Miet- und Wohnungseigentumsrecht

Unbegründete Räumungsklage wegen nicht zu rechtfertigender Härte

Aktenzeichen  411 C 19436/18

Datum:
22.11.2019
Fundstelle:
LSK – 2019, 29050
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 546, § 574
ZPO § 29a

 

Leitsatz

1. Ein Härtegrund iSv § 574 BGB liegt jedenfalls dann vor, wenn der Mieter seiner Obliegenheitspflicht nachkommt, indem er alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zur Erlangung einer Ersatzwohnung ergreift. Die Obliegenheit beginnt nach herrschender Meinung grundsätzlich mit dem Zugang der Kündigung. Der Umfang der Ersatzraumsuche richtet sich zum einen nach den Gegebenheiten des Wohnungsmarktes, insbesondere nach dem Wohnungsangebot und den Marktchancen des Mieters. Zum anderen sind aber auch die persönlichen Verhältnisse des Mieters zu berücksichtigen. (Rn. 95) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Härtegrund iSv § 574 BGB kann vorliegen, wenn sich durch einen Umzug das psychische Befinden des Mieters aller Wahrscheinlichkeit nach verschlechtern würde, bis hin zu einer schweren depressiven Episode, bei der auch ein Suizid nicht ausgeschlossen werden kann. (Rn. 106 – 111) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Mietverhältnis zwischen den Parteien über die Wohnung … in der …, 1. Stock, erste Wohnung links, wird auf unbestimmte Zeit fortgesetzt.
3. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 9.922,68 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage war – trotz berechtigter Eigenbedarfskündigung – als unbegründet abzuweisen und auszusprechen, dass das Mietverhältnis fortgesetzt wird, da Härtegründe vorliegen, die einen Umzug für den Beklagten unzumutbar machen.
I. Zulässigkeit der Klage
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das Amtsgericht örtlich und sachlich ausschließlich zuständig, da streitgegenständlich Ansprüche aus einem Wohnmietverhältnis in München sind, §§ 29 a ZPO, 23 Nr. 2 a GVG.
Der Klage fehlte bei Einreichung am 11.10.2018 trotz Ablauf der Kündigungsfrist erst zum 30.11.2018 auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis, da der Beklagte bereits der Kündigung widersprochen hatte.
II. Begründetheit der Klage
Die Klage war als unbegründet abzuweisen, da der Klägerin aus Härtegründen kein Anspruch auf Räumung und Herausgabe der streitgegenständlichen Wohnung gegen den Beklagten zusteht.
1. Eigenbedarf
Die Anhörung der Beteiligten und die durchgeführte Beweisaufnahme hat zwar zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der behauptete Eigenbedarf tatsächlich besteht.
Schon die Klägerin hat bei ihrer persönlichen Anhörung schlüssig dargelegt, aus welchen Gründen der behauptete Eigenbedarf gegeben sei. Ihr 36-jähriger Sohn habe aus der gemeinsamen Wohnung mit der Freundin kurzfristig ausziehen und notdürftig bei seinem Vater unterkommen müssen. Über das Umgangsrecht mit dem zweijährigen Sohn sei vor Gericht gestritten worden. Die jetzige Wohnsituation sei für das Umgangsrecht problematisch. Sie selbst könne, da sie zusammen mit ihrer Tochter nur eine 2-Zimmer-Wohnung bewohne, ihren Sohn nicht aufnehmen. Ihr Sohn sei wegen eines Kredites, der Unterhaltszahlungen und der Gerichtskosten finanziell sehr belastet und habe daher Schwierigkeiten, eine andere Wohnung zu finden. Man habe dem Beklagten vergeblich angeboten, bei der Wohnungssuche behilflich zu sein.
Der Sohn der Klägerin hat bei seiner Vernehmung für das Gericht glaubwürdig und glaubhaft den Vortrag der Klägerin bestätigt.
Im Januar 2018 hätten er und seine Lebensgefährtin sich entschlossen, sich zu trennen. Er habe seitdem vergeblich nach einer anderen Wohnung gesucht. Er könne allenfalls 1.000 € oder sogar nur 800 € Bruttomiete für eine 3-Zimmer-Wohnung aufbringen. Da der Sohn nicht bei ihm wohne, könne er auch beim Wohnungsamt keine derartige Wohnung für sich beantragen. Auf dem freien Markt habe er keine Wohnung gefunden. Nach ein paar Wochen habe ihn seine Lebensgefährtin aufgefordert, sofort auszuziehen. Er sei dann Anfang Februar zu seinem Vater gezogen, der ein halbes Zimmer frei hatte. Es handle sich um eine 52 qm große Wohnung mit 2 1/2 Zimmern. Sein Sohn schlafe derzeit in dem Bett, das im Zimmer des Vaters des Zeugen steht, der Zeuge schlafe in dem halben Zimmer und sein Vater auf der Couch. Er möchte nach wie vor einen aktiven Umgang mit seinem Sohn ausüben. Zunächst sei ein Umgang von zwei Tagen ohne Übernachtung vereinbart gewesen. Es sei dann gerichtlich um das Umgangsrecht gestritten worden. Seine frühere Lebensgefährtin habe ihm dabei vorgeworfen, dass er keine Wohnung habe, in der er mit dem gemeinsamen Sohn leben könnte. An den Tagen, an denen sein Sohn bei ihm ist, mache er Telearbeit.
Das Wohnen bei seinem Vater sei nur als Übergangslösung gedacht gewesen. Er streite sich häufig mit seinem Vater. Er sei bereits 2005 aus der Wohnung des Vaters ausgezogen, da er sich mit diesem nicht verstehe. Bis auf einen Aktenschrank befänden sich keinerlei Möbel von ihm in der Wohnung des Vaters.
Sein zweijähriges Kind benötige ein stabiles Umfeld für den Umgang.
Der Zeuge machte seine Angaben frei, d.h. weder auswendig gelernt, noch zu den Angaben seiner Mutter, der Klägerin, abgesprochen. Ihm war es allerdings erkennbar unangenehm, viel zu seinen persönlichen Verhältnissen preiszugeben, zumal er befürchtete, dass dies durch die Presse veröffentlicht würde. Unter Berücksichtigung dieser Bedenken erschien das Aussageverhalten des Zeugen aber unauffällig und glaubwürdig sowie in sich schlüssig.
Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin die Eigenbedarfsgründe nur erfunden hat, um einen unliebsamen Mieter loszuwerden, oder die Wohnung mit einer wesentlich höheren Miete an Dritte weitervermieten zu können, und sie sogar hierzu ihren Sohn dazu bewegt hat, falsche Angaben vor Gericht zu machen, liegen nicht vor.
Die Angaben des Zeugen waren nachvollziehbar und in sich schlüssig. Soweit er angab, dass noch nicht konkret darüber gesprochen wurde, welchen Mietzins er für die streitgegenständliche Wohnung an seine Mutter leisten sollte, ist dies im Hinblick auf das enge Verwandtschaftsverhältnis und die geschilderte Notlage glaubhaft.
Letztlich hat der Beklagtenvertreter den behaupteten Eigenbedarf auch lediglich mit Nichtwissen bestritten und selbst keine Umstände vorgetragen, die auf einen vorgeschobenen Eigenbedarf schließen lassen.
Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass der geltend gemachte Eigenbedarf besteht. Die Klägerin hat hierbei auch keinen überzogenen Bedarf geltend gemacht.
Die Eigenbedarfskündigung war daher berechtigt.
2. Härteeinwand
Der Mieter kann allerdings gemäß § 574 BGB einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter eine Härte bedeuten würde, die auch unter der Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.
a) Frist des Widerspruchs
Der Vermieter kann die Fortsetzung des Mietverhältnisses ablehnen, wenn der Mieter ihm den Widerspruch nicht spätestens zwei Monate vor Beendigung des Mietverhältnisses erklärt hat. Lediglich bei Fehlen einer ausreichenden Belehrung über die Widerspruchsmöglichkeit kann der Mieter den Widerspruch noch im Räumungsrechtsstreit erklären.
Vorliegend wurde der Beklagte im Kündigungsschreiben ausreichend über seine Widerspruchsmöglichkeit informiert. Die Kündigung vom 24.02.2018, die am 01.03.2018 zugegangen ist, hat das langjährige Mietverhältnis mit Ablauf von neun Monaten, d.h. zum 30.11.2018, beendet.
Um Härtegründe noch geltend machen zu können, musste der Widerspruch der Klägerin somit spätestens vor Ablauf des Monats September 2018 der Klägerin zugegangen sein.
Dies wurde von ihr bestritten. Tatsächlich soll der Zugang erst Anfang Oktober 2018 erfolgt sein.
Der Beklagte hat jedoch einen Einlieferungsbeleg der Deutschen Post (Anlage B 6) vorgelegt, in dem festgehalten ist, dass das Schreiben am 26.09.2018 bei der Post einging. Dies entspricht den Angaben der Beklagtenseite, wonach das Schreiben am 26.09.2019 (Mittwoch) durch einen Mitarbeiter des Mietervereins zur Post gebracht wurde.
Weiter wurde auf eine Anfrage zum Sendestatus als Ergebnis mitgeteilt: „Die Sendung wurde am 27.09.2018 zugestellt.“(B 7).
Bei einem Einwurf-Schreiben wie dem vorliegenden erfolgt die Ablieferung durch Einwurf der Sendung in den Briefkasten des Empfängers. Der Postangestellte bezeugt hierbei unterschriftlich, dass die vermerkte Sendung entsprechend zu der angegebenen Zeit in den Briefkasten eingeworfen wurde. Diese Bestätigung hat der Beklagte entsprechend abgefragt und das Ergebnis vorgelegt.
Bei einem Einwurf-Einschreiben und Vorlage des Einlieferungsbeleges spricht somit der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Sendung durch Einlegen in den Briefkasten am vermerkten Tag zugegangen ist.
Der sich daraus ergebende Anschein der fristgerechten Zustellung wurde durch die Aussage der Zeugin … nicht ausreichend erschüttert.
Diese gab zwar an, das Widerspruchsschreiben erst am 02.10.2018 aus dem Briefkasten geholt zu haben. Diese Aussage relativierte sie jedoch bei näherer Befragung. Zum Teil beruhte die Aussage nur auf Überlegungen und Schlussfolgerungen im Hinblick auf ihre üblichen Verhaltensweisen, nicht auf konkrete Erinnerungen daran.
Laut Zeugin hat sie den einzigen funktionsfähigen Schlüssel bei sich, wenn sie sich an ihrer Arbeitsstelle befindet. Wenn sie von ihrer Arbeitsstelle gegen ca. 16.15 Uhr nach Hause komme, leere sie den Briefkasten. Zu diesem Zeitpunkt sei die Post auch immer schon eingetroffen.
Die Zeugin konnte sich vorliegend aber z.B. letztlich nicht mehr konkret daran erinnern, ob sie tatsächlich auch am Freitag, dem 28.09.2018, noch den Briefkasten gegen 16.15 Uhr geöffnet hat, sondern glaubt nur, dies getan zu haben, weil sie es immer so mache. Entsprechend konnte sie auch nicht konkret angeben, welche Post sich an diesen Tagen im Briefkasten befunden hat. Auch war sie in den Folgetagen krank, so dass es nicht ausschließbar ist, dass sie an den letzten Arbeitstagen zuvor von ihrer Routine abgewichen ist.
Für Samstag, den 29.09.2018, vermutete die Zeugin selbst, die Post nicht geholt zu haben, da sie zu diesem Zeitpunkt schon krank und zu Hause gewesen sei.
Soweit sie zu Hause ist, ist der Schlüsselbund nach Aussage der Zeugin auch der Mutter frei zugänglich. Ihre Mutter könnte also, ohne dass die Zeugin davon wusste, am Samstag die Post von Freitag und Samstag aus den Briefkasten geholt haben.
Am 1. und 2. Oktober 2018 war die Zeugin nach den Ausdrucken ihres Arbeitgebers (Anlage zu Bl. 103/112) krank gewesen ist. Sie sei damals also zu Hause, aber nicht bettlägerig gewesen, sonder in der Lage gewesen, spazieren zu gehen, was sie auch getan habe. Dabei schaue sie auch in den Briefkasten. Die Zeugin war sich dann aber nicht mehr sicher, ob sie bereits am 01.10.2018 hinausgegangen ist und dabei den Briefkasten geleert hat. Sicher habe sie dies jedenfalls am 02.10.2018 getan. Sie gebe dann der Mutter die Post und öffne sie nicht mit ihr gemeinsam. Die Zeugin hatte also die Schreiben, die sie ihrer Mutter aushändigte, nicht selbst gelesen.
Auch die Behauptung, das Widerspruchsschreiben am 02.10.2018 aus dem Briefkasten genommen zu haben, entspricht also im Wesentlichen einer Rekonstruktion. Ihre Mutter hatte ihr ein Widerspruchsschreiben auch nicht unmittelbar nach Erhalt gezeigt oder im Einzelnen konkret mit ihr damals über das Schreiben gesprochen. Vielmehr erinnert sich die Zeugin lediglich daran, am 02.10.2018 Post aus dem Briefkasten geholt und ihrer Mutter gegeben zu haben, die dann zeitlich nachfolgend in einem anderen Zimmer, aber von der Zeugin hörbar, gestöhnt habe: „Ach, das Widerspruchsschreiben“. Dies könnte bedeuten, dass das Widerspruchsschreiben tatsächlich erst in den ersten Oktobertagen zugegangen ist. Diese Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend.
Vielleicht hatte ihre Mutter sich damals nur daran erinnert, dass sie auch ihre Post von den Vortagen noch nicht geöffnet hatte, oder die Zeugin und ihre Mutter hatten die Post seit Freitag bis zum 02.10.2018 nicht aus dem Briefkasten geholt und die Klägerin deswegen erst am 2.10.2018 das Widerspruchsschreiben gelesen.
Die Anscheindsvermutung is damit nicht ausreichend widerlegt.
Von einer Verfristung des Widerspruchs kann daher nicht ausgegangen werden.
b) Härtegründe
Unter einer „Härte“ sind alle Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art zu verstehen, die infolge der Vertragsbeendigung auftreten. Es genügt, wenn solche Nachteile mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Dabei sind die Interessen beider Seiten zu berücksichtigen und abzuwägen.
Vorliegend war auf Seiten der Klägerin zu berücksichtigen, dass sie die Wohnung dringend für ihren Sohn benötigt, da dieser aus finanziellen Gründen und den gerichtsbekannten Schwierigkeiten auf dem Münchner Wohnungsmarkt derzeit keine Wohnung findet, in der er angemessen unterkommen und sein gerichtlich erfochtenes Umgangsrecht mit seinem kleinen Sohn besser verwirklichen könnte. Grundsätzlich kann es der Klägerin daher nicht verwehrt werden, dem Sohn hierfür die in ihrem Eigentum stehende streitgegenständliche Wohnung anzubieten.
Auf der anderen Seite war die gerichtsbekannte Schwierigkeit, in München eine Ersatzwohnung zu finden, auch auf Seiten des Beklagten zu berücksichtigen.
Der Härtegrund des fehlenden Ersatzwohnraums ist unter § 574 Abs. 2 BGB sogar ausdrücklich gesetzlich geregelt.
Ein Härtegrund liegt jedenfalls dann vor, wenn der Mieter seiner Obliegenheitspflicht nachkommt, indem er alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zur Erlangung einer Ersatzwohnung ergreift. Die Obliegenheit beginnt nach herrschender Meinung grundsätzlich mit dem Zugang der Kündigung (Schmidt-Futterer, Mietrecht, 14. Aufl., 2019, § 574, Rn. 31). Der Umfang der Ersatzraumsuche richtet sich zum einen nach den Gegebenheiten des Wohnungsmarktes, insbesondere nach dem Wohnungsangebot und den Marktchancen des Mieters. Zum anderen sind aber auch die persönlichen Verhältnisse des Mieters zu berücksichtigen. Vorliegend hat der Beklagte bisher noch keine ausreichenden Bemühungen unternommen, eine Ersatzwohnung zu finden.
Zwar ist der Beklagte nicht im Besitz eines Computers und altersbedingt selbst wohl nicht mehr in der Lage, im Internet nach Wohnungen zu suchen, was seine Erfolgschancen naturgemäß stark einschränkt. Hierzu hat er von dem ihm bekannten Pfarrer sowie Beschäftigen des Seniorentreffs Hilfe angenommen, was nach der Aussage des Pfarrers aber bisher nicht zum Erfolg gefuhrt hat. Dieser kann für die Tätigkeit aber auch nur zeitlich begrenzt zur Verfügung stehen. Selbst hat der Beklagte nicht inseriert. Großvermieter wie die Gewofag u.ä. hat der Beklagte nicht angeschrieben.
Auch bei Altersheimen hat er sich kaum beworben und Unterstützung bei der Wohnungssuche durch die Klägerin und ihren Sohn hat er nicht angenommen. Ebensowenig hat der Beklagte einen Makler beauftragt.
Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass er – bei ausreichenden Bemühungen – eine Ersatzwohnung gefunden hätte.
Die Behauptung des Mietervereins und des Beklagtenvertreters, dass man ab einem bestimmten Alter generell keine Wohnung mehr findet, wurde nicht belegt und ist auch nicht gerichtsbekannt. Vor allem, wenn es sich – wie hier – um einen ruhigen Mieter mit dauerhaft gesichertem Einkommen handelt, das es ihm ermöglicht, für eine 1,5 – bis 2-Zimmerwohnung bis zu 1.100 € warm zu zahlen, und die bisherige Vermieterin bestätigt, dass das Mietverhältnis nur wegen Eigenbedarf und nicht wegen irgendwelcher Vertragspflichtverletzungen gekündigt wurde, erscheint es durchaus möglich, eine neue Mietwohnung und diese auch im Stadtviertel Neuperlach oder angrenzenden Vierteln zu finden. Derzeit ist der Beklagte auch noch ausreichend mobil, um andere Stadtteile aufzusuchen.
Auch wenn man weiter berücksichtigt, dass es sich im Fall des Beklagten auf Grund seines hohen Alters empfiehlt, nur eine Wohnung im Erdgeschoss oder in einem Haus mit Aufzug anzumieten, und dies den Kreis der möglichen Ersatzwohnungen einschränkt, erscheint der Erfolg einer derartigen Wohnungssuche nicht unmöglich.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass auch die streitgegenständliche Wohnung nicht im Erdgeschoss liegt und der Beklagte trotz eines Aufzuges, um in seine Wohnung oder in den Keller zu gelangen, Treppen überwinden muss.
Andererseits war zu berücksichtigen, dass der Sohn der Klägerin gesundheitlich nicht eingeschränkt und für den Umgang mit seinem Sohn auch nicht auf eine Erdgeschosswohnung oder eine Wohnung in einem Haus mit Lift angewiesen ist. Allerdings ist er nach seinen glaubwürdigen Angaben nur in der Lage, ca. 800 bis 1.000 € warm für eine Wohnung zu bezahlen, und wegen des Umgangsrechts müsste er zumindest eine 2-3-Zimmerwohnung anmieten. Dies schrankt seine Erfolgschancen aus dem schwierigen Münchner Mietwohnungsmarkt erheblich ein Zugunsten des Beklagten war weiter zu berücksichtigen, dass der Beklagte bereits seit 01.11.1975 (Beginn des Mietverhältnisses), d.h. schon seit über 40 Jahren in der streitgegenständlichen Wohnung wohnt.
Die Beweisaufnahme hat auch zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der Beklagte entsprechend dieser langen Wohndauer in dem Viertel Neuperlach stark verwurzelt ist. So hat z.B. die Sozialpädagogin … in ihrer Zeugenvernehmung glaubwürdig und glaubhaft bestätigt, dass der Beklagte schon seit 10 Jahren an dem Seniorenmittagessen in Neuperlach teilnimmt und dort integriert ist. Er hat bei dem Treffen Freunde und Bekannte, während keine Verwandten mehr anzutreffen sind. Auch die Lätarekirche, die in der Nähe liegt, sucht er regelmäßig auf. Viele Personen vom Seniorentreff tun dies ebenfalls. Der Pfarrer und eine Kollegin der Zeugin helfen dem Beklagten bei der Wohnungssuche. Der Beklagte führt auch Hunde aus der Nachbarschaft aus. Den Friedhof, auf dem seine Frau begraben ist, kann er mit dem Bus erreichen, dessen Haltestelle direkt vor Ort liegt.
Der Umstand, dass der Beklagte am 23.11.2019 90 Jahre alt wird, stellt für sich allein keine Härte dar. Ein rüstiger Mieter mit ausreichendem Einkommen wird auch im höheren Lebensalter eine Wohnung finden. Vorliegend ist der Beklagte allerdings aufgrund der sehr langen Wohndauer und dort gepflegten Beziehungen in der jetzigen Wohngegend in besonders starkem Maße verwurzelt, so dass es für ihn eine weit größere Härte darstellt, das Wohnviertel zu wechseln, als z.B. für den Sohn der Klägerin.
Letztlich war in der Abwägung ausschlaggebend das Ergebnis des überzeugenden schriftlichen Gutachtens des vom Gericht bestellten Sachverständigen Dr. med. ….
Danach wurde der psychische Gesundheitszustand des Beklagten schon als Folge der Kündigung erheblich beeinträchtigt. Hierdurch hat sich eine mittelschwere depressive Episode manifestiert. Durch einen Umzug würde sich sein psychisches Befinden aller Wahrscheinlichkeit nach noch weiter verschlechtern, bis hin zu einer schweren depressiven Episode, bei der auch ein Suizid nicht ausgeschlossen werden kann.
Zwar hatte der Beklagte in der ersten Gerichtsverhandlung noch einen wenig angegriffenen Zustand gezeigt und auch gegenüber der Presse Interviews gegeben und Fotos von sich veröffentlichen lassen, die ihn eher stabil zeigten. Dieser Eindruck ist aber nur vordergründig und schließt die vom Gutachter festgestellte Depression nicht aus. Der Sachverständige führt in seinem Gutachten aus, dass der Ausprägungsgrad seiner Beschwerden höher ist, als der Beklagte ihm gegenüber angab. Zu keinem Zeitpunkt der Untersuchung bestand ein Anhaltspunkt, dass der Beklagte seine Beschwerden stärker beschreiben würde als sie vorliegen oder gar simulieren würde.
Seine Gemütslage wirkte gegenüber dem Sachverständigen vielmehr tatsächlich gedrückt, traurig und pessimistisch. Der Beklagte berichtete über ein Gefühl der Überforderung und einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls sowie ausgeprägter Zukunftsängste. Für den Fall, dass er aus seiner Wohnung ausziehen müsste, wird konkret der Suizid erwogen. Weitere Auffälligkeiten ergaben sich für den Sachverständigen aus den Durchschlafstörungen und einem Gewichtsverlust trotz subjektiv normalem Appetit. Der Gewichtsverlust wurde vom Klägervertreter zwar bestritten und vom Sachverständigen auch nicht durch Messung überprüft, zumal dies dem Sachverständigen ohnehin nur bzgl. des aktuellen Zustands möglich gewesen wäre. Der gerichtsbekannt sehr erfahrene und sorgfältige Sachverständige hat aber nachvollziehbar dargelegt, dass er bei seiner Anamnese keinerlei Anhaltspunkte dafür gefunden, dass der Beklagte Beschwerden simuliert oder übertrieben darstellt. Der Beklagte zeigte gegenüber dem Sachverständigen einen reduzierten Antrieb. Auf körperlichem Gebiet wurde eine Störung des Gehens geschildert, verbunden mit der Angst vor Stürzen. Der Sachverständige stellte beim Beklagten eine Konzentrationsstörung, eine gedrückte und pessimistische Affektlage, einen reduzierten Antrieb, Gefühle der Überforderung und des reduzierten Selbstwerts, Zukunftsängste und Schlafstörungen fest. Bei dem Beklagten ist nach der Diagnose des Sachverständigen nach der Kündigung vom Februar 2018 erstmals eine manifeste mittelschwere depressive Symptomatik aufgetreten, wofür offensichtlich die Kündigung ursächlich war, nachdem bei dem Beklagten zuvor, trotz verschiedener Belastungen, wie z.B. das Versterben seiner Frau, derartige Beschwerdebilder nicht aufgetreten sind. Das Beschwerdebild ist allein die Folge der Befürchtung, die Wohnung verlieren zu können. Bei einer derartigen Konstellation nimmt nach allgemeiner psychiatrischer Erfahrung die Symptomatik noch erheblich zu, wenn der zuvor befürchtete Vorgang tatsächlich eintritt. Im Fall des Beklagten würde daher ein Umzug, den er ablehnt und der daher nur im Rahmen einer Räumung erfolgen könnte, aller Voraussicht nach zu einer deutlichen Verschlechterung seiner psychischen Befindlichkeit führen. Im Einzelnen wäre eine Zunahme der Depression bis hin zur Verzweiflung, zu einer schweren depressiven Episode, zu erwarten. Das exakte Ausmaß der Gefahr, dass er seine Ankündigung in die Tat umsetzt, im Falle einer Räumung eine Suizidhandlung vorzunehmen, lässt sich zwar kaum festlegen. Es gibt keine gesicherten wissenschaftlichen Kriterien für das Risiko im konkreten Einzelfall. Nach Untersuchungen findet sich allerdings bei Männern über 60 Jahren, insbesondere aber über 80 Jahren, ein dramatischer Anstieg von Suiziden. Männer in den Altersgruppen von 85 bis 90 Jahren weisen mit knapp 75 Suiziden pro 100.000 Einwohnern die höchste Suizidrate auf.
Faktoren hierzu sind insbesondere, dass ein Mensch ausgesprochen hoffnungslos wirkt, keine Zukunftsperspektiven hat und den Konflikt, der zu Suizidideen führt, nicht gelöst hat. Als Risikogruppen gelten insbesondere ältere, alleinstehende Männer mit psychischen Erkrankungen wie z.B. einer Depression.
Zwar ist bei dem Beklagten ein wesentlicher Risikofaktor nicht vorhanden, da er noch nie einen Suizidversuch unternommen hat und auch in seiner Familie derartige Versuche nicht stattfanden, aber es handelt sich bei ihm um einen alten, alleinstehenden Mann mit einer depressiven Episode und einem ungelösten Problem, nämlich dem Verlust seiner Wohnung und seines Lebensmittelpunktes. Er ist daher als erheblich gefährdet anzusehen.
Unter Berücksichtigung dieser Gefährdung ist eine Räumung der Wohnung für den Beklagten nicht zumutbar.
Die Klage auf Räumung und Herausgabe der Wohnung war daher abzuweisen.
Nachdem auch nicht absehbar ist, ob und wann die festgestellte Gefährdung nicht mehr besteht, war das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach §§ 708, 711 ZPO.
Die Streitwertfestsetzung erging nach § 41 Abs. 5 GKG.


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