspruch erteilt worden. Denn der Senat ist aufgrund der Aussage des vorgerichtlich vernommenen, keine eigenen Interessen verfolgenden Zeugen Stabsunteroffizier C davon überzeugt, dass der Soldat und Oberstabsfeldwebel A zu diesem Zeitpunkt noch einvernehmlich versuchten, sich hinsichtlich der Fahrtroute abzustimmen, so dass allgemeine Navigationsbestimmungen objektiv nur als Ratschlag oder Hinweis zu verstehen waren.
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(3) Der Soldat hat auch nicht wegen irriger Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen eines Befehls entsprechend § 35 Abs. 2 StGB ohne Schuld gehandelt.
40
§ 35 Abs. 2 StGB regelt den Irrtum des Täters über Umstände, die ihn nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigen würden. Die Vorschrift findet entsprechende Anwendung bei einem Irrtum über Umstände, die einen anderen gesetzlichen oder anerkannten ungeschriebenen Entschuldigungsgrund begründen (vgl. Schaefer, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltskommentar StGB, 3. Aufl. 2020, E 16 Rn. 21 m.w.N.; Zieschang, in: Leipziger Kommentar, StGB, 13. Aufl. 2019, § 35 Rn. 117 m.w.N.; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor § 32 ff. Rn. 126a). Dies gilt auch für einen Irrtum über das Vorliegen der Voraussetzungen eines Befehls (vgl. Lingens/Korte, WStG, 5. Aufl. 2012, § 5 Rn. 3; Dau, in: Münchner Kommentar, StGB, 3. Aufl. 2018, § 5 WStG Rn. 6; a. A. Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 16 Rn. 25 – Bestrafung wegen Fahrlässigkeitsschuld bei vermeidbarem Irrtum wie beim Irrtum über Rechtfertigungsmerkmale). Denn beim Handeln aufgrund eines Befehls kann – wie ausgeführt – die Schuld entfallen. Auch ist der psychische Druck eines vermeintlichen Befehls für den Täter derselbe wie der eines tatsächlichen Befehls (vgl. Lingens/Korte, WStG, 5. Aufl. 2012, § 5 Rn. 3).
41
Der Soldat unterlag aber jedenfalls keinem Irrtum über das Vorliegen einer Anweisung mit Befehlscharakter hinsichtlich des Passierens der Schranke. Denn er hat sich nach eigenen Angaben keinerlei Gedanken um das Passieren dieser Sperre gemacht, über die nach den insoweit übereinstimmenden Aussagen von ihm und Oberstabsfeldwebel A nicht gesprochen wurde.
42
Ein etwaiger Irrtum über den Befehlscharakter einer ohne spezifischen Bezug auf die Sperre zuvor ausgesprochenen allgemeinen Navigationsanweisung (“weiter geradeaus”) würde ihn ebenfalls nicht von der Schuld befreien. Erkennt nämlich ein Soldat, dass sich der Befehlende in einem Irrtum über tatsächliche Umstände befindet und bei Kenntnis der wahren Sachlage den Befehl vielleicht gar nicht erteilt haben würde, ist er jedenfalls dann, wenn es ohne Weiteres möglich ist, verpflichtet, den Vorgesetzten durch eine Gegenvorstellung auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen, vor allem, wenn sonst Gefahren entstehen könnten. Das folgt schon daraus, dass jeder Befehl nach § 11 Abs. 1 Satz 2 SG nach besten Kräften gewissenhaft auszuführen ist. Dasselbe gilt, wenn für einen Soldaten nach den ihm bekannten Umständen ein solcher Irrtum des Vorgesetzten offensichtlich ist. Führt er den Befehl dennoch aus, haftet er strafrechtlich für die Folgen (vgl. BGH, Urteil vom 31. Januar 1964 – 4 StR 514/63 – juris Rn. 25). Entsprechendes gilt disziplinarisch. Hier war für den Soldaten offensichtlich, dass der neben ihm sitzende Oberstabsfeldwebel A, der nach seinen Angaben an der betreffenden Stelle nur auf sein Handy geschaut hatte, die Sperre nicht registriert hatte. Ebenso war offensichtlich, dass er in Kenntnis der Sperre an einer etwaigen vorherigen allgemeinen Navigationsanweisung vielleicht nicht festgehalten hätte. Dementsprechend oblag es dem Soldaten, Oberstabsfeldwebel A auf die – von ihm selbst als Fahrer wahrgenommene – Sperre aufmerksam zu machen. Da er dies nicht tat, würde ihn ein etwaiger Irrtum über die Verbindlichkeit einer allgemeinen Navigationsanweisung nicht von seiner Schuld befreien.
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b) Demgegenüber hat der Soldat mit dem (gemeinsamen) Wegräumen der Schrankenzäune im Baustellenbereich, dem Führen des Busses durch den dort beginnenden Tagesgefahrenbereich und dem Queren der darin gelegenen Schießbahn 6, auf der geschossen wurde, kein Dienstvergehen begangen.
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aa) Zwar hat er auch insoweit – teils vorsätzlich und teils bewusst fahrlässig – seine Dienstpflichten verletzt.
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(1) Mit dem Wegräumen der Schrankenzäune im Baustellenbereich und dem Passieren dieser frei gemachten Sperre einschließlich des Vorschriftszeichens 250 hat er vorsätzlich seine Pflicht zum treuen Dienen verletzt. Darin liegt ein erneuter Verstoß gegen die dienstlichen Weisungen nach Nr. 501 und 519 ZDv A-1050/11 i.V.m. Nr. 328 der Zentralrichtlinie A2-220/0-0-5, weil der Soldat auch insoweit gegen entsprechend anwendbare Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung verstoßen hat. Bei den rot-weiß gestreiften Schrankenzäunen handelte es sich nach § 43 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StVO i.V.m. lfd. Nr. 1 der Anlage 4 zur StVO um eine Verkehrseinrichtung (Zeichen 600), die nach § 43 Abs. 3 Satz 2 StVO nicht passiert werden durfte. Das Vorschriftszeichen 250 war gemäß § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. lfd. Nr. 28 der Anlage 2 zur StVO zu beachten. Darüber hinaus hat der Soldat insoweit ebenfalls eine Absperrungsvorkehrung der Truppenübungsplatzkommandantur im Sinne der Nr. 502 der Zentralrichtlinie A2 2090/0-0-1 missachtet. Denn auch bei dieser beschilderten Sperre handelte es sich um eine für den vom Soldaten geführten Bus geschlossene Schranke an einem Weg, der in einen gefährdeten Bereich führte. Mit dem anschließenden Führen des Busses durch den Tagesgefahrenbereich hat der Soldat zudem gegen die dienstliche Weisung nach Nr. 402 der Zentralrichtlinie A2-2090/0-0-1 verstoßen, wonach sich Personen in einem Gefahrenbereich nicht oder nur unter Einhaltung der festgelegten Bestimmungen aufhalten dürfen. Damit einher geht ein vorsätzlicher Verstoß gegen die innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht.
46
(2) Mit dem Queren der Schießbahn 6, auf der gerade geschossen wurde, hat der Soldat zusätzlich seine Kameradschaftspflicht (§ 12 Satz 2 SG) verletzt, weil er seine Kameraden damit einer konkreten Lebensgefahr ausgesetzt und dadurch ihre Rechte nicht gewahrt hat. Zu diesen Rechten gehören das Leben und die körperliche Unversehrtheit. § 12 Satz 2 SG ist bereits verletzt, wenn die geschützten Rechte eines Kameraden gefährdet sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 2002 – 2 WD 43.01 – Buchholz 236.1 § 12 SG Nr. 18 Seite 42). Insoweit hat der Soldat bewusst fahrlässig gehandelt. Wegen der von ihm wahrgenommenen Beschilderung muss zwar davon ausgegangen werden, dass er den Eintritt einer konkreten Gefahr für Leib und Leben der Businsassen für möglich gehalten hat. Allerdings war er damit nicht einverstanden, sondern hat ernsthaft – nicht nur vage – darauf vertraut, eine solche Gefahr werde sich nicht realisieren.
47
bb) Der Soldat kann sich auch nicht auf den Entschuldigungsgrund des Handelns auf Befehl berufen.
48
(1) Zwar ist Oberstabsfeldwebel A gegenüber dem Soldaten wie ein Vorgesetzter aufgetreten und hat ihm im Baustellenbereich bei objektiver Betrachtung zumindest konkludent im Sinne des § 2 Nr. 2 WStG mit Anspruch auf Gehorsam verbundene Anweisungen zum gemeinsamen Wegräumen der Schrankenzäune und zum Weiterfahren erteilt. Denn der Soldat wollte bei Erreichen des Baustellenbereichs umkehren und hatte zu diesem Zweck den Bus bereits gewendet. Daraufhin bestimmte Oberstabsfeldwebel A ungeachtet der vom Soldaten geäußerten Bedenken, dass in den Bereich dahinter eingefahren werden und dafür die Schranken weggeräumt werden sollten. Dies ergibt sich aus den insoweit glaubhaften Aussagen des Soldaten und des vorgerichtlich vernommenen Zeugen Stabsgefreiter D, welcher bestätigt hat, dass Oberstabsfeldwebel A im Baustellenbereich “entschieden” habe, dass es weitergehe.
49
(2) Der Entschuldigungsgrund des Handelns auf Befehl entfällt auch nicht deswegen, weil ein sogenannter gefährlicher Befehl vorgelegen hat, den der Soldat nicht befolgen musste.
50
Ob und unter welchen Voraussetzungen ein sogenannter gefährlicher Befehl, dessen Befolgung die Gefahr eines Fahrlässigkeitsdelikts in sich birgt, unverbindlich ist, ist umstritten (vgl. Dau, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand September 2021, § 2 WStG Rn. 32 m.w.N.; Rönnau/Hohn, in: Leipziger Kommentar, StGB, 13. Aufl. 2019, § 32 Rn. 136 m.w.N.; Sohm, in: Eichen/Metzger/Sohm, SG, 4. Aufl. 2021, § 11 Rn. 51 m.w.N.; Lingens/Korte, WStG, 5. Aufl. 2012, § 2 Rn. 41 m.w.N.; offengelassen in BGH, Urteil vom 31. Januar 1964 – 4 StR 514/63 – juris Rn. 20). Ein solcher Befehl ist jedenfalls unverbindlich, wenn er eine so große Gefahr für Leib und Leben von Untergebenen herbeiführt, dass diese Gefahr in keinem Verhältnis zu dem dienstlichen Zweck des Befehls steht (vgl. BDH, Beschluss vom 8. März 1958 – 2 WB 2.58 – BDHE 4, 181 LS; BVerwG, Urteil vom 28. September 2018 – 2 WD 14.17 – Buchholz 449 § 11 Nr. 3 SG Rn. 48).
51
Nach diesen Maßstäben stand die mit dem Einfahren in den Gefahrenbereich des Schießplatzes in Kauf genommene Lebensgefahr für alle Insassen des Busses in keinem Verhältnis zum dienstlichen Ziel, den Schießstand schneller zu erreichen. Daher ist von einer Unverbindlichkeit der entsprechenden Anweisung auszugehen.
52
Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Soldat, der einen rechtswidrigen und unverbindlich gefährlichen Befehl befolgt, dafür stets disziplinarrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann (so Hucul, in: Eichen/Metzger/Sohm, SG, 4. Aufl. 2021, § 10 Rn. 96). Dies wird von der überwiegenden Meinung mit Recht abgelehnt, solange sich bei der Befolgung des gefährlichen Befehls die Gefahr einer fahrlässigen Körperverletzung oder einer sonstigen Fahrlässigkeitsstraftat nicht realisiert (vgl. BGH, Urteil vom 31. Januar 1964 – 4 StR 514/63 – juris Rn. 21; Lingens/Korte, WStG, 5. Aufl. 2012, § 5 Rn. 7; Sohm, in: Eichen/Metzger/Sohm, SG, 4. Aufl. 2021, § 11 Rn. 24; Dau, in: Münchner Kommentar, StGB, 3. Aufl. 2018, § 2 WStG Rn. 42).
53
Denn das Soldatengesetz unterscheidet zwischen unverbindlichen Befehlen, die nicht befolgt werden müssen , und solchen, die nicht befolgt werden dürfen (vgl. Dau, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand September 2021, § 2 WStG Rn. 39). Während in § 11 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1 SG verschiedene Fälle der Unverbindlichkeit von Befehlen aufgeführt sind, wird in § 11 Abs. 2 Satz 1 SG nur ein einziger Fall bezeichnet, in dem ein unverbindlicher Befehl nicht nur nicht befolgt werden muss, sondern nicht befolgt werden darf, nämlich dann, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. Dabei trifft den Soldaten nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SG nur dann eine Schuld, wenn er erkennt oder es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird. Danach soll er eine Verantwortung für die Ausführung selbst eines strafrechtswidrigen Befehls nur tragen, wenn es von seinem Standpunkt unter Ausschluss jeden Zweifels für jeden vernünftigen Menschen offensichtlich gewesen wäre, dass die Ausführung des Befehls strafbar ist (vgl. BT-Drs. 2/1700 S. 20). Dem entsprechen die straf- und völkerrechtlichen Vorschriften des § 5 Abs. 1 WStG und § 3 VStGB.
54
Aus diesen Regelungen folgt im Umkehrschluss, dass ein Untergebener, der mit dem Befolgen eines unverbindlichen Befehls rechtswidrig, aber nicht strafrechtswidrig handelt, nach dem Willen des Gesetzgebers keine Mitverantwortung tragen soll, sondern die Verantwortung allein beim befehlenden Vorgesetzten verbleibt. Diese Auslegung wird durch die Gesetzesbegründung zu § 11 SG gestützt. Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber im Blick hatte, dass das deutsche Recht neben strafrechtswidrigen Befehlen weitere Fälle kennt, in denen die Rechtswidrigkeit von Befehlen ihre Unverbindlichkeit zur Folge hat (vgl. BT-Drs. 2/1700 S. 21). Dennoch hat er eine – noch dazu eingeschränkte – Mitverantwortung des Untergebenen ausschließlich für den Fall der Ausführung eines vom Untergebenen als strafrechtswidrig erkannten oder offensichtlich strafrechtswidrigen Befehls vorgesehen. Diese beschränkte Mitverantwortung entspricht auch dem Sinn und Zweck des Befehls als militärischem Führungsmittel, der ein schnelles Handeln zur Durchsetzung militärischer Notwendigkeiten ermöglichen soll. Daher soll es für einen Soldaten im Grundsatz kein Wagnis bedeuten, einem Befehl zu gehorchen, selbst wenn dieser ausnahmsweise einmal unverbindlich sein sollte (vgl. BT-Drs. 2/1700 S. 20).
55
(3) Die Berufung auf den Entschuldigungsgrund des Befehlsnotstands greift jedoch nicht ein, weil Oberstabsfeldwebel A bei genauer rechtlicher Prüfung nicht militärischer Vorgesetzter des Soldaten und nicht gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 SG befugt war, dem Soldaten Befehle zu erteilen.
56
Zwar wird es teilweise als ausreichend angesehen, dass der Befehlende dem Grunde nach eine Befehlsbefugnis nach der Vorgesetztenverordnung hat; ob er im konkreten Fall befugt gewesen sei, einen Befehl zu erteilen, sei erst bei der Frage der Verbindlichkeit des Befehls zu prüfen (vgl. Dau, in: Münchner Kommentar, StGB, 3. Aufl. 2018, § 2 WStG Rn. 12 m.w.N.). Überwiegend wird jedoch davon ausgegangen, § 1 Abs. 3 Satz 1 SG setze ein konkretes Vorgesetztenverhältnis nach der Vorgesetztenverordnung voraus (vgl. Hucul, in: Eichen/Metzger/Sohm, SG, 4. Aufl. 2021, § 1 Rn. 76; Lingens/Korte, WStG, 5. Aufl. 2012, § 2 Rn. 14). Dem schließt sich der Senat an. Denn nur dies wird dem auf das tatsächliche Bestehen der Befehlsbefugnis abstellenden Zweck der Norm gerecht.
57
Eine Befehlsbefugnis des Oberstabsfeldwebels A gegenüber dem Soldaten ergab sich nicht aus § 1 Abs. 1 VorgV, weil Ersterer zum … kommandierter Angehöriger der … nicht unmittelbarer Vorgesetzter des Soldaten war, welcher der … angehörte. Sie folgte auch nicht aus § 3 Satz 2 VorgV, weil dem Oberstabsfeldwebel A nicht “nach seiner Dienststellung” ein besonderer Aufgabenbereich im Sinne des § 3 Satz 1 VorgV zugewiesen war. Soweit er die besondere Aufgabe hatte, als Sicherungssoldat an Bord des Busses die Ausbildung zu sichern, ergab sich daraus kein Vorgesetztenverhältnis in Bezug auf die Navigation. Denn § 3 Satz 1 VorgV enthält eine inhaltliche Beschränkung der Befehlsbefugnis auf die Aufgabenerfüllung (vgl. Hucul, in: Eichen/Metzger/Sohm, SG, 4. Aufl. 2021, Anhang zu § 1 Rn. 27.)
58
Oberstabsfeldwebel A war gegenüber dem Soldaten auch nicht nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 VorgV befehlsbefugt, weil beide nicht derselben Kompanie bzw. Einheit angehörten. Eine Befehlsbefugnis ergab sich ferner nicht aus § 4 Abs. 3 VorgV, wonach innerhalb umschlossener militärischer Anlagen Soldaten einer höheren Dienstgradgruppe den Soldaten einer niedrigeren Dienstgradgruppe Befehle erteilen können. Der Bus ist – wie ein Schiff – mangels Bodenständigkeit keine Anlage. Der Truppenübungsplatz … ist keine umschlossene militärische Anlage. Denn dies setzt voraus, dass ihre (Außen-)Abgrenzung hinreichend gekennzeichnet ist und Schutzvorkehrungen gegen unbefugtes Eindringen getroffen sind, deren Überwindung Kraft oder Geschicklichkeit erfordert. In der Regel wird hierfür ein Zaun, nicht nur eine Beschilderung verlangt (vgl. Hucul, in: Eichen/Metzger/Sohm, SG, 4. Aufl. 2021, Anhang zu § 1 Rn. 38). Durch derartige Schutzvorkehrungen war der Truppenübungsplatz … nicht gesichert.
59
Eine Befehlsbefugnis folgte auch nicht aus § 5 Abs. 2 VorgV, weil der Soldat nicht von seinem Kompaniechef für eine bestimmte Aufgabe dem Oberstabsfeldwebel A unterstellt worden war. Hauptfeldwebel E, der dem Soldaten vor der Abfahrt des Busses vermittelt hatte, dass Oberstabsfeldwebel A als sogenannter “Führer des Busses” mitfahren würde, war nicht Vorgesetzter des Soldaten und konnte ihn daher nicht Oberstabsfeldwebel A unterstellen. Schließlich bestand auch keine Befehlsbefugnis nach § 6 Abs. 3 VorgV, weil sich Oberstabsfeldwebel A mit der Übernahme der Navigation nicht zum Notvorgesetzten des Soldaten im Sinne des § 6 Abs. 1 VorgV erklärt hatte. Denn die Inanspruchnahme einer solchen Befehlsbefugnis muss unzweideutig zum Ausdruck kommen (vgl. Hucul, in: Eichen/Metzger/Sohm, SG, 4. Aufl. 2021, Anhang zu § 1 Rn. 53).
60
(cc) Der Soldat hat aber entsprechend § 35 Abs. 2 StGB ohne Schuld gehandelt, weil er irrig die für das Vorliegen von Befehlen allein fehlende Voraussetzung der Befehlsbefugnis von Oberstabsfeldwebel A ihm gegenüber angenommen hat und dieser Irrtum unvermeidbar war.
61
(a) Er ist nach seinen insoweit glaubhaften Aussagen davon ausgegangen, dass der dienstgradhöhere Oberstabsfeldwebel A, der ihm vor der Fahrt von Hauptfeldwebel E als sogenannter “Führer des Busses” zur Seite gestellt worden war, ihm gegenüber befehlsbefugt war.
62
(b) Dieser Irrtum war nach Ansicht des Senats in der konkreten Situation unvermeidbar. Für die Frage der Vermeidbarkeit eines solchen Irrtums im Sinne des § 35 Abs. 2 StGB kommt es darauf an, ob der Betroffene das Vorliegen des Entschuldigungsgrundes gewissenhaft geprüft hat. Dabei sind die Anforderungen an diese Prüfungspflicht nach den konkreten Tatumständen zu bestimmen. Von Bedeutung sind vor allem die Schwere der Tat und die Umstände, unter denen die Prüfung stattgefunden hat, insbesondere die Zeitspanne, die für sie zur Verfügung stand und ob dem Betroffenen eine ruhige Überlegung möglich war; gegebenenfalls kommt es auch darauf an, wodurch ihm die Einsicht in die tatsächliche Sachlage verschlossen war (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 2003 – 1 StR 483/02 – BGHSt 48, 255 ).
63
Vorliegend bestand für den Soldaten in der konkreten Situation keine Veranlassung, die Befehlsbefugnis des Oberstabsfeldwebels A ihm gegenüber in Frage zu stellen. Er hatte nach eigenen Angaben bei vorherigen Fahrten stets einen “Führer des Busses” dabei. Nach den vorgerichtlichen Angaben des Zeugen Hauptfeldwebel E führte dieser unmittelbar vor der Abfahrt ein Gespräch mit dem Soldaten, welches darauf abzielte, dass Oberstabsfeldwebel A bei der betreffenden Fahrt als “Führer des Busses” agieren würde. Dabei war es für Hauptfeldwebel E “selbstverständlich”, dass Oberstabsfeldwebel A in dieser Funktion “an Bord das Sagen hat”. Damit in Einklang hat der Zeuge Oberstleutnant B in der Berufungshauptverhandlung ausgeführt, dass es sich beim Begriff “Führer des Busses” um einen feststehenden militärischen Begriff handele und allein der “Führer des Busses”, nicht der Fahrer, für die Streckenführung verantwortlich sei. Jedenfalls angesichts dieses Praxisverständnisses bestand für den Soldaten während der Busfahrt kein Anlass, vor einem Befolgen der Anweisungen von Oberstabsfeldwebel A zunächst bei den übrigen Insassen oder telefonisch Rechtsrat einzuholen, um zu klären, ob dieser tatsächlich nach der Vorgesetztenverordnung befugt war, ihm Befehle zu erteilen.
64
3. Bei Art und Maß der für das Dienstvergehen – dem wissentlichen und willentlichen Passieren der Sperre ca. 50 m nach Querung der Ringstraße – zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i.V.m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des Soldaten zu berücksichtigen. Insoweit legt der Senat ein zweistufiges Prüfungsschema zugrunde.
65
a) Auf der ersten Stufe bestimmt er zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle und im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die betreffende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen.
66
Eine gefestigte Rechtsprechung zum Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen für den hier allein das Dienstvergehen ausmachenden Fall, dass ein Soldat vorsätzlich ein mit Kameraden besetztes Dienstfahrzeug in einen für den Verkehr gesperrten Bereich eines Truppenübungsplatzes führt, ohne dass er seine Kameraden dadurch einer konkreten Gefahr aussetzt, besteht nicht. Der Senat hält insoweit im Ausgangspunkt eine Kürzung der Dienstbezüge gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 59 WDO für angemessen. Dies entspricht dem Gebot kohärenter Rechtsprechung:
67
Eine Herabsetzung des Dienstgrades ist im Bereich von Straßenverkehrsdelikten Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen, wenn ein Soldat auf einer Dienstfahrt fahrlässig einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Mensch zu Tode kommt (BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 2018 – 2 WD 12.18 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 61 Rn. 34 ff.). Entsprechendes gilt bei außerdienstlichen Fahrten, wenn ein Soldat durch eine vorsätzliche (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. August 2017 – 2 WD 2.17 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 54 Rn. 52 ff., vom 11. Dezember 2018 – 2 WD 12.18 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 61 Rn. 33 und vom 17. Juni 2021 – 2 WD 21.20 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 94 Rn. 22) oder grob fahrlässige (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Januar 2020 – 2 WD 1.19 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 71 und vom 17. Juni 2021 – 2 WD 21.20 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 94 Rn. 22; Beschluss vom 26. Oktober 2021 – 2 WDB 8.21 – Rn. 39) Straßenverkehrsgefährdung fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht. Verursacht ein Soldat bei einer außerdienstlichen Fahrt fahrlässig den Tod eines anderen Verkehrsteilnehmers, ist Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen ein Beförderungsverbot (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2021 – 2 WD 21.20 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 94 LS).
68
Das vorliegende Dienstvergehen ist nach Art und Schwere im Vergleich zu diesen Fallkonstellationen deutlich milder zu bewerten. Zwar hat der Soldat auf einer Dienstfahrt vorsätzlich entsprechend anwendbare Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung verletzt. Jedoch hat er dadurch Leib und Leben seiner Kameraden weder verletzt noch konkret gefährdet. Denn durch das Umfahren der Halbschranken war der Tagesgefahrenbereich noch nicht erreicht. Allerdings ist wegen des Dienstbezugs nicht nur eine einfache, sondern eine gerichtliche Disziplinarmaßnahme angezeigt, zumal es sich bei der betreffenden Sperre um eine auch der äußeren Schießsicherheit dienende Absperrungsvorkehrung der Truppenübungsplatzkommandantur handelte.
69
b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die eine Milderung oder Verschärfung gegenüber der auf der ersten Stufe angesetzten Regelmaßnahme gebieten. Dabei ist zu klären, ob es sich angesichts der be- und entlastenden Umstände um einen schweren, mittleren oder leichten Fall der schuldhaften Pflichtverletzung handelt. Liegt kein mittlerer, sondern ein höherer bzw. niedrigerer Schweregrad vor, ist gegenüber dem Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die zu verhängende Disziplinarmaßnahme nach “oben” bzw. nach “unten” zu modifizieren. Nach Maßgabe dessen ist hier nur ein strenger Verweis angezeigt.
70
aa) Zwar ist zu Lasten des Soldaten zu berücksichtigen, dass die Tat in Anwesenheit von mehr als 30 Kameraden geschah, für die der Soldat als Fahrzeugführer verantwortlich war.
71
bb) Dem stehen aber mehrere gewichtige Milderungsgründe gegenüber:
72
(1) Zum einen wurde der Soldat trotz zahlreicher Bemühungen um nähere Informationen zum Streckenverlauf vor der Fahrt nicht ausreichend hinsichtlich der Fahrtstrecke zum Zielort eingewiesen.
73
(2) Des Weiteren trifft den gesondert verfolgten Oberstabsfeldwebel A als “Führer des Busses” ein den Soldaten teilweise entlastendes Mitverschulden an dem Queren der betreffenden Sperre.
74
(3) Ferner ist erheblich mildernd zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Dienstvergehen um eine einmalige persönlichkeitsfremde Augenblickstat eines ansonsten tadelfreien und im Dienst bewährten Soldaten handelt, weil der Soldat das Dienstvergehen nach dem Versagen seines Navigationsgeräts in einem ihm unbekannten Gebiet auf schneebedeckter Straße unter Zeitdruck in einem Zustand beging, in dem er die rechtlichen und tatsächlichen Folgen seines Verhaltens nicht bedachte, wobei er spontan, kopflos und unüberlegt handelte (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Januar 2021 – 2 WD 7.20 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 89 Rn. 41 m.w.N.). Sein Verhalten entsprach nach den Beschreibungen seiner Person durch den Leumundszeugen Major F nicht seinem eigentlichen Wesen. Dieser hat ihm eine einwandfreie soldatische Einstellung bescheinigt und ihn als sehr loyal und zuverlässig beschrieben. Auch der frühere Kompaniechef des Soldaten, Major G, hat in seiner Stellungnahme vom 21. März 2019 ausgeführt, dass die Verfehlung nicht mit seinem Bild vom Soldaten in Einklang zu bringen sei; der Zugführer und der Kompaniefeldwebel hätten ebenfalls wiederholt bestätigt, dass das Fehlverhalten für den Soldaten völlig untypisch sei.
75
(4) Des Weiteren hat der Soldat gute dienstliche Leistungen erbracht. Dies kommt in der Stellungnahme von Major G vom 21. März 2019, den Aussagen des Leumundszeugen Major F in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung und in der Berufungsverhandlung, der Sonderbeurteilung vom 8. April 2021, der 2017 verliehenen Leistungsprämie und der Berechtigung, die Schützenschnur Stufe III (Gold) zu tragen, zum Ausdruck. Zudem hat sich der Soldat in einem ca. fünfmonatigen Auslandseinsatz bewährt.
76
Eine erheblich mildernd wirkende Nachbewährung liegt allerdings nicht vor. Sie setzt in fachlicher Hinsicht eine deutliche Leistungssteigerung oder die Beibehaltung eines hohen Leistungsniveaus voraus (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Februar 2019 – 2 WD 18.18 – Buchholz 450.2 § 63 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 31 m.w.N. und vom 14. Januar 2021 – 2 WD 7.20 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 89 Rn. 37). Die dienstlichen Leistungen des Soldaten haben sich nach Aussage des Leumundszeugen Major F nach dem Dienstvergehen gleichbleibend auf einem zwar überdurchschnittlichen, aber nicht hohem Leistungsniveau bewegt.
77
cc) Weitere mildernde Umstände liegen nicht vor. Insbesondere fällt nicht mildernd ins Gewicht, dass der Soldat das Dienstvergehen nicht als Vorgesetzter, sondern als Mannschaftsdienstgrad beging (vgl. BVerwG, Urteile vom 2. Mai 2019 – 2 WD 15.18 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 63 und vom 3. Juni 2021 – 2 WD 18.20 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 93 Rn. 29). Denn die verletzten Dienstpflichten gelten für alle Soldaten gleichermaßen. Da § 10 Abs. 1 SG bei Vorgesetzten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflichten erhöhte Anforderungen stellt (vgl. BT-Drs. 2/1770 S. 19, BT-Drs. 2/2140 S. 6), wäre eine Vorgesetzteneigenschaft verschärfend zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. April 2021 – 2 WD 14.20 – juris Rn. 33 m.w.N. und vom 3. Juni 2021 – 2 WD 18.20 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 93 Rn. 29). Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Fehlen der Vorgesetzteneigenschaft ein Milderungsgrund ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2021 – 2 WD 18.20 – Rn. 29 m.w.N.).
78
dd) Bei der erforderlichen Gesamtwürdigung wäre an sich wegen des deutlichen Überwiegens der für den Soldaten sprechenden Umstände ein Übergang von der Regelmaßnahme zu einer einfachen Disziplinarmaßnahme in Form einer Disziplinarbuße angemessen.
79
ee) Die unangemessene Dauer des Disziplinarverfahrens mit einer nicht gerechtfertigten Überlänge von etwa einem Jahr und vier Monaten gebietet es jedoch, das Disziplinarmaß weiter zu verringern.
80
In Fällen, in denen – wie hier – statt der Höchstmaßnahme eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme geboten ist, ist eine gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßende, unangemessene Verfahrensdauer bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit mildernd zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2020 – 2 WD 18.19 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 82 Rn. 75 m.w.N.), wobei der für die Verfahrensdauer maßgebliche Zeitraum bereits ein behördliches Vorschaltverfahren umfassen kann (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 – 8453/04, Bayer/Deutschland – NVwZ 2010, 1015 Rn. 44).
81
(1) Das danach zu berücksichtigende Vorermittlungsverfahren (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 2020 – 2 WD 1.20 – BVerwGE 169, 388 Rn. 41) war um etwa einen Monat überlang. Das Dienstvergehen ereignete sich am 4. Dezember 2017. Das gerichtliche Disziplinarverfahren wurde gut vier Monate später am 11. April 2018 eingeleitet. Nach der Rechtsprechung des Senats sollte bei zureichenden Anhaltspunkten für den Anfangsverdacht eines schwerwiegenden Dienstvergehens das gerichtliche Disziplinarverfahren bei einer dem Beschleunigungsgebot (§ 17 Abs. 1 WDO) entsprechenden zügigen Durchführung der erforderlichen Anhörungen der Vertrauensperson und des Soldaten jedenfalls innerhalb eines angemessenen Bearbeitungszeitraums von drei Monaten eingeleitet werden (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Oktober 2020 – 2 WD 1.20 – BVerwGE 169, 388 Rn. 44 und vom 8. Juli 2021 – 2 WD 22.20 – juris Rn. 39).
82
(2) Zudem weist das gut zwei Jahre und drei Monate lange erstinstanzliche Verfahren eine ungerechtfertigte Überlänge von etwa einem Jahr und drei Monaten auf. Zwar hatte es durch die Notwendigkeit einer Zeugenvernehmung sowie in rechtlicher Hinsicht wegen der zum Handeln auf Befehl umstrittenen Fragen einen überdurchschnittlichen Schweregrad. Da es aber wegen der angeschuldigten schuldhaften Dienstpflichtverletzungen insbesondere durch das Queren der Schießbahn, auf der geschossen wurde, für den Soldaten von erheblicher Bedeutung war, hätte eine Erledigung bei einem normalen Geschäftsgang binnen eines Jahres erwartet werden können. Besondere Umstände, die die Verzögerung erklären könnten, sind der Verfahrensakte nicht zu entnehmen. Dies lässt darauf schließen, dass die Überlänge auf die gerichtsbekannte Überlastung der Truppendienstgerichte zurückgeht. Diesen strukturellen Mangel hat der Soldat nicht zu verantworten.
83
(3) Hingegen kann sich der Soldat nicht darauf berufen, dass der Zeitraum zwischen der Zustellung der Einleitungsverfügung an ihn und dem Eingang der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht unangemessen lang war. Denn er hat in diesem Verfahrensstadium keinen Antrag beim Truppendienstgericht nach § 101 Abs. 1 Satz 1 WDO gestellt, um auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 – 8453/04, Bayer/Deutschland – NVwZ 2010, 1015 Rn. 51; BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 – 2 WD 19.18 – BVerwGE 166, 189 Rn. 42).
84
(4) Auch das binnen eines guten Jahres abgeschlossene Berufungsverfahren war nicht überlang.
85
(5) Die ungerechtfertigte Verfahrensüberlänge von insgesamt etwa einem Jahr und vier Monaten gebietet den Übergang zur nächstmilderen Maßnahmeart eines strengen Verweises (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 WDO).
86
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 138 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2, Satz 2, § 139 Abs. 3, § 140 Abs. 5 Satz 1 WDO. Da die Berufung nur zu einem geringen Teil Erfolg hat und zudem einer der auf Antrag der Wehrdisziplinaranwaltschaft geladenen Sachzeugen offenkundig ungeeignet war, zur Aufklärung des angeschuldigten Sachverhalts beizutragen, wäre es unbillig, den Soldaten mit Kosten des Verfahrens oder mit den ihm darin erwachsenen notwendigen Auslagen zu belasten.


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