Patent- und Markenrecht

Markenbeschwerdeverfahren – “OpenVirtue” – kein Freihaltungsbedürfnis – Unterscheidungskraft

Aktenzeichen  30 W (pat) 110/09

Datum:
17.2.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Gerichtsort:
München
Dokumenttyp:
Beschluss
Normen:
§ 8 Abs 2 Nr 1 MarkenG
§ 8 Abs 2 Nr 2 MarkenG
Spruchkörper:
30. Senat

Tenor

In der Beschwerdesache
betreffend die Markenanmeldung 30 2008 050 300.9
hat der 30. Senat (Marken-Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts in der Sitzung vom 17. Februar 2011 unter Mitwirkung…
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Anmelderin werden die Beschlüsse der Markenstelle für Klasse 9 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 15. Januar 2009 und vom 31. Juli 2009 aufgehoben.

Gründe

I.
1
Zur Eintragung als Wortmarke in das Markenregister angemeldet worden ist die Bezeichnung
2
OpenVirtue
3
für die Waren und Dienstleistungen:
4
“Computer, Computerprogramme und Software, Datenträger; schriftliches Begleitmaterial für Computerprogramme und Software, nämlich Dokumentationen, Handbücher, Kataloge, Broschüren, Bedienungsanweisungen und Arbeitsanweisungen; Einweisung (Schulung) in die Anwendung von Computerprogrammen; Anpassung, Installation, Wartung und Reparatur von Software und Computerprogrammen; Entwicklung, Design und Erstellung von Computerprogrammen und Software”.
5
Die Markenstelle für Klasse 9 des Deutschen Patent- und Markenamtes hat die Anmeldung in zwei Beschlüssen – einer davon ist im Erinnerungsverfahren ergangen – wegen fehlender Unterscheidungskraft zurückgewiesen, da es sich hierbei um eine Werbeaussage mit der Bedeutung “ein für jedermann zugänglicher Vorteil” handle. Der Erinnerungsprüfer hat ergänzend ausgeführt, dass der Verkehr auch dann, wenn er den Bestandteil “Open” der angemeldeten Bezeichnung nicht im Sinne von “für jedermann zugänglich” verstehe, sondern auf Grund der Übung auf dem hier einschlägigen IT-Sektor als Hinweis darauf sehen sollte, dass die angemeldeten Waren und Dienstleistungen so genannte Open Source Technologien/Programme beträfen oder zum Gegenstand hätten, er in der angemeldeten Bezeichnung “OpenVirtue” gleichwohl einen werblich anpreisenden Hinweis und keinen Herkunftshinweis sehe. Der Verkehr werde dies in dem Sinne verstehen, dass die angemeldeten Waren und Dienstleistungen derartige Open Source Technologien beträfen und geeignet seien, dem Abnehmer einen Vorteil zu verschaffen, also besser seien als Waren und Dienstleistungen anderer Anbieter.
6
Die Anmelderin hat Beschwerde eingelegt und im Wesentlichen ausgeführt, der Begriff “OpenVirtue” sei weder für die inländischen noch für die englischsprachigen Verkehrskreise gebräuchlich. Da der Bestandteil “Virtue” in erster Linie die Bedeutung “Wert” oder “Wirkung” habe, könne “OpenVirtue” nicht den von der Markenstelle angenommenen einzigen Gesamtbedeutungsgehalt haben.
7
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
8
Die zulässige Beschwerde der Anmelderin hat auch in der Sache Erfolg. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Eintragungshindernisse des § 8 Abs. 2 Nr. 1 und 2 MarkenG bestehen.
9
Insbesondere kann der angemeldeten Bezeichnung nicht jegliche Unterscheidungskraft gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG abgesprochen werden.
10
1. Unterscheidungskraft im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG ist nach ständiger Rechtsprechung im Hinblick auf die Hauptfunktion einer Marke, die Ursprungsidentität der gekennzeichneten Waren bzw. Dienstleistungen zu gewährleisten, die einer Marke innewohnende (konkrete) Eignung, vom Verkehr als Unterscheidungsmittel für die von der Marke erfassten Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens gegenüber solchen anderer Unternehmen aufgefasst zu werden (vgl. EuGH GRUR 2010, 228 RdNr. 33 – Audi (Vorsprung durch Technik); GRUR 2006, 220 RdNr. 27 – BioID; BGH GRUR 2010, 935 RdNr. 8 – Die Vision; GRUR 2010, 138 RdNr. 23 – ROCHER-Kugel; GRUR 2006, 850, 854 RdNr. 18 – FUSSBALL WM 2006; MarkenR 2004, 39 – City Service). Die Unterscheidungskraft einer Marke ist dabei zum einen in Bezug auf die genannten Waren oder Dienstleistungen und zum anderen im Hinblick auf die Anschauung der maßgeblichen Verkehrskreise zu beurteilen, die sich aus den durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchern dieser Waren oder Durchschnittsempfängern dieser Dienstleistungen zusammensetzen (vgl. EuGH GRUR 2008, 608 – EUROHYPO; MarkenR 2004, 99 – Postkantoor; BGH GRUR 2009, 411 – STREETBALL).
11
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sind Wortmarken nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG wegen fehlender Unterscheidungskraft von der Eintragung ausgeschlossen, wenn ihnen entweder ein für die fraglichen Waren und Dienstleistungen im Vordergrund stehender beschreibender Begriffsgehalt zugeordnet werden kann (BGH GRUR 2005, 417, 418 – Berlin Card; GRUR 2001, 1151, 1152 – marktfrisch) oder wenn es sich um beschreibende Angaben handelt, die sich auf Umstände beziehen, welche die beanspruchten Waren und Dienstleistungen zwar nicht unmittelbar betreffen, durch die aber ein enger beschreibender Bezug zu diesen hergestellt wird (vgl. BGH GRUR 2010, 1100 RdNr. 23 – TOOOR!; GRUR  2009, 411 RdNr. 9 – STREETBALL; GRUR 2006, 850 RdNr. 19 – FUSSBALL WM 2006; GRUR 1998, 465, 468 – Bonus).
12
Bei der Prüfung ist nach der Rechtsprechung des BGH von einem großzügigen Maßstab auszugehen, d. h. jede noch so geringe Unterscheidungskraft reicht aus, um das Schutzhindernis zu überwinden (vgl. BGH GRUR 2001, 1151 – marktfrisch). Allerdings darf die Prüfung dabei nicht auf ein Mindestmaß beschränkt werden, sondern sie muss vielmehr gründlich und vollständig ausfallen (vgl. EuGH WRP 2003, 735 – Libertel-Orange; a. a. O. – Postkantoor).
13
2. Nach diesen Grundsätzen verfügt die angemeldete Bezeichnung “OpenVirtue” über die erforderliche Unterscheidungskraft.
14
Das englische Wort “Open” hat im Deutschen die Bedeutung “offen” und ist im Computer- und IT-Bereich eine Fachbezeichnung, die je nach Sachzusammenhang entweder im Sinne von “jedermann zugänglich” oder im Sinne von “system-, hersteller- bzw. plattformunabhängig” zu verstehen ist (vgl. BPatG, 24 W (pat) 197/03 – b2b-open unter “Entscheidungen” auf der Internetseite des Gerichts). “Open” bezeichnet in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit, bei Datenverarbeitungs- und Kommunikationssystemen Standards und Schnittstellen möglichst weitgehend offen zu halten, bzw. den Hinweis auf ein Produkt mit frei verfügbarem Quellcode (vgl. 27 W (pat) 197/03 – openCTI unter “Entscheidungen” auf der Internetseite des Gerichts). Dementsprechend sind in diesem Bereich Zusammensetzungen bekannt wie z. B. “Open Source” für ein frei zugängliches und veränderbares Programm mit Quellcode (vgl. Computerlexikon unter www.computerlexikon.com).
15
Das englische Wort “Virtue” bedeutet in erster Linie “Tugend” (vgl. Duden-Oxford-Großwörterbuch Englisch 3. Aufl. Mannheim 2005 (CD-ROM). Mit dem Begriff “Tugend” bezeichnet man eine allgemein als hochwertig anerkannte Eigenschaft oder Haltung eines Menschen (vgl. unter “Tugend” Wiktionary.org). Mit dem Wort “Virtue” in der Bedeutung “Tugend” für den Besitz einer positiven (menschlichen) Eigenschaft kann in Bezug auf die hier beanspruchten Waren und Dienstleistungen weder ein im Vordergrund stehender beschreibender Begriffsgehalt festgestellt, noch kann damit ein enger beschreibender Bezug zu diesen hergestellt werden.
16
Zwar besteht als weitere Übersetzungsmöglichkeit des englischen Wortes “virtue” die an zweiter Stelle genannte Bedeutung “Vorteil, Vorzug” (vgl. Duden-Oxford-Großwörterbuch Englisch 3. Aufl. Mannheim 2005 (CD-ROM)); dabei handelt es sich jedoch um eine nachgeordnete Bedeutung. So ist nicht feststellbar, dass das Wort “virtue” insbesondere im hier vorliegenden technischen Bereich in der Bedeutung “Vorteil” überhaupt verwendet wird. Gegen eine naheliegende Übersetzung mit der Bedeutung “Vorteil” spricht weiter, dass das deutsche Wort “Vorteil” im Englischen wiederum vorrangig mit dem englischen Wort “advantage” übersetzt wird (vgl. Duden-Oxford-Großwörterbuch Englisch 3. Aufl. Mannheim 2005 (CD-ROM)). Grundsätzlich sind aber nur dem inländischen Verbraucher naheliegende Übersetzungen zu berücksichtigen (vgl. Ströbele/Hacker, MarkenG, 9. Aufl., § 8 RdNr. 110; auch BGH GRUR 89, 666, 667 – Sleepover; BPatG GRUR 1996, 408, 409f – COSA NOSTRA; GRUR 1998, 399, 400 – Rack-Wall). Zudem muss ein der Annahme der Unterscheidungskraft entgegenstehender Aussagegehalt einer Bezeichnung so deutlich und unmissverständlich hervortreten, dass er für die beteiligten Verkehrskreise unmittelbar und ohne weiteres Nachdenken erkennbar ist (vgl. Ströbele/Hacker, a. a. O., § 8 RdNr. 87, 118 m. w. N.). Die angesprochenen Verkehrskreise werden das Wort “virtue” ohne weiteres und naheliegend nur in der Bedeutung “Tugend” verstehen, ein Verständnis im Sinne von “Vorteil” ist fernliegend und käme nur zustande aufgrund komplexer gedanklicher Schlussfolgerungen, also nach analysierender, möglichen Bestandteilen und deren (beschreibenden) Begriffbedeutungen nachgehender Betrachtungsweise (vgl. BGH GRUR 2001, 162, 163 – RATIONAL SOFTWARE CORPORATION).
17
Die angemeldete Bezeichnung “OpenVirtue” in ihrer Gesamtheit wird vom angesprochenen Verkehr daher mit “offene Tugend” übersetzt werden, ohne dass sich damit ein bestimmter Sinngehalt feststellen ließe. Auch wenn man dem englischen Wort “open” die im Computerbereich gängige Bedeutung von “frei zugänglich” zugrundelegt, ergibt die Verbindung mit dem Begriff “virtue”, der die positive – menschliche – Eigenschaft beschreibt, keinen vernünftigen Sinn. Der Kombination “OpenVirtue” kann daher für die beanspruchten Waren und Dienstleistungen kein naheliegender beschreibender Aussagehalt entnommen werden, auch ein enger beschreibender Bezug lässt sich nicht feststellen.
18
Da sich ein deutlich und unmissverständlich beschreibender Aussagegehalt der angemeldeten Bezeichnung “OpenVirtue” nicht feststellen lässt, steht auch der Eintragungsversagungsgrund des § 8 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG nicht entgegen.
19
Die Beschwerde hat daher Erfolg.


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