Medizinrecht

Unfallversicherung, Unfall, Leistungen, Versicherungsschutz, Versorgung, Versicherungsvertrag, Gutachten, Arzt, Schmerzen, Bandscheibenvorfall, Anlage, Klinikum, Unfallrente, Sturz, von Amts wegen, schicksalhafte Komplikation

Aktenzeichen  8 O 8698/19

Datum:
22.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42052
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschuss
Der Streitwert wird auf 69.800,00 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.
I. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu, da er eine bedingungsgemäße unfallbedingte Invalidität nicht nachzuweisen vermocht hat.
1. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme kann nicht festgestellt werden, dass die vom Kläger vorgetragenen Beeinträchtigungen – in einer nach den Vereinbarungen im streitgegenständlichen Versicherungsvertrag maßgeblichen Weise – durch das behauptete Unfallereignis verursacht worden wären. Eine unfallbedingte, bedingungsgemäße Invalidität scheidet daher aus.
a) Es besteht schon kein objektiv gesicherter Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger bei dem streitgegenständlichen – von der Beklagten in seinem Ablauf nicht bestrittenen – Sturzereignis überhaupt irgendwelche relevanten Verletzungen an der Wirbelsäule oder den Bandscheiben erlitten hat.
aa) Zwar hat der Kläger vortragen, vor dem streitgegenständlichen Sturzereignis noch nicht unter den behaupteten Beeinträchtigungen im Rücken und im linken Bein gelitten zu haben. Diese seien vielmehr erst nach dem Unfall und der daraufhin durchgeführten operativen Versorgung eingetreten. In den vorliegenden ärztlichen Unterlagen sind bereits vor dem streitgegenständlichen Sturzereignis aufgetretene diesbezügliche Beeinträchtigungen des Klägers auch nicht dokumentiert (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 13, Bl. 60 d.A.). Die Sachverständige hat es zwar als „fast nicht vorstellbar“ bezeichnet, dass der Kläger bei dem durch die MRT-Untersuchungen ab dem 16.01.2017 gesicherten ausgedehnten Veränderungen vor dem streitgegenständlichen Sturzereignis noch keinerlei klinische Symptome gezeigt haben soll (Gutachten vom 16.10.2020, Seite 18, Bl. 62R d.A.), diese Möglichkeit damit jedoch gerade nicht ausgeschlossen.
bb) Hingegen hat die Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass weder bei den MRT-Untersuchungen noch während der nachfolgenden Operation irgendwelche Anhaltspunkte für eine akute Verletzung oder einen akuten oder aktivierten Reizzustand an den Bandscheiben des Klägers dokumentiert wurde, wohingegen die operative Intervention eindeutig durch das Vorliegen eines – als verschleißbedingte Veränderung zu interpretierenden – stark sequestrierten Bandscheibenvorfalls im Bereich L5/S1 indiziert gewesen sei (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 13 ff., Bl. 60 ff. d.A.).
Insofern hat die Sachverständige mehrfach und überzeugend ausgeführt, dass bei einer traumatischen Beschädigung der Bandscheibe zumindest irgendwelche frischen strukturellen Begleitverletzungen an den Knochen oder im Weichteilbereich zu erwarten gewesen wären, wie etwa
•eine Fraktur eines Wirbelkörpers (L5 oder S1),
•eine Sprengung oder Kantenabrisse an einem Wirbelkörper,
•Grund- oder Deckenplattenkompressionen,
•Sprengungen oder Frakturen der bereits vorhandenen spondylophytären Abstützreaktionen im Bereich L5/S1,
•Knochenödem oder Einblutungen als Anzeichen für frische Bandscheibenzerreißungen,
•Traumatisierung oder Ödematisierung des Rückenmarks oder seiner Umgebung, oder
•äußere Verletzungszeichen wie Hämatome, Prellmarken, Hautläsionen oder Schürfungen, die auch bei vollständig bekleideten Personen auftreten könnten.
Beim Kläger seien jedoch keinerlei Veränderungen dieser Art dokumentiert worden, insbesondere nicht in den Befunden zu den MRT-Untersuchungen und nicht im Operationsbericht (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 16 f. und 27, Bl. 61R f. bzw. 67 d.A.; Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 19, Bl. 96 d.A.; Ergänzungsgutachten vom 21.06.2021, Seite 2 f., 4 und 7 ff., Bl. 119R f., 120R bzw. 122 ff. d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 2 ff., Bl. 157 ff. d.A.). Der Sequester als solcher komme dabei nicht als eine solche frische Begleitverletzung in Betracht (Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 3, Bl. 158 d.A.). Dessen Ausdehnung, die mehrfache Sequestrierung in den Spinalkanal hinein und das Vorhandensein von spondylophytären (knöchernen) Abstützreaktionen belegten vielmehr eine lange Entstehungsgeschichte der Veränderung an der Bandscheibe L5/S1 über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 15, Bl. 61 d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 3, Bl. 158 d.A.).
cc) Zu biomechanischen Gesichtspunkten und der Pathomechanik einer akuten Bandscheibenverletzung hat die Sachverständige zudem überzeugend ausgeführt, dass nach dem aktuellen Stand der Literatur (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 21 f., Bl. 97 f. d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 3, Bl. 158 d.A.) reine Kompressionskräfte – wie sie etwa beim vom Kläger geschilderten Aufprall mit dem Gesäß auf einer Treppenstufe auf die Wirbelsäule wirken können – nicht geeignet seien, Bandscheibenvorfälle zu verursachen. Hierzu treten müssten vielmehr erhebliche Scherkräfte, die dann aber auch keine isolierten Bandscheibenvorfälle, sondern zudem die oben (unter bb) beschriebenen strukturellen Begleitverletzungen verursachen würden (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 24, Bl. 65R).
dd) Dieses Ergebnis deckt sich damit, dass weder im Notarztprotokoll noch in der ärztlichen. Dokumentation des stationären Aufenthalts und der Operation nach dem 16.01.2017 irgendein Zusammenhang zwischen der Bandscheibenverletzung und dem streitgegenständlichen Sturzereignis hergestellt wird, obwohl dies zumindest hinsichtlich des Operationsbericht zu erwarten gewesen wäre (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 14 ff., Bl. 93R d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 3, Bl. 158 d.A.). Etwas anderes ergibt sich im Ergebnis auch nicht aus dem ärztlichen Bericht der Praxis Dr. … der in seiner ursprünglichen Fassung (Anlage B5) hinsichtlich eines Zusammenhangs zwischen einem Unfallereignis und der vorhandenen Veränderungen an den Bandscheiben offensichtlich widersprüchlich ist (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 27, Bl. 67), der in der als Anlage K9 vorgelegten Fassung offenbar vom Kläger einseitig vorgenommene Ergänzungen enthält und hinsichtlich dessen ein ärztlichen Vertreter der Praxis Dr. … nachträglich klargestellt hat (Anlagen B7 und B8), dass sämtliche Veränderungen an den Bandscheiben und daraus resultierende Beschwerden ausschließlich verschleißbedingt seien.
ee) Das Gericht schließt sich daher der Einschätzung der Sachverständigen (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 19 und 24, Bl. 63 bzw. 65R d.A.) an, wonach eine unfallbedingte Verursachung des Bandscheibenvorfalls L5/S1 oder der operativ entfernten Sequester mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, jedenfalls als nicht nachgewiesen anzusehen ist.
ff) Irrelevant ist dabei nach der zutreffenden Einschätzung der Sachverständigen, ob der Zustand der Wirbelsäule und der Bandscheiben des Klägers dabei als „altersentsprechend“ anzusehen ist oder nicht (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 7, Bl. 90 d.A.). Maßgeblich ist allein, ob der nach dem streitgegenständlichen Ereignis dokumentierte Zustand traumatisch verursacht oder auf unfallunabhängige, insbesondere degenerative Ursachen zurückzuführen ist.
b) Soweit danach noch die Möglichkeit bleibt, dass durch das streitgegenständliche Sturzereignis zuvor asymptonatische Veränderungen an der Wirbelsäule und den Bandscheiben des Klägers aktiviert worden und damit erstmalig symptomatisch geworden sind, wäre das Sturzereignis gegenüber den vorbestehenden degenerativen Veränderungen jedenfalls nicht die überwiegende Ursache und eine hierauf gestützte Invalidität nach Ziffer 5.2.1 AVB unbeachtlich.
aa) Die Sachverständige hat insofern ausgeführt, dass die beim Kläger vorbestehenden degenerativen Veränderungen bei jeder banalen Gelegenheit mit oder ohne äußere Einwirkung i.S. einer Lumboischialgie hätten symptomatisch werden können (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 28 f., Bl. 67R f. d.A.). Danach muss zwar von der Möglichkeit ausgegangen werden, dass das streitgegenständliche Sturzereignis die zuvor stummen, asymptomatischen Veränderungen an der Bandscheibe des Klägers aktiviert und Symptome in Form einer Lumboischialgie und Lähmungserscheinungen im linken Bein ausgelöst haben kann. Als nachgewiesen kann dies jedoch nicht angesehen werden, da eben gerade jedes andere banale Ereignis in gleicher Weise als Auslöser hierfür in Betracht kommt (vgl. Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 4 f., Bl. 159 f. d.A.). Insofern bleibt insbesondere die nicht nur theoretische Möglichkeit, dass die Beschwerden als schicksalhafte Komplikation der durchgeführten – und auch ohne den streitgegenständlichen Sturz indizierten – Operation eingetreten sind (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 29, Bl. 68 d.A.).
bb) Dies kann jedoch dahinstehen, weil auch im Falle einer Auslösung der Symptome durch das Sturzereignis dieses zwar als mitursächlich für die Beschwerden anzusehen wäre, jedoch von seiner Bedeutung gegenüber den erheblichen degenerativen Veränderungen in den Hintergrund treten würde. Es wäre jedenfalls nicht zu mehr als 50 % für den Eintritt der Symptome verantwortlich, mithin nicht als überwiegende Ursache der Beschwerden anzusehen. Die aus den Bandscheibenschäden resultierenden Beeinträchtigungen wäre daher nach Ziffer 5.2.1 AVB bei der Ermittlung einer unfallbedingten Invalidität nicht zu berücksichtigen.
Auch insoweit kommt wieder zum Tragen, dass durch das streitgegenständlich Sturzereignis keinerlei dokumentierte Begleitverletzungen dokumentiert sind und es deshalb zwar möglich ist, dass durch einen solchen Sturz noch die letzte erforderliche, wenn auch nur sehr geringfügige Verschiebung eines Sequesters in den Spinalkanal hinein bewirkt wurde (vgl. Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 4, Bl. 159 d.A.), die wesentlich umfangreicheren strukturellen Veränderungen aber als vorbestehend anzusehen und degenerativen Ursachen zuzuordnen sind (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2001, Seite 2 f., Bl. 87 f. d.A.). Das Gericht schließt sich insofern aufgrund eigener Würdigung der Einschätzung der Sachverständigen an, wonach der Verursachungsanteil der degenerativen Veränderungen mit mindestens 80 % anzusetzen wäre (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 12, Bl. 93 d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 5, Bl. 160 d.A.).
c) Aus der behaupteten Schwellung des Sprunggelenks ist dem Kläger jedenfalls kein Dauerschaden entstanden und damit auch keine Invalidität eingetreten (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 30 ff., Bl. 68R ff. d.A.; Ergänzungsgutachten vom 21.06.2021, Seite 5, Bl. 121 d.A.). Als aussagekräftige frische strukturelle Begleitverletzung (vgl. oben unter a bb) ist eine solche Schwellung offensichtlich nicht anzusehen, da diese allenfalls ein Indiz für einen Sturz, nicht jedoch für eine frische Bandscheibenverletzung darstellen kann.
2. Die Erhebung weiterer Beweise, insbesondere die Einholung von Zusatzgutachten aus dem Bereich der Radiologie oder der Biomechanik, ist nicht veranlasst. Die Sachverständige hat insofern überzeugend dargestellt, dass hierdurch keine weiteren relevanten Anknüpfungstatsachen gewonnen werden können (vgl. Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 5, Bl. 160 d.A.).
Dem schließt sich das Gericht nach eigener Würdigung vollumfänglich an. Zu den MRT-Aufnahmen liegen radiologische Befunde vor, deren Richtigkeit weder die Sachverständige noch die Parteien in Frage gestellt haben. Die biomechanischen Grundlagen der Pathomechanik der Wirbelsäulenverletzungen sind in der Fachliteratur, auf die die Sachverständige zurückgegriffen hat, geklärt. Im Übrigen könnte ein biomechanisches Gutachten allenfalls die Kräfte quantifizieren, die auf den Körper des Klägers gewirkt haben können, jedoch keine besseren Aussagen zu medizinischen Kausalzusammenhängen, insbesondere zur Verursachung oder Aktivierung der Wirbelsäulenschäden treffen.
3. Es kann daher dahinstehen, ob die vom Kläger behaupteten und von der Beklagten bestrittenen Beeinträchtigungen tatsächlich vorliegen. Auch kommt es nicht darauf an, ob – worauf sich die Beklagte zwar nicht beruft, was aber als Anspruchsvoraussetzung grundsätzlich von Amts wegen zu prüfen wäre – eine Invalidität des Klägers rechtzeitig durch einen Arzt festgestellt worden ist.
II. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt § 709 Satz 1, Satz 2 ZPO.


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