Medizinrecht

Vielzahl von Medikamenten, die Leistungsfähigkeit einschränken könnten, Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens aufgrund eines ärztlichen Gutachtens, Nichteignungsvermutung aufgrund Nichtvorlage des Gutachtens

Aktenzeichen  M 19 S 22.1607

Datum:
24.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13711
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 1
FeV Nr. 9.6.2. der Anlage 4 zur
FeV § 11 Abs. 8

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der 1958 geborene Antragsteller wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A2, A1, AM, B, BE (79.06), C1, C1E, L und T.
Durch eine telefonische anonyme Mitteilung vom 7. Juli 2020 wurde die Fahrerlaubnisbehörde des Landratsamts B. Land darüber informiert, dass der Antragsteller unterhalb des Knies amputiert worden sei und auf Krücken gehe. Daraufhin forderte sie von ihm mit Schreiben vom 13. Juli 2020 einen aktuellen Arztbericht über seinen Gesundheitszustand, insbesondere bezüglich der Amputation sowie einen Medikationsplan.
Der Antragsteller reichte mit Stellungnahme vom 27. Juli 2020 einen Arztbericht vom 24. Juli 2020 des diabetologisch qualifizierten Hausarztes Dr. K. ein, demzufolge bei ihm ein Zustand nach Unterschenkelamputation links wegen einer dortigen Durchblutungsstörung bestehe. Dem beigelegten Medikationsplan zufolge nehme er neun verschiedene Medikamente, unter anderem aufgrund Diabetes und Bluthochdrucks.
Der Aufforderung der Fahrerlaubnisbehörde vom 7. August 2020 folgend übermittelte der Antragsteller am 8. Oktober 2020 einen ergänzenden Arztbericht sowie Laborwerte vom 6. Oktober 2020 von Dr. K., demzufolge unter anderem eine insulinpflichtige Diabetes mellitus Typ 2 seit dem 6. Mai 2014 und eine Hypertonie seit dem 23. Juni 2014 bestehe. Der weiteren Behördenanfrage vom 30. Oktober 2020 folgend ging am 8. Dezember 2020 eine erneute Stellungnahme vom 3. Dezember 2020 des Dr. K. ein, indem dieser die sechs Fragen der Fahrerlaubnisbehörde beantwortete. Mit Schreiben vom 14. Januar 2021 gab die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller bis zum 25. Januar 2021 Gelegenheit, eine orthopädische Untersuchung zu absolvieren.
Auf das vom Landratsamt mit Schreiben vom 1. Februar 2021 auf der Grundlage von § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) i.V.m. Nrn. 3, 4 und 5 der Anlage 4 zur FeV angeordnete Gutachten eines Arztes in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, legte der Antragsteller ein ärztliches Gutachten vom 27. April 2021 der TÜV … Mobilität GmbH & Co.KG vor, demzufolge er sich am 9. April 2021 bei Dr. H. begutachten ließ. Dem ärztlichen Gutachten zufolge werde er trotz Vorliegen von Erkrankungen nach Nr. 3 (Unterschenkelprothese), Nr. 4.2. (arterielle Hypertonie) und Nr. 5.4 (Diabetes mellitus Typ 2) der Anlage 4 der FeV den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 gerecht. Der Antragsteller nehme regelmäßig und gewissenhaft seine Medikamente ein und werde den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht. Es liege eine ausreichende Compliance (u.a. Krankheitseinsicht, regelmäßige überwachte Medikamenteneinnahme) vor. Gleichzeitig werden drei Auflagen festgelegt. Bezüglich der Bewegungsbehinderung sollten mittels einer Fahrprobe durch einen amtlich anerkannten Sachverständigen Beschränkungen geprüft werden. Aufgrund der Vielzahl der Medikamenteneinnahme solle bezüglich der Leistungsfähigkeit ein medizinisch-psychologisches Gutachten angeordnet werden. Schließlich sieht das Gutachten eine fachlich einzelfallbegründete Nachuntersuchung für die Gruppe 2 nach einem Jahr als notwendig an.
Der Antragsgegner ordnete mit Schreiben vom 14. September 2021, dem Antragsteller am 15. September 2021 zugestellt, die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer Begutachtungsstelle für Fahreignung bis zum 29. Oktober 2021 an. Die Anordnung bezieht sich ausschließlich auf die wegen der Dauerbehandlung mit Arzneimitteln zu klärende Frage einer erforderlichen Leistungsfähigkeit zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs. Sofern diese nicht bestehe, solle ergänzend das Kompensationsvermögen (u.a. in Form einer psychologischen Fahrverhaltensbeobachtung) überprüft werden. Aufgrund der vorliegenden Erkrankungen und der Vielzahl der eingenommenen Medikamente sei die Leistungsfähigkeit gemäß der Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV bei einer Begutachtung zu klären. Hierbei seien auch die möglichen Wechselwirkungen der einzelnen Medikamente untereinander zu berücksichtigen. Da das ärztliche Gutachten vom 27. April 2021 die Aufklärung der Leistungsfähigkeit als erforderlich ansehe, sei die medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) das mildeste Mittel zur Aufklärung der Sachlage. Die Anordnung nennt § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV als Rechtsgrundlage.
Mit Schreiben vom 1. Dezember 2021 hörte der Antragsgegner ihn zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an. Dieser wandte sich gegen die Anordnung der MPU, u.a. mittels E-Mails vom 23. und 31. Dezember 2021. Er halte es für unwürdig, dass er als professionell ausgebildeter Fahrlehrer, Kraftverkehrsmeister, Verkehrsfachwirt, Fahrschulleiter und für den Ernstfall als Feldjäger der Bundeswehr vorbereiteter Spezialist an einer MPU teilnehmen müsse. Selbstverständlich absolviere er regelmäßig Leistungstests, zuletzt im April und am 23. Dezember 2021. Es gebe bestimmt mindestens drei Fahrlehrer, die Prothesen oder gesundheitliche Probleme hätten und dennoch als Fahrlehrer weiterarbeiten dürften; hier werde mit zweierlei Maß gemessen. Die Fahrerlaubnisbehörde erläuterte dem Antragsteller u.a. mit E-Mail vom 23. Dezember 2021, warum sie die Überprüfung der Leistungsfähigkeit im Rahmen einer MPU für erforderlich halte.
Der Antragsteller legte das nach Fristverlängerung bis 27. Dezember 2021 verlangte Gutachten nicht vor.
Mit Schreiben vom 4. Januar 2022 zeigte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers beim Landratsamt seine Vertretung an. Ihm wurde mit Schreiben vom 7. Januar 2022 Akteneinsicht gewährt.
Mit Bescheid vom 18. Januar 2022, dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 19. Januar 2022 zugestellt, entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1), gab ihm auf, seinen Führerschein unverzüglich bei der Führerscheinstelle abzugeben (Nr. 2), ordnete die sofortige Vollziehung der vorstehenden Ziffern an (Nr. 3), drohte für den Fall der Nichterfüllung der Ziffer 2 ein Zwangsgeld in Höhe von 550,- EUR an (Nr. 4), ordnete die Kostentragung durch den Antragsteller an (Nr. 5) und erhob für diesen Bescheid Kosten in Höhe von 183,67 EUR (Nr. 6).
Als Rechtsgrundlage für die Entziehung werden § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG), § 46 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 11 Abs. 8 FeV genannt. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antragsteller der rechtmäßigen Anordnung zur Beibringung der MPU nicht nachgekommen sei.
Hiergegen erhob der Antragsteller mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 20. Januar 2022 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage. Mit Schriftsatz vom 15. März 2022 ließ er darüber hinaus beantragen,
festzustellen, dass die Klage vom 20. Januar 2022 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. Januar 2022 aufschiebende Wirkung hat.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, die Fahrerlaubnisbehörde habe ohne Sachverhaltsaufklärung dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen. Dies käme gegenüber dem seit 1991 als Geschäftsführer seiner eigenen Fahrschule tätigen Antragsteller der Erteilung eines Berufsverbots gleich. Verwiesen wird unter Vorlage der entsprechenden Nachweise auf verschiedenste Qualifikationen des Antragstellers, insbesondere bezüglich seiner beruflichen Qualifikation und seiner seit 25. November 1981 bestehenden Fahrlehrererlaubnis und der seit einigen Jahren erworbenen Qualifikation als Ausbildungsfahrlehrer. Der Antragsteller habe seine Arbeit stets fehlerfrei und sicher ausgeübt und problemlos am Straßenverkehr teilgenommen. Er müsse noch zwei bis drei Jahre weiterfahren können, um die Fahrschule werterhaltend übernehmen zu lassen und sei daher auf den Führerschein angewiesen.
Der Antragsgegner erwiderte unter Vorlage der elektronischen Akte mit Schriftsätzen vom 1. und 12. April 2022 und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurden im Wesentlichen die Bescheidsgründe wiederholt und darüber hinaus ausgeführt, dass nicht in Abrede gestellt werde, dass es beim Antragsteller seit drei Jahren (seit der Unterschenkelamputation) zu keiner Auffälligkeit gekommen sei. Ein Ausnahmefall i.S.v. Satz 2 der Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 zur Fev sei nicht erkennbar.
Trotz Fälligstellen des mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 18. Januar 2022 angeordneten Zwangsgelds am 7. Februar 2022 und weiterer angeordneter, jeweils erhöhter Zwangsgelder mit Bescheiden vom 17. und 29. März 2022 und des Versuchs der Fahrerlaubnisbehörde, den Führerschein mittels unmittelbarem Zwang zu erhalten, hat der Antragsteller seinen Führerschein bislang nicht abgeliefert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bleibt ohne Erfolg.
Nach Auslegung des gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) ist davon auszugehen, dass der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO hinsichtlich der mit Nr. 3 des Bescheids des Landratsamts B. Land vom 18. Januar 2022 für sofort vollziehbar erklärten Entziehung der Fahrerlaubnis (Nr. 1 des Bescheids) und der unter Nr. 2 des Bescheids angeordneten Abgabeverpflichtung begehrt. Hinsichtlich der in Nr. 4 des Bescheids verfügten und kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes – VwZVG), sowie der ebenfalls kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) sofort vollziehbaren Kostenregelung, Nr. 5 und Nr. 6 des Bescheids, begehrt er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.
Der so verstandene Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig.
Insbesondere hat sich auch die Zwangsgeldandrohung in Nr. 4 des Bescheids durch ihre zwischenzeitige Fälligstellung nicht erledigt. Denn die Zwangsgeldandrohung knüpft an die Rechtmäßigkeit der unter Nr. 2 des Bescheids angeordneten Verpflichtung der Führerscheinabgabe an. Vorliegend hat der Antragsteller trotz des fällig gestellten Zwangsgelds seinen Führerschein noch nicht abgegeben. Die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins stellt nach wie vor den Rechtsgrund für das vorläufige Behaltendürfen dieses Dokuments für die Fahrerlaubnisbehörde dar (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris Rn. 22), womit auch im Falle ihrer Rechtswidrigkeit das in Nr. 4 des Bescheids vom 18. Januar 2022 angeordnete Zwangsgeld – sofern es bereits bezahlt wurde – zurückgefordert werden könnte. Neben der Hauptverfügung – hier der Entziehung der Fahrerlaubnis in Nr. 1 des Bescheids – besteht für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO somit in Hinblick auf die Nr. 2 und damit auch auf die Nr. 4 des Bescheids weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis.
Der Antrag ist jedoch unbegründet.
1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 3 des Bescheids vom 18. Januar 2022 genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Schmidt in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 43).
Dem genügt die Begründung im streitgegenständlichen Bescheid. Die Fahrerlaubnisbehörde hat unter Bezugnahme auf das bis dato nicht vorgelegte medizinisch-psychologische Gutachten zur psycho-physischen Leistungsfähigkeit dargelegt, warum sie im Fall des Antragstellers im Interesse der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs die sofortige Vollziehung anordnet.
Im Übrigen ergibt sich im Bereich des Sicherheitsrechts das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung bereits aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts maßgebend waren (BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 CS 19.180 – juris Rn. 10 ff.).
2. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen, in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessenabwägung.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – juris Rn. 13), hier somit derjenige des Bescheidserlasses.
2.1. Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV, wonach die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen hat. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Im Fall einer Dauerbehandlung mit Arzneimitteln ist die Fahreignung u.a. dann nicht gegeben, wenn eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß besteht (Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV kann die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden, wenn nach Würdigung des ärztlichen Gutachtens gemäß § 11 Abs. 2 FeV ein medizinisch-psychologisches Gutachten zusätzlich erforderlich ist.
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). So verhielt es sich hier. Der Antragsgegner durfte aus der Nichtbeibringung des vom Antragsteller zu Recht geforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf seine Nichteignung schließen.
2.1.1. Ein Schluss auf die Nichteignung ist jedoch nur zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. nur BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 19 m.w.N.). An die Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung sind dabei grundsätzlich strenge Maßstäbe anzulegen, weil der Antragsteller sie mangels Verwaltungsaktqualität nicht unmittelbar anfechten kann. Er trägt das Risiko, dass ihm gegebenenfalls die Fahrerlaubnis bei einer Weigerung oder Nichtbeibringung entzogen wird. Der Gutachter ist an die Gutachtensanordnung und die dort formulierte Fragestellung gebunden (§ 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Nr. 1 lit. a Satz 2 der Anlage 4a zur FeV). Es ist gemäß § 11 Abs. 6 FeV Aufgabe der Fahrerlaubnisbehörde, die Beurteilungsgrundlage und den Beurteilungsrahmen selbst klar festzulegen. Der Betroffene muss der Gutachtensaufforderung entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das Verlautbarte die behördlichen Zweifel an seiner Fahreignung zu rechtfertigen vermag.
Gemessen an diesen Maßstäben begegnet die Gutachtensaufforderung des Antragsgegners vom 14. September 2021, wonach der Antragsteller zur Abklärung seiner Fahreignung ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen hatte, keinen rechtlichen Bedenken.
(1) Sie genügt den formellen Voraussetzungen des § 11 Abs. 6 FeV. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dem Antragsteller im Aufforderungsschreiben vom 14. September 2021 unter Nennung der zutreffenden Rechtsgrundlage des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV die Gründe dargelegt, weshalb sie an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zweifelt. Insbesondere wird unter Bezugnahme auf das ärztliche Gutachten des TÜV … vom 27. April 2021 hinreichend deutlich, dass sich die MPU allein auf die Klärung der aufgrund der Mehrfachmedikation erforderlichen Leistungsfähigkeit beschränken soll. Die diesbezüglichen Fragestellungen waren nicht zu beanstanden. Sie verbinden richtigerweise eine etwaige abschlägige Beurteilung der Leistungsfähigkeit unmittelbar mit der daran anschließenden Klärung ihrer Kompensationsmöglichkeit. Denn die Verfügbarkeit der erforderlichen Leistungsfähigkeit ist keine stabile Größe, sodass bei der Beurteilung von festgestellten Eignungsmängeln die Frage ihrer möglichen Kompensierbarkeit von zentraler Bedeutung ist (vgl. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Stand: 31.12.2019, 2.6 S. 13). Die Gutachtensaufforderung genügte auch den sonstigen, sich aus § 11 Abs. 6 FeV ergebenden formellen Anforderungen. Die Gutachtensaufforderung enthielt auch den erforderlichen Hinweis nach § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV.
(2) Die materiellen Voraussetzungen zur Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV lagen im maßgeblichen Zeitpunkt der Begutachtungsanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 11.2.2019 – 11 CS 18.1808 – juris Rn. 18) ebenfalls vor. Es bestand Anlass für eine medizinisch-psychologische Begutachtung, weil nach Würdigung des ärztlichen Gutachtens vom 27. April 2021 ein zusätzliches medizinisch-psychologisches Gutachten erforderlich war i.S.d. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV (zum Stufenverhältnis zwischen der ärztlichen und der – eingriffsintensiveren – medizinisch-psychologischen Begutachtung vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 17 m.w.N.).
Der hier zu prüfenden Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ging eine Beibringungsanordnung des Antragsgegners vom 1. Februar 2021 hinsichtlich eines ärztlichen Gutachtens durch einen Arzt in einer Begutachtungsstelle auf der Grundlage von § 11 Abs. 2 FeV voraus. Da dieses Gutachten in Gestalt des ärztlichen Gutachtens des TÜV … vom 27. April 2021 beigebracht wurde, kommt es auf die Rechtmäßigkeit der ihm zugrundeliegenden Anordnung vom 1. Februar 2021 nicht mehr an (st. Rspr., vgl. etwa VG Köln, B.v. 28.5.2021 – 6 L 711/21 – juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 28.10.2013 – 11 CS 13.1746 – juris). Das Ergebnis des Gutachtens schafft eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2010 – 3 C 2.10 – juris Rn. 17 ff.; VG München, B.v. 5.5.2006 – M 6b S 06.1075 – juris Rn. 33). Der Einwand der Antragstellerseite, es sei auch nach der Unterschenkelamputation im Jahr 2019 zu keiner Zeit zu verkehrsrechtlichen Auffälligkeiten jeglicher Art gekommen, trägt damit nicht. Denn die angeordnete Entziehung wird gerade nicht mit den Erkrankungen des Antragstellers begründet, sondern mit der Nichtbeibringung der auf Grundlage des ärztlichen Gutachtens vom 27. April 2021 angeordneten MPU.
Das Gutachten des TÜV … vom 27. April 2021 kommt zu dem Schluss, dass die einzelnen Erkrankungen des Antragstellers für sich genommen medikamentös ausreichend eingestellt sind (arterielle Hypertonie – Bluthochdruck) oder im Fall der Diabetes mellitus Typ 2, die derzeit nicht optimal eingestellt ist, Über- oder Unterzuckerungen jedenfalls durch ein vom Antragsteller zuverlässig geführtes automatisches Messsystem rechtzeitig bemerkt werden können. Diesbezüglich fordert das Gutachten eine verkürzte Nachuntersuchung für die Gruppe 2 nach einem Jahr. Der Antragsteller besitzt auch die erforderliche Compliance aufgrund seiner regelmäßigen und gewissenhaften Einnahme seiner Medikamente. Hinsichtlich der Amputation und der Versorgung durch eine Unterschenkelprothese sieht das ärztliche Gutachten eine noch vorzunehmende Fahrprobe vor, in der etwaige Beschränkungen oder Auflagen zu prüfen sind. Insgesamt stellt das Gutachten damit die Fahreignung des Antragstellers nicht in Frage. Allerdings trifft es darüber hinaus die unmissverständliche Aussage, dass die Vielzahl der von ihm eingenommenen Medikamente in ihrer Kombination seine Leistungsfähigkeit einschränken könnten. Es sieht daher – also allein aufgrund der Mehrfachmedikation – die Überprüfung seiner Leistungsfähigkeit durch Anordnung einer MPU nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV als erforderlich an.
Der Antragsgegner hat dieses Ergebnis bei seiner MPU-Anordnung ausreichend gewürdigt. Eine Würdigung i.S.d. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV verlangt, dass sich die Fahrerlaubnisbehörde ein eigenes Urteil bildet (BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 17 m.w.N.). Empfiehlt das ärztliche Gutachten eine medizinisch-psychologische Begutachtung, hat sie dieses daher auf seine Nachvollziehbarkeit zu überprüfen (vgl. BayVGH, B.v. 11.3.2015 – 11 CS 15.82 – juris Rn. 15). Gleichwohl wird eine solche ärztliche Empfehlung in der Regel Zweifel begründen, denen die Fahrerlaubnisbehörde durch Anordnung einer zusätzlichen medizinisch-psychologischen Begutachtung nachgehen darf (vgl. dazu auch BR-Drs. 443/98, S. 256; Siegmund in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., Stand 1.12.2021, § 11 FeV Rn. 69 f.).
Vorliegend hat der Antragsgegner die Nachvollziehbarkeit der ärztlichen Empfehlung in nicht zu beanstandender Weise bejaht. Denn eine Dauerbehandlung mit Arzneimitteln findet in Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV ihren Niederschlag. Hiernach geht der Verordnungsgeber im Falle einer Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß bezüglich beider Gruppen (d.h. aller Fahrerlaubnisklassen) von der Regelvermutung einer fehlenden Eignung aus (Nr. 9.6.2. der Anlage 4 zur FeV). Hierauf verweist der Antragsgegner in der gegenständlichen MPU-Anordnung und macht u.a. auch ergänzend auf mögliche Wechselwirkungen der einzelnen Medikamente aufmerksam.
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird die Anordnungsbegründung inhaltlich der nach § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV gesetzlich geforderten Ermessensprüfung gerecht. Sie legt ausführlich den Zweck der Anordnung, ihre Geeignetheit und das Fehlen von milderen Alternativen dar. Die Ausführungen in der Anordnung geben hinreichend Aufschluss darüber, dass angesichts des generell hohen Gefährdungspotentials, das von Kraftfahrzeugführen ausgeht, die mit Arzneimitteln langzeitbehandelt werden, deren persönliche Interessen vor der öffentlichen Verpflichtung zur Erhaltung der Sicherheit im Straßenverkehr zurückstehen müssen. Der Umstand, dass der Antragsgegner nicht explizit auf die berufliche Tätigkeit des Antragstellers eingegangen ist, ist vor dem Hintergrund der in der Gesamtschau umfangreich getroffenen Abwägung unschädlich; die zu überprüfende Leistungsfähigkeit begründet sich allein aufgrund der Vielzahl der eingenommenen Medikamente und ist unterschiedslos gegenüber jedem davon betroffenen Fahrerlaubnisinhaber zu treffen. Der Einwand des Antragstellers, die Behörde handele ihm gegenüber willkürlich – andere Fahrlehrer mit Prothesen oder gesundheitlichen Problemen würden nicht auf ihre Leistungsfähigkeit hin überprüft -, geht schon insofern fehl, als kein dem streitgegenständlichen gleichgelagerter Fall substantiiert vorgetragen wurde. Im Übrigen besteht kein Grund zur Annahme, der Antragsgegner hätte bei Vorliegen der gleichen Sachlage eines anderen Betroffenen nicht genauso gehandelt. Insoweit sei auf die Einlassungen des Antragsgegners in seinem Schreiben vom 23. Dezember 2021 verwiesen. Unschädlich ist, dass die MPU-Anordnung vom 14. September 2021 nicht das Wort Ermessen verwendet. Entscheidend ist vielmehr, dass die Behörde ihr Ermessen erkannt, das Gutachten auf seine Nachvollziehbarkeit überprüft und eine Abwägung zwischen den persönlichen Belangen des Antragstellers und dem öffentlichen Interesse der Verkehrssicherheit durchgeführt hat. Darüber hinaus bringt die Behörde in ihrer Begründung zum Ausdruck, dass für sie angesichts der klaren Aussage des nachvollziehbaren ärztlichen Gutachtens eine andere Entscheidung nicht denkbar gewesen wäre.
Somit stützt sich die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens vom 14. September 2021 auf die korrekte Anordnungsbefugnis (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV und Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV) und bringt auch in der Begründung klar zum Ausdruck, dass die Leistungsfähigkeit auf Grundlage der Dauermedikation (Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV) Gegenstand der Gutachtensklärung sein soll. Die Anordnungsbegründung wird darüber hinaus den Anforderungen an die Ermessensausübung gerecht.
2.1.2. Bezüglich der Nichteignungsvermutung des § 11 Abs. 8 FeV stand dem Antragsgegner kein Ermessenspielraum zu. Bei Nichtvorlage eines zu Recht geforderten Fahreignungsgutachtens handelt es sich um eine gebundene Entscheidung, die zwingend zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis führt (BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 14).
Daher konnten etwaige Folgen der Fahrerlaubnisentziehung für die Berufsausübung des Antragstellers, insbesondere die Ausübung seiner Fahrlehrertätigkeit nicht berücksichtigt werden. Unabhängig davon rechtfertigen auch Mobilitätseinschränkungen, aufgrund derer der Fahrer auf die Fahrerlaubnis privat angewiesen ist, nicht von einer Entziehung der Fahrerlaubnis abzusehen. Ebenso kann und darf eine unbeanstandete Teilnahme am Straßenverkehr für die aktuelle, rein präventive Bewertung einer vom Betroffenen ausgehenden Gefährdung der Verkehrssicherheit keine Rolle spielen (VG München, B.v. 17.3.2017 – M 26 S 17.536 – juris Rn. 28).
Angemerkt sei, dass es dem Antragsteller jederzeit freisteht, die im Rahmen der MPU abzuklärende Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und durch die Vorlage eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens dazulegen, dass er trotz der erforderlichen Dauerbehandlung mit Arzneimitteln die erforderliche Leistungsfähigkeit zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs besitzt.
2.2. Da somit die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, verbleibt es auch bei der zur Entziehung akzessorischen (§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV) Ablieferungspflicht in Nr. 2, der Zwangsgeldandrohung in Nr. 4 sowie der Kostenentscheidung in Nrn. 5 und 6 des Bescheids.
3. Der Antrag war nach alldem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Streitwertfestsetzung basiert auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz – GKG – i.V.m. den Nrn. 1.5 Satz 1, 46.2 (halber Auffangwert), 46.3 (Auffangwert) und 46.9 (halber Auffangwert) des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Stand Juli 2013) und ist mit 5.000 EUR festzusetzen. Maßgeblich für die Streitwertfestsetzung sind die Fahrerlaubnisklassen A (79), B und T. Die Fahrerlaubnisklassen AM und A1 sind in der Klasse A, die Fahrerlaubnisklasse AM und L sowohl in der Klasse B als auch T enthalten (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1, 3, 4 und 11 FeV).


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