Medizinrecht

Verletzung des rechtlichen Gehörs nach kurzfristiger Erkrankung des Prozessbevollmächtigten

Aktenzeichen  11 ZB 17.30559

Datum:
18.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 124698
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 S. 4
VwGO § 138 Nr. 3, § 173 S. 1
ZPO § 227 Abs. 1 S. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1 Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung in der mündlichen Verhandlung infolge einer kurzfristigen, überraschenden Erkrankung eines als Einzelanwalt tätigen Prozessbevollmächtigten mit daraus folgender Unzumutbarkeit des Erscheinens oder des Verhandelns ist in der Regel ein erheblicher Grund für eine Terminsverlegung. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Prozessbevollmächtigte ist nicht verpflichtet, bereits mit seinem Terminsänderungsantrag ein ärztliches Attest vorzulegen. Nach § 227 Abs. 2 ZPO sind die erheblichen Gründe erst auf Verlangen des Vorsitzenden bzw. des Gerichts glaubhaft zu machen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 9 K 16.33511 2017-03-31 Ent VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Zwar hat die Verhandlung und Entscheidung über die Klage in Abwesenheit der Kläger und ihres durch eine akute Erkrankung verhinderten Prozessbevollmächtigten den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO). Jedoch haben sie nicht gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG hinreichend dargelegt, was sie bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätten (vgl. BVerwG, B.v. 19.8.1997 – 7 B 261/97 – NJW 1997, 3328 = juris Rn. 4; BVerfG, B.v. 13.3.1993 – 2 BvR 1988/92 – DVBl 1993, 601 = juris Rn. 34).
Nach § 173 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt werden. Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „erheblichen Gründe“ ist einerseits dem im Verwaltungsprozess geltenden Gebot der Beschleunigung des Verfahrens und der Intention des Gesetzes, die gerichtliche Entscheidung möglichst aufgrund einer einzigen mündlichen Verhandlung herbeizuführen, andererseits dem verfassungsrechtlichen Erfordernis des rechtlichen Gehörs Rechnung zu tragen (BVerwG, B.v. 25.9.2013 – 1 B 8.13 – juris; B.v. 28.4.2008 – 4 B 47.07 – juris jeweils m.w.N.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör schließt das Recht eines Beteiligten ein, sich durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen (BVerwG, B.v. 21.12.2009 – 6 B 32/09 – juris Rn. 3; Jaspersen in BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf, 25. Ausg. Stand: 15.6.2017, § 227 Rn. 7). Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung in der mündlichen Verhandlung infolge einer kurzfristigen, überraschenden Erkrankung eines als Einzelanwalt tätigen Prozessbevollmächtigten mit daraus folgender Unzumutbarkeit des Erscheinens oder des Verhandelns ist daher in der Regel ein erheblicher Grund für eine Terminsänderung (BVerwG, B.v. 20.4.2017 – 2 B 69/16 – juris Rn. 9; B.v. 21.12.2009 – 6 B 32/09 – juris Rn. 3; BVerfG, B.v. 8.2.2001 – 2 BvR 266/99 – juris Rn. 2), wenn die Erkrankung so schwer ist, dass ein Erscheinen zum Termin nicht erwartet werden kann (vgl. BFH, B.v. 1.4.2009 – X B 78/08 – juris Rn. 5). Liegt ein solcher Grund vor, verdichtet sich angesichts des hohen Ranges des Anspruchs auf rechtliches Gehör das durch § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingeräumte Ermessen regelmäßig zu einer entsprechenden Verpflichtung des Gerichts (BVerwG, B.v. 21.12.2009 – 6 B 32/09 – juris Rn. 3; B.v. 22.5.2001 – 8 B 69/01 – Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 30 S. 6 = juris Rn. 5).
Dem verhinderten Beteiligten obliegt es, die Hinderungsgründe, auf die er sich berufen will, möglichst noch vor dem Termin schlüssig und substantiiert darzulegen, so dass das Gericht in die Lage versetzt wird, das Vorliegen eines erheblichen Grundes zu beurteilen und ggf. eine (weitere) Glaubhaftmachung gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO zu verlangen (BVerwG, B.v. 26.4.1999 – 5 B 49/99 – juris Rn. 3, 6; B.v. 20.6.2000 – 5 B 27/00 – juris Rn. 10; B.v. 22.5.2001 – 8 B 69/01 – juris Rn. 5; B.v. 29.4.2004 – 1 B 203/03 – juris Rn. 4). Letztere sieht das Gesetz vor, wenn dem Gericht zweifelhaft erscheint, ob der von dem Beteiligten schlüssig behauptete Sachverhalt zutrifft (BVerwG, B.v. 20.6.2000 – 5 B 27/00 – juris Rn. 10). Dabei dürfen vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Ranges der prozessualen Gewährleistung des rechtlichen Gehörs keine überzogenen Anforderungen gestellt werden (BVerwG, a.a.O.; B.v. 21.12.2009 – 6 B 32/09 – juris Rn. 4). Im Einzelfall kann der bloße Vortrag genügen (Wendl in Bergmann/Gosch, AO/FGO, 132. Lfg. Stand 1.11.2016, § 91 FGO Rn. 86 m.w.N.). Die Glaubhaftmachung muss zeitlich möglich und zumutbar sein (BFH, B.v. 27.1.2010 – VIII B 221/09 – juris Rn. 8 m.w.N.).
Zwar hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger zunächst „nur“ vorgetragen, er sei wegen einer akuten Magen-Darm-Erkrankung nicht einsatzfähig, und nach Aufforderung des Einzelrichters, dies glaubhaft zu machen, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (mit ärztlicher Diagnose) und kein ärztliches Attest vorgelegt, dem sich weitere Einzelheiten hätten entnehmen lassen. Dies wäre bis zur Entscheidung des Gerichts, ob der Termin aufgehoben bzw. verlegt wird, bzw. bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung um 9:00 Uhr jedoch auch nicht möglich gewesen, ungeachtet dessen, welche der jeweils zwei zeitlichen Angaben des Telefaxgerätes des Prozessbevollmächtigten zugrunde gelegt wird. Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, der zeitliche Ablauf und der Beginn der Sommerzeit sprechen dafür, dass die jeweils spätere zeitliche Angabe richtig ist. Danach hat der Prozessbevollmächtigte dem Verwaltungsgericht am Verhandlungstag um 7:44 Uhr schriftlich mitgeteilt, dass er wegen einer akuten Magen-Darm-Erkrankung nicht einsatzfähig sei, und gleichzeitig beantragt, den Termin zur mündlichen Verhandlung abzusetzen und nach Rücksprache neu zu laden. Dies nahm der Einzelrichter um 8:50 Uhr zur Kenntnis und wies die Geschäftsstelle an, der Rechtsanwaltskanzlei mitzuteilen, dass erhebliche Gründe für eine Terminsverlegung nicht glaubhaft gemacht seien. Diese Nachricht wurde dem Prozessbevollmächtigten um 9:04 Uhr telefonisch übermittelt. Um 9:06 Uhr faxte der Prozessbevollmächtigte nochmals den Terminsänderungsantrag unter Beifügung einer von einem Internisten ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit der Diagnose „akute Gastroenteritis“, ICD-10-Code A08.5, die dem Einzelrichter um 9:10 Uhr übergeben wurde, bevor er die mündliche Verhandlung um 9:15 Uhr fortsetzte und die Klage mit Urteil vom selben Tag abwies.
Der Prozessbevollmächtigte war nicht verpflichtet, bereits mit seinem Terminsänderungsantrag ein ärztliches Attest vorzulegen. Denn nach § 227 Abs. 2 ZPO sind die erheblichen Gründe erst auf Verlangen des Vorsitzenden bzw. des Gerichts glaubhaft zu machen. Die entsprechende richterliche Aufforderung erfolgte hier nach Beginn der mündlichen Verhandlung um 9:04 Uhr. Aus der Ladung zur mündlichen Verhandlung ging nicht hervor, dass ein eventueller Hinderungsgrund sofort glaubhaft zu machen sei. Von Gesetzes wegen ist zunächst ein schlüssiger Vortrag gefordert (BVerwG, B.v. 25.6.2000 – 5 B 27/00 – juris Rn 10; vgl. auch BFH, B.v. 27.1.2010 – VIII B 221/09 – juris Rn. 4; OVG SA, B.v. 31.1.2017 – 2 L 34/16 – juris Rn. 6 ff.), wobei bei kurzfristigen Erkrankungen ggf. strenge(re) Anforderungen an den Vortrag gestellt werden können (vgl. BFH, B.v. 10.3.2005 – IX B 171/03 – juris Rn. 4; BSG, B.v. 13.8.2015 – B 9 V 13/15 B – juris Rn. 15; LSG Nds.-Bremen, U.v. 15.6.2016 – L 2 R 287/14 – juris Rn. 23). Vorliegend war indes allein aufgrund der anwaltlichen Angaben der konkreten Erkrankung (akute Magen-Darm-Erkrankung) und der fehlenden „Einsatzfähigkeit“ im Terminsänderungsantrag hinreichend klar, dass der Prozessbevollmächtigte nicht reise- und verhandlungsfähig sein würde. Es kann als allgemein bekannt gelten, dass diese Erkrankung innerhalb weniger Stunden auftreten kann und in aller Regel mit Erbrechen und/oder Durchfall einhergeht (vgl. Wikipedia, MSD Manual, RKI-Ratgeber für Ärzte, jeweils veröffentlicht im Internet), unabhängig davon, ob sie durch Viren oder Bakterien ausgelöst worden ist. Derartige Symptome machen eine – hier sogar relativ weite – Anreise vom Kanzleiort zum Gerichtssitz und eine längere Asylverhandlung mit Anhörung mehrerer Beteiligter unzumutbar. Spätestens mit Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die dem Prozessbevollmächtigten eine „akute Gastroenteritis“, d.h. eine akute Magen-Darm-Entzündung, bescheinigte, war der Vortrag – rechtzeitig vor der Fortführung der mündlichen Verhandlung um 9:15 Uhr – hinreichend substantiiert (ebenso BFH, B.v. 10.3.2005 – IX B 171/03 – juris Rn. 8).
Unter den konkreten Umständen genügte die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch, um einen erheblichen Hinderungsgrund glaubhaft zu machen. Zunächst gab es keine Anzeichen dafür, dass der Gerichtstermin hinausgezögert werden sollte, oder dafür, dass eine Erkrankung in Wahrheit nicht vorlag (vgl. BVerwG, B.v. 26.1.2016 – 2 B 34/14, 2 B 34/14, 2 PKH 1/14 – juris Rn. 21). Vielmehr lag noch vor Fortführung der mündlichen Verhandlung eine konkrete ärztliche Diagnose („Gastroenteritis“) mit dem Zusatz „akut“ vor, die sich mit der Angabe des Prozessbevollmächtigten im Terminsänderungsantrag deckte (vgl. dazu BFH, B.v. 25.12.2012 – X B 130/12 – juris Rn. 5) und die einen ernsthaften Anhaltspunkt für eine fehlende Reise- und Verhandlungsfähigkeit bot. In Anbetracht des morgendlichen Verhandlungstermins wäre die Erlangung und Beibringung des vom Verwaltungsgericht geforderten, über diese Angaben hinausgehenden ärztlichen Attests mit näheren Ausführungen zur Art, Ursache und Dauer der Erkrankung nicht rechtzeitig möglich gewesen. Hierüber hätte sich ein Arzt erst durch eine Laboruntersuchung Aufschluss verschaffen können. Daher wäre eine bestimmte erregerabhängige Einstufung nach ICD-10-Code A00 – A08 am Morgen des Verhandlungstages nicht zu erwarten gewesen. Die einzige Krankheitsbeschreibung nach dem ICD-10-Code ohne Angabe des Erregers ist die von dem Internisten gewählte, inhaltlich unbestimmte Klassifizierung A08.5 (Sonstige näher bezeichnete Darminfektionen).
Selbst wenn man davon ausgeht, dass das Verwaltungsgericht aufgrund der in dem Terminsänderungsantrag von 7:44 Uhr angegebenen Art der Erkrankung den Verhandlungstermin nicht ohne Weiteres verlegen musste, hätte jedenfalls ein hinreichender tatsächlicher Anlass bestanden, durch einen Rückruf in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten von Amts wegen weitere für erforderlich gehaltene Ermittlungen zur Schwere der Krankheitssymptome anzustellen bzw. den Prozessbevollmächtigten zur Ergänzung seines Vortrags aufzufordern (vgl. BVerwG, B.v. 21.12.2009 – 6 B 32/09 – juris Rn. 6; BFH, B.v. 27.1.2010 – VIII B 221/09 – juris Rn. 5 m.w.N. und B.v. 1.4.2009 – X B 78/08 – juris Rn. 5).
Diesem Ergebnis steht die in dem angegriffenen Urteil zitierte obergerichtliche Rechtsprechung, insbesondere auch die Entscheidung des Senats vom 27. Juli 2016 – 11 ZB 16.30121 – nicht entgegen. Den Entscheidungen lagen Fälle zugrunde, in denen die Art der Erkrankung im Unterschied zum vorliegenden Verlegungsantrag gar nicht angegeben worden war. In einem Fall war der Kläger zudem nicht erreichbar, was gerichtliche Ermittlungsversuche zur Ergänzung seines Vortrags leerlaufen ließen.
Allerdings kann die Gehörsverletzung nicht zur Zulassung der Berufung führen, weil sich aus der nicht näher substantiierten Behauptung in der Antragsbegründung, der Prozessbevollmächtigte hätte die vom Verwaltungsgericht auf Seite 10/11 des Urteils aufgezeigten Widersprüche im klägerischen Vorbringen in einer mündlichen Verhandlung aufklären können, und der Kritik an den gerichtlichen Ausführungen zur Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags, nicht ansatzweise ergibt, was sie bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätten. Hiermit sind die Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht erfüllt, denn die Gehörsrüge erfordert regelmäßig die substantiierte Darlegung dessen, was der Beteiligte bei Gehörsgewährung noch vorgebracht hätte und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (BVerwG, B.v. 28.1.2003 – 4 B 4/03 – Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 53 = juris Rn. 4).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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