Medizinrecht

Verfahrensrecht: Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung

Aktenzeichen  L 18 SB 160/20 ER

Datum:
1.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 34712
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 131, § 154 Abs. 2, § 199 Abs. 1, Abs. 2, § 201 Abs. 1

 

Leitsatz

Zur vorläufigen Vollstreckbarkeit einer erstinstanzlichen Gerichtsentscheidung, mit der ein höherer GdB und das Merkzeichen “aG”zuerkannt wurden.
1. Bei der Entscheidung über einen Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses des Vollstreckungsgläubigers an der Vollziehung gegenüber dem Interesse des Vollstreckungsschuldners daran, nicht vor endgültiger Klarstellung „leisten“ zu müssen, unter Einziehung der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels sowie etwaiger besonderer Nachteile, die bei Vollstreckung oder Nichtvollstreckung des Urteils eintreten würden, vorzunehmen.   (redaktioneller Leitsatz)
2. Besondere Nachteile des Vollstreckungsschuldners sind nur solche, die nicht regelmäßig mit der gesetzlich vorgesehenen Vollstreckbarkeit nicht rechtskräftiger Urteile der Sozialgerichte ohne Sicherheitsleistung einhergehen, wenn dieser vor rechtskräftigem Abschluss des Rechtsstreits leisten muss. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 5 SB 382/19 2020-08-24 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag, die Vollstreckung aus dem Gerichtsbescheid vom 24.08.2020 auszusetzen, wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat der Antragsgegnerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens L 18 SB 160/20 ER zu erstatten.

Gründe

I.
Zwischen den Beteiligten sind im Hauptsacheverfahren (Az. des Sozialgerichts Würzburg – SG – S 5 SB 382/19; Az. des Bayerischen Landessozialgerichts – LSG – L 18 SB 148/20) die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) sowie des Merkzeichens aG streitig. Vorliegend geht es um die Vollstreckbarkeit eines dem klägerischen Begehren stattgebenden Gerichtsbescheids des SG.
Mit Bescheid vom 08.02.2018 hatte der Beklagte der Klägerin einen GdB von 50 zuerkannt. Die Zuerkennung eines höheren GdB und (unter anderem) des Merkzeichens aG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 07.08.2018 (Widerspruchsbescheid vom 07.12.2018) ab. Dagegen erhob die Klägerin Klage. Das SG holte auf der Grundlage des § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. (S) vom 15.06.2020 ein.
Mit Gerichtsbescheid vom 24.08.2020 verurteilte das SG den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 07.08. 2018 und 07.12.2018, die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 100 ab Mai 2018 zu bewerten und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B und aG zuzuerkennen. Die Bewertung des gerichtsärztlichen Sachverständigen S, der die Gesundheitsstörungen mit einem GdB von 100 bewertet habe, sei nicht zu beanstanden. Auch unter Berücksichtigung des für das SG im Klageverfahren S 6 R 411/16 erstellten Gutachtens des Neurologen und Psychiaters Dr. K. vom 07.11. 2017 sei die Einordnung der Erkrankung der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet als schwere Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 100 angemessen. Auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG lägen vor. S bestätige, dass die Klägerin aufgrund der psychogenen Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sei. S komme zu dem Ergebnis, dass die Klägerin in Abhängigkeit von ihrer Tagesform sich dauernd nur mit großer Anstrengung und regelmäßig auch nur mit fremder Hilfe außerhalb des Kfz bewegen könne und infolge ihrer Beeinträchtigungen nicht mehr in der Lage sei, Wegstrecken über 100 m ohne Rollstuhl zu bewältigen.
Dagegen legte der Beklagte Berufung zum LSG ein mit dem Antrag, den Gerichtsbescheid des SG insoweit aufzuheben, als eine Verurteilung zur Feststellung eines höheren GdB von 50 sowie zur Zuerkennung des Merkzeichens aG erfolgt sei. Die Verurteilung sei nicht haltbar. Bezüglich des klägerischen Restgehvermögens sei auf die Durchführung einer körperlichen Untersuchung verzichtet worden. Es sei auch keine Überprüfung der aktenkundigen Befunde auf ihre Schlüssigkeit hin erfolgt, obwohl beispielsweise im aktuellen Entlassungsbericht der geriatrischen Rehabilitationsklinik A-Stadt vom 21.02.2020 ein selbstständiges und sicheres Gehen ohne Hilfe von 100 m angegeben werde. Es würden keine manifesten Paresen und vor allem keine Muskulatrophien an den Beinen angegeben, was bei einer erheblichen Gangstörung jedoch zu erwarten wäre.
Ferner hat der Beklagte beantragt, die Vollziehung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Würzburg vom 24.08.2020 bezüglich der Zuerkennung eines höheren GdB von 50 und des Merkzeichens aG auszusetzen.
Zur Begründung trägt der Beklagte vor, die Klägerin bestehe trotz entsprechenden Hinweises in der Berufungsbegründung des Beklagten auf vorläufige Ausführung der Verurteilung. Das überwiegende Interesse an der Aussetzung des Vollzugs der erstinstanzlichen Entscheidung bestehe darin, dass mit dem Merkzeichen aG eine Sonderparkerlaubnis auf sogenannten Behindertenparkplätzen bei den Straßenverkehrsbehörden beantragt werden könne. Behindertenparkplätze seien in Ballungsräumen – auch am Wohnort der Klägerin in A-Stadt – nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Auch seien Behindertenparkplätze nicht beliebig erweiterbar. Es bestehe damit ein erhebliches öffentliches Interesse an der Freihaltung dieses Parkraums nur für den außergewöhnlich beeinträchtigten, hierfür berechtigten Personenkreis. Das Vorliegen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung sei bei der Klägerin wie ausgeführt nicht nachgewiesen. Die objektive Feststellungslast liege jedoch bei ihr.
II.
Der nach § 123 SGG analog im oben genannten Sinne auszulegende Antrag des Beklagten auf Aussetzung der Vollstreckung war abzulehnen.
Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG kann der Vorsitzende die Aussetzung und Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen; die §§ 108, 109, 113 der Zivilprozessordnung (ZPO) gelten entsprechend.
Die vom Beklagten eingelegte Berufung hat von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, weil die Vollstreckbarkeit von Urteilen bzw. hier des Gerichtsbescheids der gesetzlichen Regelung entspricht (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und gesetzliche Ausnahmen nicht vorliegen. Die Voraussetzungen des § 154 Abs. 2 SGG („Zahlungen vor Erlass der angefochtenen Gerichtsentscheidung“) sind vorliegend nicht erfüllt.
Der vom SG ausgesprochene Gerichtsbescheid hat auch einen vollstreckbaren Inhalt. Hierfür ist allein die Urteilsformel maßgebend (BSG 4. Senat vom 06.08.1999, B 4 RA 25/98 B juris Rn 13). Vorliegend hat das SG den Beklagten (u.a.) zur Zuerkennung eines Gesamt-GdB von 100 und des Merkzeichens aG verurteilt. Die Vollstreckung einer solchen Entscheidung erfolgt nach § 201 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Vorschrift, nach der das Gericht des ersten Rechtszuges auf Antrag ein Zwangsgeld androhen und festsetzen kann, benennt ausdrücklich die in § 131 SGG aufgeführten Urteile, in denen einer Behörde – wie hier – eine Verpflichtung auferlegt wurde.
Der Antrag des Beklagten, die Vollstreckung aus dem mit der Berufung angegriffenen, vollstreckungsfähigen Gerichtsbescheid des SG vom 24.08.2020 auszusetzen, war nach einer Abwägung der Interessen abzulehnen, da das Vollstreckungsinteresse der Klägerin höher zu bewerten ist als das Aussetzungsinteresse des Beklagten.
Im Rahmen der zu treffenden Aussetzungsentscheidung nach § 199 Abs. 2 SGG musste eine Abwägung des Interesses des Vollstreckungsgläubigers an der Vollziehung gegenüber dem Interesse des Vollstreckungsschuldners daran, nicht vor endgültiger Klarstellung „leisten“ zu müssen, unter Einbeziehung der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels erfolgen (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 05.09.2001, B 3 KR 47/01 R). Das Ergebnis dieser Abwägung führt zur Ablehnung des Aussetzungsantrags oder eben zur Aussetzung der Vollstreckung, ein Ermessen des Gerichts besteht nicht. Der Wortlaut des § 199 Abs. 2 SGG ist insofern irreführend (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 06.08.1999, B 4 RA 25/98 B, SozR 3-1500 § 199 Nr. 1: Gebundene Entscheidung „Kompetenz – Kann“, vgl. zum Ermessen auch BSG vom 05.09.2001, B 3 KR 47/01 R juris RdNr. 7). Die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels fungiert als ein Abwägungsbelang, der gegebenenfalls entscheidend ins Gewicht fallen kann, z.B. wenn die Erfolgsaussichten der Berufung offensichtlich sind (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 05.09.2001, B 3 KR 47/01 R). Ferner sind gegebenenfalls die Nachteile gegeneinander abzuwägen, die bei Vollstreckung bzw. Nichtvollstreckung des Urteils eintreten würden (vgl. zur Abwägung im Eilverfahren im Sinne einer solchen „Doppelhypothese“ z.B. BVerfG vom 15.03.2010, 1 BvR 722/10 juris Rn 10 – 12); die diesbezügliche gesetzgeberische Wertung ist in die Abwägung einzubeziehen.
Die summarische Prüfung der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels spricht weder für noch gegen einen Erfolg der Berufung der Beklagten. Jedenfalls lässt sich keine offensichtliche Erfolgsaussicht der Berufung feststellen. Während das SG, gestützt auf das Gutachten des S, die Voraussetzungen für einen GdB von 100 und das Merkzeichen aG bejaht, nimmt der Beklagte, gestützt auf versorgungsärztliche Stellungnahmen und aktenkundige Befundberichte, an, eine Erhöhung des GdB sei nicht gerechtfertigt und eine außergewöhnliche Gehbehinderung sei nicht nachgewiesen Eine endgültige Würdigung des medizinischen Sachverhalts ist hier nicht vorzunehmen. Dies bleibt dem Berufungsverfahren vorbehalten.
Ausschlaggebend für das unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Wertung gefundene Abwägungsergebnis war vorliegend, dass die auf Seiten der Klägerin bei Nichtvollstreckung des Gerichtsbescheids (und dessen späterer Bestätigung im Berufungsverfahren) eintretenden Nachteile schwerer wiegen als die auf Seiten des Beklagten bei Vollstreckung des Gerichtsbescheids (und dessen späterer Aufhebung im Berufungsverfahren) eintretenden Nachteile (vgl. zur Abwägung bei Leistungsklagen und zum Aspekt des nicht zu ersetzenden Nachteils LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.10.2008, L 3 U 593/08 ER; LSG Bayern vom 27.08.2008, L 2 U 236/08 ER; LSG Bayern vom 14.01.2009, L 17 U 353/08 ER). Zu berücksichtigen war dabei auch, dass nach § 719 Abs. 1 iVm § 707 ZPO der Vollstreckungsschuldner, hier also die Beklagte, darlegen und glaubhaft machen muss, dass ihm durch die Vollstreckung ein nicht zu ersetzender Nachteil entstehen würde, dass ihm also in der konkreten Vollstreckungssituation besondere Nachteile entstehen, d.h. solche, die nicht regelmäßig mit der gesetzlich vorgesehenen Vollstreckbarkeit nicht rechtskräftiger Urteile der Sozialgerichte ohne Sicherheitsleistung einhergehen, wenn er vor rechtskräftigem Abschluss des Rechtsstreits leisten muss (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.10.2008, L 3 U 593/08 ER juris RdNr. 7).
Dabei verkennt das Gericht nicht, dass bei Vollstreckung des Gerichtsbescheids und dessen späterer Aufhebung die Nutzung der Nachteilsausgleiche irreversibel zu Unrecht erfolgt wäre. Dieses Risiko ist aber, auch nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung,
in Kauf zu nehmen, da die bei der Klägerin möglicherweise eintretenden Folgen bei Nichtvollstreckung des Gerichtsbescheids und dessen späterer Bestätigung im Rechtsmittelverfahren schwerer wiegen. Denn dies würde – ebenfalls irreversibel – bedeuten, dass sie trotz der dann bestätigten erheblichen Beeinträchtigungen die ihr rechtlich zustehenden Nachteilsausgleiche für einen gegebenenfalls nicht unerheblichen Zeitraum bis zur Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidung nicht nutzen konnte.
In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass ein besonderer Nachteil im Sinne des § 719 Abs. 1 iVm § 707 ZPO, also ein Nachteil, der nicht regelmäßig mit der gesetzlich vorgesehenen Vollstreckbarkeit nicht rechtskräftiger Urteile der Sozialgerichte ohne Sicherheitsleistung einhergeht, vom Beklagten nicht glaubhaft gemacht worden (§ 719 Abs. 1 iVm § 707 ZPO) und auch sonst (§ 103 SGG) nicht ersichtlich ist. Der Beklagte und Antragsteller begründet seinen Aussetzungsantrag im Wesentlichen mit dem öffentlichen Interesse an der Freihaltung des Parkraums auf Behindertenparkplätzen für außergewöhnlich beeinträchtigte Personen. Dieses Argument impliziert das Nichtvorhandensein einer entsprechenden Beeinträchtigung bei der Klägerin. Gerade darum geht es aber bei der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung, die vom Vorliegen einer solchen Beeinträchtigung ausgeht. Im Ergebnis begründet der Beklagte damit den Antrag auf Aussetzung nur mit der (angeblichen) Rechtswidrigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Dies ist für ein Abweichen von der gesetzlich vorgesehenen Vollstreckbarkeit des erstinstanzlichen Gerichtsbescheids keinesfalls ausreichend. Dass durch die Vollstreckung eintretende Nachteile hier im konkreten Fall nachträglich nicht mehr rückgängig gemacht und nicht ausgeglichen werden können, liegt in der Natur der Sache und ist daher auch mit Blick auf die gesetzgeberische Grundentscheidung der grundsätzlichen Vollstreckbarkeit erstinstanzlicher Entscheidungen hinzunehmen.
Insgesamt liegt keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines bei vorläufiger Zuerkennung eines höheren GdB von 50 und des Merkzeichens aG auf Seiten der Beklagten entstehenden überwiegenden Nachteils im oben genannten Sinne vor.
Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung war nach alledem abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar, § 177 SGG; sie kann aber jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs. 2 Satz 3 SGG).


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