Patent- und Markenrecht

(Patentnichtigkeitsklageverfahren – “Lacosamid” – Inanspruchnahme der Priorität aus einer Voranmeldung – zur Übertragung des Prioritätsrechts – zur Wirksamkeit einer nach Art. 87 EuPatÜbk in Anspruch genommenen Priorität – maßgeblich ist, ob der Erstanmelder dem Rechtsnachfolger das Recht auf Erteilung des Patents wirksam vermitteln konnte – zu rechtlichen Möglichkeiten bei Fehlzuordnungen – bei erloschenem Grundpatent erweist sich ein angegriffenes ergänzendes Schutzzertifikat bereits dann als uneingeschränkt bestandskräftig, wenn es nur von einem Patentanspruch der Anspruchsfassung getragen wird – die als Goldstandard bezeichnete Qualität einer neuheitsschädlichen Offenbarung erfährt für die Anforderungen der Offenbarung eines Stereoisomers keine Besonderheiten – zur neuheitsschädliche Offenbarung – zum Erfordernis, dass das Heranziehen einer bestimmten technischen Lehre als Ausgangspunkt der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit der Rechtfertigung bedarf – sprachliche Unterscheidung zwischen einer technischen Lehre als “Ausgangspunkt” des weiter zu bildenden Stands der Technik und ihrer Bedeutung als Lösungselement)

Aktenzeichen  4 Ni 73/17

Datum:
12.9.2019
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Gerichtsort:
München
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BPatG:2019:120919U4Ni73.17.0
Normen:
Art 15 Abs 1 Buchst c EGV 469/2009
§ 81 Abs 1 S 3 PatG
Art 54 EuPatÜbk
Art 56 EuPatÜbk
Art 87 EuPatÜbk
Spruchkörper:
4. Senat

Leitsatz

Lacosamid
1. Für die Wirksamkeit einer nach Art. 87 EPÜ (juris-Abkürzung: EuPatÜbk) in Anspruch genommenen Priorität kommt es bei der Prüfung des mangels Patentfähigkeit angegriffenen Streitpatents im Falle einer geschäftlichen Rechtsnachfolge – ebenso wenig wie im Falle eines identischen Vor- und Nachanmelders – nicht darauf an, ober der das Prioritätsrecht übertragende Erstanmelder zur Übertragung berechtigt war und diesem das Recht am Patent zustand. Allein maßgeblich ist, ob der Erstanmelder den formalen Erfordernissen des Art. 87 EPÜ folgend dem Rechtsnachfolger das aus der Erstanmeldung resultierende Recht auf Erteilung des Patents wirksam vermitteln konnte. Fehlzuordnungen können beim erteilten Patent nur im Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren nach §§ 21 I, 22 PatG (widerrechtliche Entnahme) oder betreffend EPÜ-Patente über Art. 60 (unberechtigter Anmelder) bzw. über Vindikationsansprüche (§ 8 PatG) oder im Anmeldeverfahren durch Unterlassungsklage, einstweilige Verfügung oder Übertragung der Anmeldung etc. geltend gemacht werden.
2. Ein mit der Nichtigkeitsklage angegriffenes ergänzendes Schutzzertifikat bei erloschenem Grundpatent erweist sich bereits dann als uneingeschränkt bestandskräftig, wenn es nur von einem Patentanspruch der Anspruchsfassung getragen wird, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen abhängigen oder nebengeordneten Anspruch handelt und unabhängig davon, ob der Patentinhaber eine entsprechende Selbstbeschränkung auf diesen Anspruch durch Haupt- oder Hilfsanträge vornimmt.
3. Die in der Rechtsprechung geforderte und als Goldstandard bezeichnete Qualität einer neuheitsschädlichen Offenbarung, welche unmittelbar und eindeutig sein muss und in individualisierter Form erfolgen muss, erfährt für die Anforderungen der Offenbarung eines Stereoisomers keine Besonderheiten, hier der enantiomeren Form von Lacosamid. Eine explizite Nennung des konkreten Stereoisomers ist deshalb nicht zwingend erforderlich.
Es ist insoweit für eine neuheitsschädliche Offenbarung ausreichend, wenn in einer Schrift, die eine Vielzahl von asymmetrischen Kohlenstoffverbindungen auf ihre Geeignetheit für eine arzneiliche Verwendung (hier als antikonvulsive Wirkstoffe) diskutiert und insoweit nicht nur allgemein die Bedeutung ihrer Chiralität anspricht, sondern auch einzelne Racemate und Enantiomere ausdrücklich in den Fokus für eine medizinische Verwendung als Arzneimittel nimmt, dem Fachmann sich die Enantiomere unmittelbar erschließen. Dies gilt dann, sofern auch die Herstellbarkeit der in der Schrift nicht ausdrücklich genannten enantiomeren Form, hier von Lacosamid, für den Fachmann im Prioritätszeitpunkt allein aufgrund seines Fachwissens ohne weiteres möglich war (Abgrenzung von BGH GRUR 2010, 12 – Escitalopram).
Die neuheitsschädliche Offenbarung eines Stoffes als solcher ist von seiner – hier zu verneinenden – Offenbarung als bereit zu stellendes Arzneimittel zu unterscheiden. Ob eine solche Bereitstellung für den Fachmann nahelag, ist im Rahmen der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit zu hinterfragen.
4. Für das Erfordernis, dass das Heranziehen einer bestimmten technischen Lehre als Ausgangspunkt der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit der Rechtfertigung bedarf, insbesondere wenn sich diese rückschauend als nächstliegend zum Erfindungsgegenstand erweist, erscheint es – ebenso wie zur korrekten Formulierung der objektiven Aufgabe – sinnvoll, sprachlich zwischen einer technischen Lehre als “Ausgangspunkt” des weiter zu bildenden Stands der Technik und ihrer Bedeutung als Lösungselement – als “Sprungbrett” – zu unterscheiden.

Tenor

In der Patentnichtigkeitssache

betreffend das ergänzende Schutzzertifikat (SPC) DE 12 2009 000 010
hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung am 12. September 2019 durch den Vorsitzenden Richter Engels, die Richterinnen Kopacek und Dipl.-Phys. Univ. Zimmerer sowie die Richter Dipl.-Chem. Univ. Dr. Wismeth und Dipl.-Chem. Univ. Dr. Freudenreich
für Recht erkannt:
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des mit der vorliegenden Klage angegriffenen ergänzenden Schutzzertifikats 12 2009 000 010 (Streitzertifikat), das am 7. April 2010 für
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Lacosamid
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erteilt worden ist, mit einer Laufzeit bis zum 17. März 2022.
4
Das Streitzertifikat betrifft gemäß deutscher Übersetzung „Krampflösende, Enantiomere Aminosäure-Derivate“ und nimmt Bezug auf die Europäische Zulassung EU/1/08/470/001-016 vom 29. August 2008, welche sich auf das Arzneimittel „Vimpat“ bezieht, das Lacosamid als Wirkstoff enthält.
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Das Streitzertifikat basiert auf dem deutschen Teil DE 697 05 210 des von der Beklagten am 17. März 1997 als internationale Patentanmeldung WO 97/33861 unter Beanspruchung der Priorität der US-Patentanmeldung US13522P vom 15. März 1996 angemeldeten und mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents EP 0 888 289 B1 (Grundpatent). Dieses bezieht sich auf Enantiomer-Verbindungen und pharmazeutische Zusammensetzungen zur Behandlung von Epilepsie und anderen ZNS-Fehlfunktionen. Bei dem Wirkstoff Lacosamid, welcher Gegenstand des Schutzzertifikats ist, handelt es sich um ein N-Benzyl-2-acetamidopropionamidderivat mit R-Konfiguration. Der chemische Name von Lacosamid nach IUPAC Nomenklatur ist „(R)-2-Acetylamino-N-benzyl-3-methoxypropanamid“.
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Die Klägerin vertritt die Auffassung, das am 11. Februar 2009 angemeldete und am 21. Oktober 2010 erteilte Streitzertifikat sei gemäß Art. 15 Abs. 1 lit. c) der Verordnung (EU) Nr. 469/2009 i.V.m. § 81 Abs. 1 S. 3 PatG für nichtig zu erklären, da der dem Grundpatent zugrunde liegende und Lacosamid betreffende Schutzgegenstand der Ansprüche 1 bis 5 und 7 bis 9 nicht neu sei und in Bezug auf Anspruch 10 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Mit Schriftsatz vom 9. Mai 2019 hat sie zudem erklärt, sich sämtliche Argumente, sämtlichen Vortrag und eingeführten Stand der Technik der nach Klagerücknahme und Verfahrenstrennung nicht mehr beteiligten vormaligen Klägerin zu 1 zu eigen zu machen.
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Die Klägerin macht im Rahmen ihres gegen die Ansprüche 1 bis 5 und 7 bis 10 des Grundpatents gerichteten Angriffs insoweit fehlende Patentfähigkeit geltend, als die Inanspruchnahme der Priorität daran scheitere, dass die Patentinhaberin als Nachanmelderin entgegen Art. 87 EPÜ nicht die Rechtsnachfolgerin des Anmelders der US-Patentanmeldung US13522P geworden sei, da dieser zur Anmeldung nicht berechtigt gewesen sei, und zudem auch keine Erfindungsidentität der Lehre von Vor- und Nachanmeldung bestehe.
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Im Einzelnen hat die Klägerin zur bestrittenen Rechtsnachfolge geltend gemacht, zwar habe der an der Universität H… tätige Prof. K… als Erfinder und Anmelder mit der nachfolgenden Übertragungserklärung sämtliche Rechte an der Erfindung, der Anmeldung einschließlich des Prioritätsrechts an die Beklagte den formalen Vorschiften des Staates Texas folgend übertragen.
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Prof. K… sei hierzu jedoch nicht berechtigt gewesen, da ihm zwar die formale Rechtsposition „bare legal title“ an der Erfindung zugestanden habe, aber der Universität H… das in der Erfindung liegende Vermögensrecht wirtschaftlich zugeordnet gewesen sei und deshalb nur diese als Inhaberin des sog. „equitable title“ das Prioritätsrecht hätte wirksam übertragen können, wie die Rahmenvereinbarung zwischen der Universität H… und R… belege. Auch ein gutgläubiger Erwerb der Beklagten („bona fide purchase“ nach 35 USC § 261) sei entgegen der im englischen Verfahren und dem Urteil des High Court of Justice vom 7. November 2017 geäußerten Rechtsansicht ausgeschlossen.
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Der von der Klägerin herangezogene Stand der Technik, der gemäß ihrer Erklärung auch den von der vormaligen Klägerin zu 1 geltend gemachten Stand der Technik berücksichtigt, umfasst im Wesentlichen die folgenden Schriften und Unterlagen:
11
D1 EP 0 888 289 B1,
12
D1a US13522P (Prioritätsdokument zu D1),
13
D3 DE 697 05 210 T2,
14
D6 Choi Daeock, Dissertation, University of Houston, Dezember 1995,
15
D6a Choi, D. et al., J. Med. Chem. 1996, 39, S. 1907-1916,
16
D7 Le Gall, P., Masterarbeit/Thesis, University of Houston, Dezember 1987,
17
D8 Kohn, H. et al., J. Med. Chem. 1990, 33, S. 919-926,
18
D9 US 5 378 729 A,
19
D10 Kohn, H. et al., J. Med. Chem. 1993, 36, S. 3350-3360,
20
D11 Kohn, H. und Conley, J.D., Chem. Brit. 1988, 24, S. 231-234,
21
D12 Kohn, H. und Conley, J.D., J. Med. Chem. 1987, 30, S. 567-574,
22
D13 Kohn, H., Conley, J.D., Leander J.D., Brain Res. 1988, 457, S. 371- 375,
23
D14 Kohn, H., et al., J. Med. Chem. 1991, 34, S. 2444-2452,
24
D15 Bardel, P., Bolanos, A., Kohn, H., J. Med. Chem. 1994, 37, S. 4567- 4571,
25
D16 Kohn, H. und Choi, D., Tetrahedron Letters 1995, 36(39), S. 7011- 7014.
26
Da das Grundpatent deshalb nur den Zeitrang des Anmeldetags vom 17. März 1997 beanspruchen könne, erweise sich nicht nur die D7 als neuheitsschädlich, sondern bereits die zum Stand der Technik zählende Dissertation D6 sowie die zugehörige Publikation D6a.
27
Jedenfalls fehle den Gegenständen der Ansprüche die erfinderische Tätigkeit gegenüber der D7. Diese möge keinen Goldstandard als Ausgangspunkt bilden, sie zeige aber im MES-Test wirksame Verbindungen. Der Fachmann werde sich insoweit nicht nur im „mainstream“ aussichtsreich gewerteter Substanzklassen bewegen und keine die D7 ungerechtfertigt ausschließende Vorselektion treffen. In der D7 würden Struktur-Wirkungsbeziehungen („Structure Activity Relations“ oder SARs) von funktionalisierten Aminosäuren („Functionalized Amino Acids“ oder FAAs) untersucht und schlüssig bewertet. Denn es würden Erklärungen für Abweichungen in der MES-Test-Wirkung bei Verbindungen mit vergleichbarer Struktur gegeben. Die Strukturen der D7 mit umfassende und auch immer wieder aufgreifende nachfolgende Publikationen der Arbeitsgruppe um Prof. K… seien nicht so sehr unterschiedlich, sondern beträfen SARs, die sternförmig von Leitstrukturen, darunter die Methyl- und Phenylderivate 68a und 68b der D7 mit MES, ED50-Werten 51 und 32 ausgingen. Für das racemische Lacosamid 107e in D7 als noch nicht untersuchte Verbindung (vgl. D7, S. 155, Z. 10-11 „not evaluated yet“) werde ausdrücklich die Aussage getroffen, dass diese Verbindung eine gute Eignung als Antikonvulsivum haben könne, so dass bei dieser klaren Empfehlung kein Grund vorliege, weshalb der Fachmann von den dann noch ausstehenden Routineversuchen hätte Abstand nehmen sollen. Die insoweit gegebenen Empfehlungen seien auch nicht fehlerhaft oder als im Prioritätszeitpunkt überholt anzusehen gewesen. Vielmehr füge sich racemisches Lacosamid bewusst in die Reihe der von der Methyl-Verbindung 68a abgeleiteten polaren Analoga nach Tab. 35 (vgl. D7, S. 132, „Introduction“) und der isomeren Alkoxyverbindungen 86a und 86b, die als vorteilhaft beschrieben würden (vgl. D7, S. 109, 1. Abs.). Da die D7 die Funktion des Sauerstoffs im aliphatischen Rest nicht bewerte (vgl. D7, S. 109, Z. 4-8), führe dies zu den Vorschlägen der in Tab. 35 gelisteten Verbindungen (vgl. D7, S. 135). Soweit die Hydroxymethyl-Verbindung 107d im Vergleich zur isomeren Methoxy-Verbindung 86a wegen ihrer Polarität als ungeeignet gewertet wird, liege kein Denkfehler darin, bei der Verbindung 107e als unpolares Isomer zur wirksamen Ethoxy-Verbindung 86b eine gute Wirkung zu vermuten. Zudem weise die D7 auf einen elektrophilen Rezeptor hin, welcher auch durch ein Sauerstoffatom mit freiem Elektronenpaar bedient werde (vgl. D7, S. 109, Z. 13-15). Dies alles weise die Verbindung 107e als aussichtsreiche Testsubstanz aus.
28
Auch die nachfolgenden Arbeiten aus der Arbeitsgruppe um Prof. K… stützten und ergänzten die bereits in D7 erzielten Ergebnisse. So bestätige die SARs von aromatisch substituierten FAAs untersuchende D8 aus dem Jahr 1990, dass elektronenreiche Substituenten in α-Position die Wirksamkeit der Verbindungen positiv beeinflussten und weise zudem auf die bessere Wirkung des R-Enantiomeren des in D7 behandelten Furanylderivats hin (vgl. D8, S. 922, re. Sp. „Conclusions“ Sätze 3-4). Die D14 aus dem Jahr 1991 betreffe SARs von FAAs mit einem funktionalisierten α-Heteroatom. Die Übersichtstabelle I der Verbindungen mit Heteroatom in der ersten (α-) und zweiten (β-) Position zum chiralen Kohlenstoff und S. 2447 („Pharmacological Evaluation“ und „Conclusions“) zeige und vermittle insbesondere durch die Verbindungen 3l und 3n, aber auch 3o die Erkenntnis, dass die aktivsten Verbindungen diejenigen mit dem Heteroatom an der zweiten (β-) Position sind. Die Bedeutung eines zwei Atome vom chiralen Kohlenstoffatom entfernten Sauerstoffatoms werde dann auch in D14 herausgestellt (vgl. D14, S. 2447, li. Sp. Z. 36-40) und der Fachmann habe erkannt, dass genau diese Methoxy- bzw. Alkoxy-Strukturelemente bei racemischen Lacosamid der D7 vorlägen. D14 belege damit den für die Wirkung als wesentlich angesehenen Umstand eines in der zweiten Position befindlichen funktionalisierten Heteroatoms, im Fall der Verbindungen 3l und 3n sogar mit derselben Methoxy-Funktionalisierung wie bei Lacosamid. Die Verbindung 3l sei auch isoster mit Lacosamid, also räumlich vergleichbar. In gleicher Weise gelange die D10 aus dem Jahr 1993 bei der Betrachtung der SARs von FAAs mit heterocyclischen Substituenten unter Verweis auf die Erkenntnisse der D14 zum Ergebnis, dass Heteroatome in der zweiten Position des Substituenten ausschlaggebend für die wirkungsstärksten Verbindungen seien (vgl. D10, S. 3354, li. Sp. vorle. Abs.), was den Ansatz der D7 bekräftige. Auch die Ergebnisse zu den dort in der Tabelle II aufgeführten aliphatischen Heterocyclen 21a, 21b belegten die Bedeutung des Heteroatoms in β-Stellung (vgl. D10, S. 3354, re. Sp. drittle. und vorle. ganzer Satz). Mit der D15 aus dem Jahr 1994 werde die verbleibende Lücke durch das Studium der SARs von FAAs mit elektronenarmen Heterocyclen als Substituenten geschlossen. Dabei seien mit den Verbindungen 11-13 der Tab. 1 in D15 auch elektronenarme Heteroaromaten als aktiv nachgewiesen, es würde jedoch als wichtiger dargelegt, dass sich das Heteroatom in der zweiten Position befinde (vgl. D15, S. 4568, Abs. li. Sp. auf re. Sp.). Auch mit dieser Arbeit werde die Lacosamid-Struktur stärker in den Fokus gerückt. Zudem finde sich ein Querverweis auf die Verbindungen 24 und 25 der D14 mit einer Alkoxyaminogruppe (vgl. D15, a.a.O.). Damit führten auch die weiteren Schriften, losgelöst voneinander, den Fachmann dazu, die ausstehenden Versuche in der D7 durchzuführen, ohne dass eine Kombination der weiteren Schriften untereinander erforderlich wäre.
29
Schließlich lehrten D8 und D14 im Einklang mit D7, dass bei dieser Verbindungsklasse die R-Enantiomere wirkungsstärker seien als die jeweiligen S-Enantiomere, mithin die antikonvulsive Aktivität hauptsächlich durch die R-Form bewirkt werde. Wie auch das Grundpatent D1 bestätige (vgl. D1, [0022-0030]), wäre der Fachmann ohne technische Schwierigkeiten und erfinderisches Zutun unter Anwendung von Routinemethoden, wie z.B. in D9 dargelegt (vgl. D9, Sp. 15 Z. 29 – Sp. 16 Z. 4), zu dem R-Enantiomer des racemischen Lacosamids gelangt und dies bereits auf Grundlage der Lehre von D7 allein, aber auch in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen oder im Lichte der nachfolgenden „K…-Veröffentlichungen“. Somit habe es am Prioritätstag nahegelegen, das in D7 beschriebene racemische Lacosamid zu untersuchen und dessen pharmakologische Wirkung mit geläufigen Routinetests zu bestätigen. Das racemische Lacosamid sei somit kein Zufallsprodukt der Lehre der D7. Denn die Empfehlung für Lacosamid werde durch den sonstigen Stand der Technik, nämlich D8, D14, D10 und D15 und die weiteren Arbeiten der Gruppe um Prof. K…, nicht entwertet.
30
Der unabhängige Anspruch 10 beziehe sich auf eine therapeutische Zusammensetzung, die eine antikonvulsiv wirksame Menge an Lacosamid und einen pharmazeutischen Träger dafür umfasse. Die Bereitstellung dieses Wirkstoffs in einer pharmazeutischen Formulierung, wie üblicherweise in der Therapie verwendet, erfordere keine erfinderische Tätigkeit.
31
Die Klägerin beantragt daher sinngemäß,
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das ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2009 000 010.9 für nichtig zu erklären.
33
Die Beklagte beantragt,
34
die Klage abzuweisen, hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit das Schutzzertifikat ausschließlich nach Anspruch 10 des Streitpatents verteidigt wird.
35
Die Beklagte stützt die Verteidigung des Grundpatents und damit des Schutzzertifikats unter anderem auf folgende Druckschriften und Unterlagen:
36
D27 [2017] EWHC 2711 (Pat) vom 7. November 2017,
37
D28 Übertragungserklärung („Assignment”) bzgl. des Prioritätsrechts von Prof. K… auf R1… vom 4. Februar 1997,
38
D33 Rahmenvereinbarung University of H… und RC, 1. Dezember 1966,
39
D45 Schreiben Prof. K… an University of H… vom 16. Februar 1996 zur Verschiebung der Veröffentlichung der Choi-Dissertation,
40
D46 Erste Stellungnahme Prof. K… vom 9. März 2017 (K… 1),
41
D47 Auszug Bibliotheks Datenbank (UH Library Catalog), University of Houston, Stand 6. Mai 2013,
42
D51 Leander, J.D. et al., Abstract, 30. März 1989, Princeton Drug Research Symposium,
43
D52 Löscher, W. und Schmidt, D., Epilepsy Research 1994, 17, S. 95- 134,
44
D57 Gutachten zu EP 0 888 289 B1, Prof. Dr. L…, 8. Mai 2018, 75 S.,
45
D58 High Court Of Justice, Claim No. HP-2016-000038, First Expert Report Prof. S. Ward, 12. Juni 2017, 60 S. und D58a als deutschsprachige Übersetzung,
46
D59 Expert Report, Prof. W.J. Wadman, 29. Juni 2018, 22 S. mit Anhang und D59a als deutsche Übersetzung,
47
D60 Expert Report, Prof. H. Overkleeft, 26. Juni 2018, 9 S. mit Anhang und D60a als deutsche Übersetzung,
48
D61 Kälviäinen, R. und Riekkinen, P.J., Exp. Opin. Invest. Drugs 1995, 4(10), S. 955-962,
49
D62 Palmer G.C. und Miller, J.A., Pharm. News 1996, 3(1), S. 7-11,
50
D63 Palmer G.C. und Miller, J.A., Pharm. News 1996, 3(2), S. 13-15,
51
D64 Sabers, A. und Gram, L., Drugs 1996, 52(4), S. 483-493,
52
D65 Walker, M.C. und Patsalos, P.N., Emerging Drugs 1996, Ashley Pub- Ltd., S. 155-175 – ISSN 1361-9195,
53
D69 Urteil der Rechtbank Den Haag vom 29. Januar 2019, Az. C/09/548431/HA ZA 18-205 und D69a als deutschsprachige Übersetzung.
54
Sie vertritt die Auffassung, das ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2009 000 010 sei rechtsbeständig, was auch im Einklang mit den entsprechenden parallelen Entscheidungen des UK High Courts (vgl. D27) und der Rechtbank Den Haag (vgl. D69(a)) stehe. Die Klage sei daher unbegründet.
55
Die Priorität und damit der Zeitrang vom 15. März 1996 des Grundpatents sei wirksam in Anspruch genommen worden. Unzutreffend sei, dass die Anmelderin im Anmeldezeitpunkt der PCT-Anmeldung, die zum Streitpatent geführt habe, nicht die Inhaberin des Prioritätsrechts gewesen sei. Die R1… sei die Rechtsnachfolgerin von Prof. K… in Bezug auf das Prioritätsrecht. Es sei davon auszugehen, dass zwischen Prof. K… und der University of H… kein schriftlicher Arbeitsvertrag bestehe, weshalb auch kein Vertrag mit speziellen Klauseln zur Inhaberschaft von geistigem Eigentum bestanden habe. Die Übertragung sei im Übrigen aber auch rechtsgültig, weil die University of H… mit ihr einverstanden gewesen sei und Prof. K… deshalb Berechtigter gewesen sei. Prof. K… habe mit R… (später R1…) zusammengearbeitet, um Patentanmeldungen im Namen der R… bzw. ab dem Jahr 1987 R1… auszuarbeiten und einzureichen. R… habe der Erfindung die Projektnummer 069-1397 zugeordnet, die kontinuierlich verwendet worden sei. Hierunter sei auch das Grundpatent gefallen. Es sei festzustellen, dass die University of H…, Prof. K… und R1… im gesamten FAAs-Projekt über Jahre zusammengearbeitet hätten und alle drei Parteien gewollt hätten, dass R1… zum Schutz der FAAs betreffenden Erfindungen Anmeldungen einreiche und im Gegenzug die Universität und den/die Erfinder an den Lizenzeinnahmen teilhaben lasse. Nach US-Recht ergebe sich aus den Umständen und den vorhergehenden Rahmenvereinbarungen zwischen Prof. K… und der University of H… ein impliziter faktischer Vertrag, nach dem Prof. K… die erforderliche Zustimmung der Universität zur wirksamen Übertragung des Prioritätsrechts an R1… besessen habe. Selbst wenn man der Auffassung wäre, dass die University of H… im Anmeldezeitpunkt der „beneficial owner“ des Prioritätsrechts gewesen sei, sei die R1… immer noch zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt, weil sie das Prioritätsrecht vom Erfinder im guten Glauben erworben habe. Auch soweit behauptet werde, der Prioritätsanspruch sei unwirksam aufgrund angeblich fehlender experimenteller Daten im Prioritätsdokument, treffe dies nicht zu.
56
Die Neuheitsangriffe der Klägerinnen seien unbegründet. Die Veröffentlichung der Dissertation D6 sei auf einen Zeitpunkt nach der Prioritätsanmeldung verschoben worden (vgl. D45, D46) und erst am 2. Juni 1997 erfolgt (vgl. D47). Auch könne die mündliche Prüfung nicht als Zugänglichmachen des Inhalts der Dissertation gesehen werden. Der D7 fehle es bereits an einer individualisierten, klaren und eindeutigen Offenbarung des (R)-Enantiomers in Verbindung mit racemischem Lacosamid 107e, wie sie sowohl das Europäische Patentamt (T 296/87) als auch der Bundesgerichtshof (vgl. BGH GRUR 2009, 382 – Olanzapin, BGH GRUR 2010, 123 – Escitalopram) in ständiger Rechtsprechung forderten.
57
Soweit die Verbindung 107e in D7 von der Klägerin als Ausgangspunkt für die Diskussion der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werde, komme dies einer rückschauenden Betrachtung gleich. Ohne rückschauende Kenntnis hätte der Fachmann diese Verbindung gerade nicht zur Bereitstellung als arzneilicher Wirkstoff weiter untersucht, geschweige denn in ihre Enantiomere aufgetrennt.
58
Bereits die Substanzklasse der FAAs zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu machen, sei aus fachlicher Sicht unbegründet, wie schon das Gutachten von Prof. W… D59a zusammenfasse (vgl. a.a.O.: Rn. 106) und die Dokumente D52 und D61 bis D65 untermauerten. Ausgangspunkt seien bekannte Antikonvulsiva und gerade nicht FAAs gewesen. Damit begründe bereits allein die Auswahl der D7 als Sprungbrett für eine Weiterentwicklung eine erfinderische Tätigkeit. Sofern sich der Fachmann den Informationen der D7 überhaupt zuwende, hätte im Prioritätszeitpunkt die Verbindung 107e die Aufmerksamkeit des Fachmanns nicht gefunden, weil zum einen nur die Verbindungen 69a, 69b als besonders wertvoll beschrieben seien und die Alkoxyverbindungen 86a, 86b wegen ihrer deutlich höheren MES ED50-Werte und damit geringen Aktivität nicht von Interesse gewesen wären, was auch Prof. L… bestätigt habe (vgl. D57, Rn. 197). Die Gruppe der Verbindungen 107a-d, zu welcher auch die Verbindung 107e zähle, zeigte noch schlechtere Werte und der Fachmann orientiere sich an MES ED50-Werten, die bei in der Praxis angewandten Medikamenten erzielt würden und wesentlich niedriger lägen. Auch empfehle die D7 gerade nicht, sich mit der Verbindung 107e zu beschäftigen, denn dazu müsste diese auch in der Zusammenfassung erwähnt sein. Insoweit belege S. 155, Abs. 2 der D7 nichts weiter, als dass der Autor augenscheinlich seine unvollständigen Ergebnisse durch Mutmaßungen auffüllen wollte. Eine Veranlassung für den Fachmann, sich mit einer Substanz zu beschäftigen, für die weder eine Untersuchung noch Versuchsergebnisse vorlägen, sei nicht zu erkennen. Auch D51 bestätige das fachmännische Interesse ausschließlich an dem Furylderivat 69a der D7.
59
Weiter erschließe sich dem Fachmann aus der Offenbarung der D7 auch keine hinreichende Erfolgserwartung, die Verbindung 107e zu untersuchen. Am Prioritätstag hätten keine genauen Kenntnisse über den verantwortlichen Rezeptor vorgelegen, der Schlüsse auf eine wirksame Struktur bei FAAs erlaubt hätte. In der D7 getroffene Annahmen (vgl. D7, Tab. 31, S. 104 und S. 109 Abs. 2), dass eine abnehmende Resonanzstabilisierung zu einer verringerten Wirkung führe, sei kein hinreichender Beleg für eine bestimmte Beschaffenheit einer Bindungsstelle und auch im Übrigen nicht fachlich überzeugend. Schließlich bestätige Prof. W… (vgl. D59a, Rn. 120), dass die Analyse der SARs allein keine hinreichenden Schlussfolgerungen zulasse und keine hinreichenden Erfolgserwartungen bestanden hätten, weder für FAAs im Allgemeinen noch speziell für die Verbindung 107e. Die Entscheidung 3 Ni 20/15 des Bundespatentgerichts vom 7. Februar 2017 stelle auf eine vergleichbare Situation ab und bestätige, dass ohne Kenntnis der Raumstruktur des Rezeptors für den Fachmann keine Erfolgserwartung bestehe, für eine Verbindung eine ausreichende Wirkung anzunehmen. Die D7 rechtfertige insoweit nicht die Annahme, dass die Verbindungen 107a-e überhaupt die Eigenschaft des gesuchten Wirkstoffs erfüllten. Die weiteren Schriften zeigten keine wesentliche strukturelle Übereinstimmung mit der hier maßgeblichen Verbindung Lacosamid, nämlich keine offenkettigen Reste mit einer aliphatischen Kohlenstoffbindung. Allein die Verbindung 107c aus D7 komme dieser am Nächsten. Dabei würden die Verbindungen 107a-e weder im Abstract noch in der Zusammenfassung von D7 erwähnt, noch sonst in irgendeiner Weise gewürdigt und erschlössen sich dem Fachmann als unwirksam. Auch aus keinem anderen der zitierten Dokumente (vgl. D8, D10 bis D15) ergebe sich eine Rechtfertigung, sich der Verbindung 107e wieder zuzuwenden. Es werde deutlich, dass ausgehend von den ersten Arbeiten, über die in D12 berichtet werde, und den darauf aufbauenden Untersuchungen in D7, die Synthese und die Testung von FAAs mit einem monozyklischen heteroaromatischen Ring am α-C-Atom im Vordergrund des Interesses in der Arbeitsgruppe um Prof. K… gestanden hätten und mit den Verbindungen 69a und 69b aus D7 die vielversprechendsten Verbindungen gefunden worden seien. Die Tatsache, dass der weit überwiegende Teil der Arbeiten der Gruppe um Prof. K… ausweislich des zitierten Stands der Technik Verbindungen mit einem (hetero-)aromatischen Rest und nicht mit einem aliphatischen Rest am α-C-Atom betreffe, und die fehlende Erfolgserwartung bzgl. eines möglichen antikonvulsiven Effekts der Verbindung 107e, seien letztlich auch in der Entscheidung des UK High Court der ausschlaggebende Grund für die Bestätigung des Nicht-Naheliegens der Bereitstellung von Lacosamid und die Abweisung der Klage dort gewesen (vgl. D27). Auch die Rechtbank Den Haag sei der Meinung gewesen, dass D7 bereits keinen geeigneten Ausgangspunkt gebildet und keine pharmakologischen Informationen zur Wirksamkeit der Verbindung 107e gegeben habe (vgl. D69(a)). Die in D7 angesprochene Ähnlichkeit der Verbindung 107e mit der Verbindung 86b wäre dem Fachmann wegen deren im Vergleich zu Phenytoin geringeren Wirksamkeit nicht vielversprechend erschienen (vgl. D58/D59). Die Klage sei daher abzuweisen.
60
Der Senat hat den Parteien einen qualifizierten Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG vom 14. Dezember 2018 zugeleitet.
61
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12. September 2019 und auf den Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe

62
Die auf den Nichtigkeitsgrund nach Art. 15 Abs. 1 lit. c der EG-VO Nr. 469/2009 i.V.m. § 81 Abs. 1 S. 3 PatG gegen das streitgegenständliche ergänzende Schutzzertifikat (ESZ) gestützte Klage ist zulässig. Sie bleibt jedoch ohne Erfolg.
63
Denn das Grundpatent, auf dem das Streitzertifikat beruht, hat Bestand, jedenfalls soweit es sich in Anspruch 10 auf Lacosamid bezieht.
I.
64
Das Grundpatent mit der Bezeichnung „ANTICONVULSANT ENANTIOMERIC AMINO ACID DERIVATIVES“ betrifft Enantiomer-Verbindungen und pharmazeutische Zusammensetzungen zur Behandlung von Epilepsie und anderen ZNS-Fehlfunktionen. Bei dem Wirkstoff Lacosamid, welcher Gegenstand des Schutzzertifikats ist, handelt es sich um ein N-Benzyl-2-acetamidopropionamidderivat mit R-Konfiguration.
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65
Lacosamid, (R)-2-Acetylamino-N-benzyl-3-methoxypropanamid
66
Das in englischer Verfahrenssprache erteilte Grundpatent umfasst 10 Ansprüche, von denen die zur Beurteilung der Bestandsfähigkeit des Streitzertifikats wesentlichen Ansprüche 1, 8 und 10 wie folgt lauten:
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67
Dabei fällt Lacosamid unter die Markush-Formel des Anspruchs 1 des Grundpatents (Ar = Phenyl, Q = Methoxy, Q1 = Methyl). Aus der Strukturformel des Anspruchs 1 geht zwar mangels räumlicher Darstellung der Bindungsverhältnisse am asymmetrischen C-Atom die absolute Konfiguration nicht hervor. Jedoch wird durch die unterhalb der Formel gelegene Angabe des Buchstabens „R“ die absolute Konfiguration am asymmetrischen α-C-Atom des substituierten Aminosäure-Rests -CO-CαH(CH2-Q)-NH- zweifelsfrei als die R-Konfiguration festgelegt. Soweit Lacosamid in den Ansprüchen 2 und 9 als im Wesentlichen enantiomerenrein beansprucht ist, sind bereits die Ansprüche 1 und 8 expressis verbis auf die R-Verbindung(en) gerichtet, wonach diese Ansprüche redundant einen nicht näher spezifizierten höheren Reinheitsgrad fordern.
68
Im Grundpatent wird u.a. ausgeführt:
69
„Unglücklicherweise wird ungeachtet der vielen verfügbaren pharmakotherapeutischen Mittel ein bedeutender Prozentsatz der Bevölkerung mit Epilepsie oder verwandten Fehlfunktionen schlecht behandelt. Weiterhin ist keine der zur Zeit verfügbaren Drogen in der Lage, eine vollständige Anfallskontrolle zu erreichen, und viele haben störende Nebenwirkungen. Es können Toxizitäten bei wiederholter Dosierung auftreten, die bei einer akuten Verabreichung nicht ersichtlich sind. Da viele Drogen, welche eine dauerhafte Verabreichung erfordern, definitiv eine zusätzliche Belastung für die Leber sind, was beispielsweise eine Leberenzyminduktion oder einen oxidativen Metabolismus, was reaktive Spezies erzeugen kann, einschließt, sind viele antikonvulsive Mittel mit einer Lebertoxizität verbunden.“ (vgl. D3, S. 3 Z. 31-S. 4 Z. 2).
70
„In der Tat kann, wenn ein antikonvulsives Mittel für eine wiederholte Dosierung bei einer Langzeit-Behandlungstherapie erforderlich ist, ein Arzt ein antikonvulsives Mittel verschreiben, das eine schwächere Aktivität, bezogen auf das zweite antikonvulsive Mittel aufweist, wenn es eine relativ geringe Toxizität bei dem Tier zeigt. Ein antikonvulsives Mittel, welches sämtliche vier Kriterien erfüllt, ist sehr selten.
71
Die vorliegenden Erfinder haben jedoch eine Gruppe von Verbindungen gefunden, die allgemein wirksam ist, eine minimale neurologische Toxizität zeigt, einen hohen Schutzindex aufweist und relativ untoxisch für die Körperorgane, einschließlich der Leber, nach mehrfachen Dosierungen ist.“ (vgl. D3, S. 4 Z. 34-S. 5 Z. 7).
72
„Diese Drogen zeigen eine hohe antikonvulsive Aktivität, eine minimale neurologische Toxizität, einen hohen P.I. und eine minimale Toxizität. Diese antikonvulsiven Mittel werden bei der Behandlungstherapie verwendet, die eine akute Dosierung und insbesondere eine andauernde Dosierung derselben für den Patienten erfordert.“ (vgl. D3, S. 5 Z. 29-32).
73
In der Streitpatentschrift ist eine Aufgabe nicht ausdrücklich formuliert. Beschrieben werden nur u.a. die oben wiedergegebenen Nachteile im Stand der Technik.
74
Als zur Problemlösung berufenen Fachmann sieht der Senat ein Team aus einem Chemiker der Fachrichtung Organische Chemie, einem Pharmakologen sowie einem in der Forschung tätigen Mediziner, das mit der Forschung nach und der Entwicklung von pharmazeutischen Wirkstoffen, insbesondere auf dem Gebiet der Neurologie, befasst und vertraut ist, insbesondere auch mit Struktur und Aktivität noch in Entwicklung befindlicher pharmazeutischer Wirkstoffe.
II.
75
1. Nach Art. 15 Abs. 1 lit. c der EG-VO Nr. 469/2009 ist ein ergänzendes Schutzzertifikat nichtig, wenn das Grundpatent für nichtig erklärt oder derartig beschränkt wird, dass das Erzeugnis, für welches das Zertifikat erteilt worden ist, nicht mehr von den Ansprüchen des Grundpatents erfasst wird, oder wenn nach Erlöschen des Grundpatents Nichtigkeitsgründe vorliegen, die die Nichtigerklärung oder Beschränkung gerechtfertigt hätten.
76
Die gegen den Bestand des Streitzertifikats gerichtete Klage ist zulässig, insbesondere auch von einem Rechtsschutzinteresse getragen, da die Klägerin ihren Angriff nicht zugleich auf das erloschene Grundpatent richtet (zur Unzulässigkeit eines derartigen Angriffs beim erloschenen Patent vgl. Hacker/Busse, PatG 9. Aufl., Anh. § 16a Rn. 156) und zudem mit dem Antrag auf Nichtigkeit die Überprüfung des Grundpatents auf alle Ansprüche erstreckt, welche Lacosamid unter Schutz stellen und deshalb geeignet sind, das Streitzertifikat zu tragen.
77
Soweit die Beklagte geltend macht, der Klagegegenstand betreffe nur bestimmte Ansprüche des Grundpatents, nämlich die Ansprüche 8, 9 und 10, soweit letzterer Lacosamid betreffe, und an der Vernichtung der weiteren Ansprüche des abgelaufenen Patents kein Rechtsschutzinteresse bestehe, stellt sich nach Ansicht des Senats die Frage genau in die andere Richtung. Nach Art. 15 Abs. 1 lit. c AM-VO ist zu klären, von welchen Ansprüchen des Grundpatents das Streitzertifikat, d.h. der angegriffene Erzeugnisschutz für den Wirkstoff „(R)-2-(Acetylamino)-N-benzyl-3-methoxypropanamid“ (Lacosamid) „erfasst“ wird; das sind alle Ansprüche, soweit sie Lacosamid unter Schutz stellen, und damit gerade nicht nur die Ansprüche 8, 9 und 10.
78
2. Die zulässige Klage ist aber nicht begründet und abzuweisen, da jedenfalls Anspruch 10 sich im Hinblick auf den allein streitgegenständlichen Nichtigkeitsgrund fehlender Patentfähigkeit des Grundpatents nach Art. II § 6 Abs. 1 lit. a IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a EPÜ als bestandsfähig erweist und – da sich jedenfalls die Lehre nach Anspruch 10 des Grundpatents als neu und erfinderisch i.S.v. Art. 54, Art. 56 EPÜ erweist – das angegriffene Streitzertifikat trägt. Insoweit kann deshalb, anders als bei einem gleichzeitigen Angriff auf ein noch in Kraft stehendes Grundpatent, im Ergebnis dahinstehen, ob auch der von den Parteien in den Fokus gestellte Anspruch 1 oder auch weitere Ansprüche sich ebenfalls als bestandsfähig erweisen.
79
Der uneingeschränkten Abweisung der Klage als unbegründet steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte eine isolierte Verteidigung des Anspruchs 10 nur hilfsweise erklärt hat, und zwar ungeachtet dessen, dass es vorliegend keiner auf eine isolierte Verteidigung gerichteten Selbstbeschränkungserklärung des Grundpatents bedurfte, um das Streitzertifikat auch allein unter Vernachlässigung der weiteren Ansprüche auf die Lehre nach Anspruch 10 stützen zu können. Denn ein mit der Nichtigkeitsklage angegriffenes ergänzendes Schutzzertifikat bei erloschenem Grundpatent erweist sich bereits dann als uneingeschränkt bestandskräftig, wenn es nur von einem Patentanspruch der Anspruchsfassung getragen wird, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen unabhängigen und nebengeordneten Anspruch handelt und unabhängig davon, ob der Patentinhaber eine entsprechende Selbstbeschränkung auf diesen Anspruch durch Haupt- und Hilfsantrag vornimmt.
80
Dieses Ergebnis steht auch nicht in Widerspruch zu der in der Rechtsprechung des BGH entwickelten Differenzierung für die Prüfung des Bestands des/der vom Patentinhaber mit Haupt- und/oder Hilfsanträgen verteidigten Anspruchssatzes oder Anspruchssätze (vgl. BGH GRUR 2017, 57 – Datengenerator; GRUR 2016, 1143 – Photokatalytische Titandioxidschicht, GRUR 2016, 365 – Telekommunikationsverbindung; BGHZ 173, 47 – Informationsübermittlungsverfahren II). Denn der BGH stellt hiermit nicht die Forderung eines nach einem Alles- oder Nichts-Prinzip zu prüfenden Anspruchssatzes, sondern fordert, lediglich pragmatischen Überlegungen folgend, (vgl. Meier Beck GRUR 2012, 1177) einen Ansatz, der auf das vermutete Verteidigungsverhalten des Patentinhabers abstellt und unterschiedliche prima
facie Beweisvermutungen aufstellt, abhängig von dem Gegenstand der Ansprüche eines Anspruchssatzes. Die insoweit vom X. Senat des BGH getroffene Aussage, dass die vollständige Nichtigerklärung des Patents gerechtfertigt ist, wenn der Patentinhaber das Streitpatent im Nichtigkeitsverfahren nur mit bestimmten Anspruchssätzen verteidigt und sich in keiner verteidigten Fassung als insgesamt rechtsbeständig erweist, ist deshalb nicht Ausdruck eines dogmatischen Alles-oder Nichts-Prinzip, sondern lediglich Ergebnis einer aus dem vermuteten Verteidigungsverhalten des Patentinhabers resultierenden Nichtverteidigung weiterer Ansprüche.
81
Einer solchen pragmatisch auf das vermutete Verteidigungsverhalten des Patentinhabers abstellenden Differenzierung bedarf es vorliegend aber nicht, weil der Inhaber des angegriffenen Streitzertifikats bei erloschenem Grundpatent kein Interesse an einem durch Selbstbeschränkung gewonnenen Teilerhalt des Patents hat, sondern nur am Bestand des Streitzertifikats.
III.
82
Die mit Anspruch 10 des Grundpatents geschützte, den antikonvulsiven arzneilichen Wirkstoff Lacosamid enthaltende therapeutische Zusammensetzung erweist sich ausgehend von dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik als neu und auch auf erfinderischer Tätigkeit beruhend (Art. 54, Art. 56 EPÜ).
83
1. Hierbei erfordert die Prüfung der vorliegend nur unter dem rechtlichen Aspekt fehlender erfinderischer Tätigkeit angegriffenen Lehre zwar trotz des geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes nach den vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundätzen im Nichtigkeitsverfahren (BGHZ 198, 187 = GRUR 2013, 1272, Rn. 36 – Tretkurbeleinheit; GRUR 2015, 365 – Zwangsmischer) keine zwingende Überprüfung auf Neuheit, andererseits ist es dem Senat auch nicht verwehrt, die vom Kläger herangezogenen und gewürdigten Schriften auch insoweit zu bewerten, da Neuheit und erfinderische Tätigkeit nur unterschiedliche rechtliche Aspekte des Angriffs auf fehlende Patentfähigkeit, mithin eines Streitgegenstands, darstellen (Mitt. 2014, 396 – Abdeckung).
84
Eine Bewertung auch der Neuheit ist vorliegend insoweit angezeigt, als sie zum Verständnis der Beurteilung erfinderischer Tätigkeit hilfreich ist und insbesondere deutlich macht, dass die mit Anspruch 1 nur geschützte Lehre des Stoffes Lacosamid als solche von der insoweit im Fokus der Sachprüfung stehenden Masterarbeit von Philippe Le Gall (D7) zwar neuheitsschädlich getroffen ist, nicht jedoch die mit Anspruch 10 geschützte erstmalige Verwendung des Stoffes als Arzneimittel mit antikonvulsiver Wirkung als Bestandteil einer therapeutischen Zusammensetzung. Vor diesem Hintergrund einer auf eine medizinische Anwendung bzw. einen zweckgebundenen Stoffschutz gerichteten Lehre konzentriert sich die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auf die Frage, ob es für den Fachmann im Prioritätszeitpunkt nahelag, den Stoff „(R)-2-Acetylamino-N-benzyl-3-methoxypropanamid“ (Lacosamid) als therapeutischen Wirkstoff mit antikonvulsiver Wirkung bereitzustellen, vornehmlich für die im Fokus stehende Anwendung bei Epilepsie, die dem Fachmann als wesentliches Anwendungsgebiet von Antikonvulsiva bewusst ist.
85
2. Für den insoweit maßgeblichen Stand der Technik kann das Grundpatent entgegen der Rechtsansicht der Klägerin allerdings aufgrund der wirksamen Inanspruchnahme der Priorität aus der „Provisional Application“ US13522P (D1a) den Zeitrang vom 15. März 1996 beanspruchen, da sich die Prioritätsbeanspruchung auch hinsichtlich der umstrittenen Rechtsnachfolge der Beklagten als Anmelderin der dem Streitpatent zugrunde liegenden internationalen Patentanmeldung WO 97/33861 vom 17. März 1997 als wirksam erweist und zudem auch sonstige weitere Voraussetzungen des Art. 87 EPÜ erfüllt sind.
86
2.1. Art. 87 EPÜ bestimmt das Recht auf Inanspruchnahme einer Priorität aus einer Voranmeldung für den Zeitrang einer Patentanmeldung vom identischen Anmelder oder dessen Rechtsnachfolger, vorausgesetzt, die Erstanmeldung erfolgte vorschriftsmäßig und sie betrifft dieselbe Erfindung wie die Nachanmeldung, wobei Nachanmeldung und ggf. die Rechtsübertragung rechtzeitig erfolgt sein müssen.
87
Die insoweit formalen Voraussetzungen rechtzeitiger und wirksamer formaler Prioritätsbeanspruchung sind unbestritten; unbestritten ist auch, dass Prof. K… rechtzeitig mit schriftlichem Vertrag („assignment“) vom 4. Februar 1997 das (vermeintliche) Prioritätsrecht auf die R… formwirksam übertragen hat (D28), und dass das „assignment“ sämtliche Voraussetzungen einer wirksamen Übertragung des Prioritätsrechts nach US-Recht gemäß 37 USC § 261 erfüllt, welche, wie vorliegend, bei Bestätigung durch einen amerikanischen Notar auch von einer prima facie Vermutung gestützt sind (Mayer/Butler/Monia, Das US-Patent, 5. Aufl. 2017, Rn. 821).
88
Denn mit der schriftlichen Übertragungserklärung („assignment“) vom 4. Februar 1997 (D28) ist, den Anforderungen des Art. 87 EPÜ folgend, das Recht auf Inanspruchnahme einer Priorität für den Zeitrang der dem Grundpatent zugrundeliegenden Anmeldung von der Patentinhaberin als Rechtsnachfolgerin getätigt worden, wobei die Erstanmeldung durch Prof. K… vorschriftsmäßig, auch den insoweit maßgeblichen Vorschriften nach US-Recht gemäß 37 USC § 261 folgend (Mayer/Butler/Monia, Das US-Patent, 5. Aufl. 2017 Rn. 821), mit schriftlichem Vertrag vom 4. Februar 1997 („assignment“) rechtzeitig innerhalb der von Art. 87 EPÜ bestimmten Jahresfrist erfolgte und zudem auch dieselbe Erfindung betrifft.
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2.2. Weitere Anforderungen an eine wirksame Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts aus einer Erstanmeldung stellt Art. 87 EPÜ auch bei einer Rechtsnachfolge nicht. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob der Anmelder der ersten Anmeldung hierzu als Erfinder oder hieraus abgeleitetem Erfinderrecht berechtigt ist. Denn das die Anmeldung und das erteilte Patent betreffende Prioritätsrecht nach Art. 87 EPÜ knüpft ebenso wie für das nationale Recht §§ 40, 41 PatG, nur an Regelungen an, welche die Rechte aus der Erstanmeldung auf Erteilung des Patents betreffen, während das Erfinderrecht und das hieraus abgeleitete Recht auf das Patent einen anderen Regelungsgehalt betreffen.
90
Folgerichtig knüpfen auch die nach Art. 87ff EPÜ notwendigen Erfordernisse einer wirksamen Prioritätsinanspruchnahme nur an die Person des Anmelders und dessen aus der formalen Stellung als Erstanmelder abgeleiteten Rechts an, die Anmeldung und/oder das damit verbundene Prioritätsrecht geltend zu machen oder auf einen Rechtsnachfolger zu übertragen, genauer das Prioritätsrecht nach Art. 87ff EPÜ für eine spätere Anmeldung als Ausfluss der Erstanmeldung und des Anmelderrechts wirksam beanspruchen zu dürfen, ohne dass es darauf ankäme, ob der Erstanmelder hierzu materiell-rechtlich berechtigt war und ob er insoweit überhaupt dem Rechtsnachfolger ein Prioritätsrecht tatsächlich materiell-rechtlich vermitteln konnte. Insbesondere ist es deshalb rechtlich unerheblich, ob eine prioritätsbegründende Erstanmeldung berechtigterweise, also durch einen hierzu berechtigten Anmelder erfolgt ist. So wird auch in der Literatur zutreffend darauf hingewiesen, dass das Recht aus der Anmeldung die aus der Anmeldung begründete Rechtsstellung umschreibt, wozu vor der Offenlegung z.B. das Prioritätsrecht zur Auslandsanmeldung oder das Prioritätsrecht nach § 40 PatG zu rechnen sind (Melullis/Benkard, PatG 11. Aufl. § 6 Rn. 2).
91
Damit entspricht die fehlende Bedeutung materiell-rechtlicher Berechtigung, eine Erstanmeldung zu tätigen, den Grundprinzipien des patentamtlichen Registerverfahrens und der insoweit ausschließlich maßgeblichen und von der materiellen Rechtslage losgelösten, allein maßgeblichen Registerlegitimation, wie § 30 PatG belegt. Im Übrigen kann bei einer nach Art. 87 EPÜ erfolgten Übertragung des Rechts auf Inanspruchnahme der Priorität aus einer Voranmeldung das Ergebnis kein anderes sein als im Falle der Anmelderidentität, wo die Frage der materiellen Berechtigung die Voranmeldung geltend zu machen, völlig unbestritten ebenso wenig zu stellen ist und von Art. 87 EPÜ nicht vorausgesetzt wird. „Rechtsnachfolge“ i.S.v. Art. 87 EPÜ bezieht sich deshalb nicht auf das Erfinderrecht und Recht, eine Anmeldung einzureichen, sondern auf die Rechtsnachfolge in die Anmelderstellung als solche.
92
2.3. Fehlzuordnungen können deshalb beim Angriff auf ein erteiltes Patent wegen mangelnder Patentfähigkeit im Bestandsverfahren nicht über eine Aberkennung wirksamer Prioritätsbeanspruchung korrigiert werden, sondern nur im Rahmen möglicher rechtlicher Korrekturen, wie sie begrenzt im Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren nationaler Patente oder EP-Patente nach §§ 21 Abs. 1 Nr. 3 PatG, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 5 IntPatÜG, Art. 60 EPÜ für die widerrechtliche Entnahme oder den unberechtigten Anmelder vorgesehen sind bzw. soweit Vindikationsansprüche (§ 8 PatG) eine Übertragung der Anmeldung oder des Patents oder auch Unterlassungsklage, einstweilige Verfügung eine Fehlzuordnung korrigierbar machen (Melullis/Benkard a.a.O. § 6 Rn. 2; Rn. 14-15).
93
2.4. Nur vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass ausgehend von der maßgeblichen Rechtslage einer nach US-Recht zu treffenden Unterscheidung zwischen dem auf die formale Rechtsposition abstellenden „bare legal title“ und dem „equitable title“ als wirtschaftliche Zuordnung des in der Erfindung liegenden Vermögensrechts sowie der Annahme, dass die Universität H… Inhaberin des „equitable title“ im Zeitpunkt des „assignment“ vom 4. Februar 1997 gewesen sei, der Senat ebenfalls erhebliche Zweifel an der weiteren Folgerung der Beklagten hat, dass deshalb das Prioritätsrecht nur von der Universität H… als wahrer Berechtigter hätte wirksam übertragen werden können und es deshalb auf einen etwaigen gutgläubigen Erwerb durch die Nachanmelderin ankomme. Denn in der insoweit maßgeblichen Rahmenvereinbarung D33 zwischen der Universität H…, der R1… und Prof. K…, welche unbestritten von Prof. K… nicht unterschrieben ist, ist zudem selbst eine schuldrechtliche Verpflichtung von Prof. K… bzw. der R1… zur Rechtsübertragung an die Universität H… wie auch eine dingliche Einigung über einen Rechtsübergang nicht einmal ausdrücklich ausgesprochen. Wenn man dennoch aus dem Rahmenvertrag ein Verpflichtungsgeschäft zur Übertragung zukünftiger Erfinderrechte an die Universität begründen könnte, schweigt dieser zu einer dinglichen Vorausverfügung zukünftiger Erfinderrechte und rechtfertigt nicht die Annahme, dass damit ein „employ to invent“ Verhältnis zwischen der Universität und dem Professor begründet worden sei.
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Diese Beurteilung der von Art. 87 EPÜ geforderten Rechtsnachfolge steht danach zugleich völlig losgelöst von der diskutierten Frage der Maßgeblichkeit des US-Rechts und danach relevanter Rechtsinstitute, wie eines der Universität H… zustehenden „equitable title“ am Erfinderrecht, sei es nun eines nur verpflichtenden Rahmenvertrages mit Prof. K… nach D33 oder eines vorausverfügten Erfinderrechts oder gar der Annahme eines „employ to invent“ Verhältnisses zwischen der Universität und dem Professor. Maßgeblich ist allein, dass die schriftliche Übertragungserklärung („assignment) vom 4. Februar 1997 (D28) unbestritten sämtliche Voraussetzungen einer wirksamen Übertragung des Prioritätsrechts auch nach US-Recht gemäß 37 USC § 261 erfüllt, welche bei Bestätigung durch einen amerikanischen Notar sogar eine prima facie Vermutung auslöst (Mayer/ Butler/Monia, Das US-Patent, 5. Aufl. 2017 Rn. 821).
95
2.5. Auch der Angriff auf eine fehlende Identität und inhaltliche Übereinstimmung von Vor- und Nachanmeldung in Bezug auf in der Voranmeldung fehlende experimentelle Daten zu der mit antikonvulsiver Wirksamkeit verbundenen Frage verringerter Lebertoxizität steht der wirksamen Prioritätsinanspruchnahme nach Art. 87 EPÜ nicht entgegen.
96
Bei Anmeldung eines europäischen Patents kann die Priorität einer vorangegangenen Anmeldung in Anspruch genommen werden, wenn beide dieselbe Erfindung betreffen (Art. 87 Abs. 1 EPÜ). Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die mit der Nachanmeldung beanspruchte Merkmalskombination in der Voranmeldung in ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart ist (st. Rspr., vgl. BGH GRUR 2016, 50 – Teilreflektierende Folie; GRUR 2012, 149, Rn. 34 – Sensoranordnung; GRUR 2008, 597, Rn. 17 – Betonstraßenfertiger; GRUR 2002, 146, Rn. 42 – Luftverteiler). Dabei muss der Fachmann die im Anspruch bezeichnete technische Lehre der früheren Anmeldung in ihrer Gesamtheit unmittelbar und eindeutig als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen können (vgl. BGH GRUR 2016, 50 – Teilreflektierende Folie; GRUR 2014, 542 – Kommunikationskanal; GRUR 2002, 146, 148 – Luftverteiler; EPA GrBK 1/98 GRUR Int. 2002, 80, 83). Maßgeblich ist das Verständnis des Fachmanns zum Zeitpunkt der Einreichung der (prioritätsbeanspruchenden) europäischen Patentanmeldung. Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten die Prinzipien der Neuheitsprüfung, wobei der Gegenstand der Erfindung bei der prioritätsbeanspruchenden Anmeldung aus den Ansprüchen zu ermitteln ist, bei der prioritätsbegründenden Anmeldung aus der Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen (st. Rspr., vgl. BGH GRUR 2008, 597, Rn. 17 – Betonstraßenfertiger; GRUR 2004, 133, Rn. 44 – Elektronische Funktionseinheit).
97
Insoweit hat die Klägerin bereits keinen eigenen substantiierten Vortrag zur vermeintlich fehlenden Identität der maßgeblichen Erfindung der anspruchsgemäßen Lehre des Grundpatents gehalten, so dass fraglich ist, ob im Rahmen ihrer nur allgemeinen Bezugnahme auf den Sachvortrag der ehemaligen Klägerin zu 1 überhaupt ein anzuerkennendes substantiiertes Vorbringen zu sehen ist. Dies kann aber dahinstehen. Denn die Forderung der ursprünglichen Offenbarung derartiger Daten geht bereits deshalb fehl, weil die Frage der Qualität und Nebenwirkungen einer medizinischen Anwendung von Lacosamid als antikonvulsives Arzneimittel im Hinblick auf eine Lebertoxizität sowohl für die auf absoluten Stoffschutz und damit die bloße Bereitstellung eines neuen Stoffes gerichteten Ansprüche 1 bis 5 und 7 bis 9 unbeachtlich ist (zum Stoffanspruch BGH GRUR 1966, 312 – Appetitzügler; GRUR 1972, 541 – Imidazoline; BPatGE 17, 192), ebenso wie für Anspruch 10, der zwar auf eine medizinische Anwendung von Lacosamid als antikonvulsiv wirkendes Arzneimittel in der therapeutischen Zusammensetzung gerichtet ist, sich damit zwar nicht in der erstmaligen Bereitstellung eines Stoffes erschöpft, sondern dessen Bereitstellung zu medizinischen Zwecken lehrt, allerdings ohne zugleich auf bestimmte therapeutische Effekte oder Wirkungen und damit einen bestimmten therapeutischen Handlungserfolg gerichtet zu sein, welche der konkreten Offenbarung bedurft hätten. Damit kann die Frage einer Erfindungsidentität im Hinblick auf die von der Klägerin angesprochenen Mängel von vornhinein nicht von in der Erstanmeldung offenbarten Therapieerfolgen oder Nebenwirkungen hinsichtlich Lebertoxizität beeinflusst sein. Die Frage, inwieweit und in welchem Umfang erfindungsgegenständliche und offenbarte therapeutische Effekte oder Wirkungen im Nachhinein durch ergänzende Versuche verifiziert werden können und für eine Erfindungsidentität unschädlich sind, stellt sich deshalb auch insoweit von vornhinein nicht.
98
2.6. Damit kann das Grundpatent für sämtliche Ansprüche den Zeitrang der Voranmeldung vom 15. März 1996 beanspruchen, so dass die erst 1996 veröffentlichte Dissertation D. Choi (D6), ebenso wie der zugehörige Fachartikel von Choi (D6a) keinen Stand der Technik nach § 54 EPÜ bilden.
99
2.7. Das gilt auch für die Frage, ob nicht aufgrund des Datums der Dissertationsschrift Choi „Dezember 1995“ die Vermutung einer vorherigen öffentlichen Zugänglichmachung durch Veröffentlichung an der Universität H… geschlossen werden kann oder ob infolge der in den Zeitraum Dezember fallenden Verteidigung der Dissertation während der mündlichen Prüfung eine relevante Vorbenutzung zu sehen ist, da die Klägerin insoweit trotz der eingehenden Hinweise des Senats im qualifizierten Hinweis in tatsächlicher Hinsicht ihren Sachvortrag weder präzisiert noch weiterverfolgt hat.
100
2.8. Auch die Rechtbank Den Haag (D69(a)) bestätigt im Ergebnis die Rechtsansicht des Senats und weist darauf hin, dass die Beklagte ihr Bestreiten, dass die Arbeit von Choi aus dem Jahr 1995 vor dem 15. März 1996 öffentlich zugänglich gewesen sei, ausführlich begründe und mit einer Reihe von Dokumenten und Erklärungen unterlegt habe, während die dortige Klägerin, die vorliegende ehemalige Klägerin zu 1, insbesondere im Hinblick auf die Annahme einer stillschweigenden Geheimhaltungspflicht keine weiteren ausreichenden Tatsachen oder Nachweise vorgebracht habe; das gelte auch hinsichtlich der Behauptung einer nicht wirksamen Prioritätsinanspruchnahme. Ferner kommt es auf den vom englischen High Court in seinem Urteil vom 7. November 2017 (D27) angenommenen bona fide Erwerb ebenfalls nicht an.
IV.
101
1. Der Senat sieht Lacosamid in der D7 neuheitsschädlich offenbart, auch wenn die D7 diese Verbindung nicht ausdrücklich (explizit) nennt.
102
1.1. Unbestritten gilt für Chemieerfindungen hinsichtlich des Neuheitsbegriffs grundsätzlich nichts anderes als bei sonstigen Erfindungen. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert die Beurteilung, ob der Gegenstand eines Patents durch eine Vorveröffentlichung neuheitsschädlich getroffen ist, die Ermittlung des Gesamtoffenbarungsgehalts, wonach maßgeblich ist, welche technische Information dem Fachmann unmittelbar und eindeutig offenbart wird. Dabei umfasst die Offenbarung auch das, was im Anspruch und in der Beschreibung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns zum Zeitpunkt der Einreichung der prioritätsbeanspruchenden Patentanmeldung (vgl. BGH GRUR 2014, 542 – Kommunikationskanal; GRUR 2004, 133, 135 – Elektronische Funktionseinheit) jedoch für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern „mitgelesen“ wird.
103
In Abgrenzung hierzu erlaubt jedoch die Einbeziehung von Selbstverständlichem keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, mag es sich hierbei auch um ein dem Fachmann selbstverständliches Wissen handeln. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem dient vielmehr lediglich der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information, die der Fachmann der Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt. Deshalb gehören weder Abwandlungen noch Weiterentwicklungen einer Information zum Offenbarten oder diejenigen Schlussfolgerungen, die der Fachmann kraft seines Fachwissens aus der erhaltenen technischen Information ziehen mag (vgl. BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 – Olanzapin; GRUR 2014, 758 – Proteintrennung).
104
1.2. In Anwendung dieser Grundsätze erachtet der Senat vorliegend Lacosamid, also das R-Enantiomer der in D7 als Racemat hergestellten Verbindung 107e, für den angesprochenen Fachmann als unmittelbar und eindeutig offenbart. Denn der Fachmann las im Prioritätszeitpunkt unter Berücksichtigung seines Fachwissens und der in der D7 ausdrücklich thematisierten Bedeutung chiraler Formen der angesprochenen racemischen Verbindungen das erfindungsgemäße Enantiomer des racemischen Lacosamids mit.
105
1.2.1. Insoweit ist der Sichtweise der Klägerin, dass die Ansprüche 1 bis 9 des dem Streitzertifikat zugrunde liegenden Patents D1, soweit sie Lacosamid betreffen, nicht neu sind, zu folgen. Unstrittig ist in der Masterarbeit von Philippe Le Gall (D7) Lacosamid in racemischer Form als eine auf dem Grundgerüst 107 basierende Verbindung 107e beschrieben (vgl. D7, S. 133, 134, 137).
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106
Ohne dass es einer von der Beklagten angemahnten Markierung für das chirale α-Kohlenstoffatom bedarf, erkennt der Fachmann in der Formel 107, die der Übersichtlichkeit halber und in fachüblicher Darstellung am Kohlenstoff gebundene Wasserstoffatome nicht zeigt, auf den ersten Blick, dass an diesem Kohlenstoffatom vier unterschiedliche Reste, nämlich von links nach rechts die NH-C=O-CH3-Gruppe, die Gruppe R = CH2OCH3, die Gruppe CO-NH-CH2-Ph und – nicht gezeigt – ein Wasserstoffatom gebunden sind. Damit liegt eine Verbindung mit einem chiralen Kohlenstoffatom vor, die, wie auf S. 135 Z. 1-4 in D7 dargestellt, aus Vergleichsgründen als Racemat untersucht wurde und nicht in der Form einzelner Enantiomere, von denen bei einem chiralen Kohlenstoffatom zwei Enantiomere vorliegen. Lacosamid und damit das (R)-N-Benzyl-2-acetamido-3-methoxypropionamid war somit bereits als Bestandteil des Racemats hergestellt und mit geringer Ausbeute isoliert worden (vgl. D7, S. 137, Tab. 36, Verbindung 107e).
107
Zur Frage, ob vorliegend die D7 nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Lacosamid ausreichend individualisiert und damit impliziert offenbart, verweist die Beklagte unter Hinweis auf die BGH-Entscheidungen „Olanzapin“ und „Escitalopram“ darauf, dass eine solche in D7 nicht vorliege. Anders als in BGH – Escitalopram ist in D7 zwar der Aspekt der Chiralität ausdrücklich angesprochen, zutreffend aber nicht für das racemische Lacosamid. Die Verbindungen der D7 werden ausweislich der Beschreibung in Form ihrer racemischen Gemische erhalten (vgl. D7, S. 135 Abs. 1) und zwar über literaturbekannte Methoden (vgl. D7, S. 135 Abs. 2 Satz 1). Wegen der Vergleichbarkeit zielt die D7 dabei auf die Wirksamkeit der bevorzugt hergestellten Racemate ab (vgl. D7, S. 135 Z. 1-2; „… racemate was prepared
rather
than the individual enantiomers.“; Unterstreichung hinzugefügt). Folglich ist in D7 eine Isolierung des R-Enantiomers nicht vorgesehen.
108
Für die neuheitsschädliche Offenbarung des Enantiomers einer nur racemisch aufgezeigten Verbindung ist es jedoch nicht erforderlich, dass das Enantiomer bereits hergestellt sein muss, um es in die Hand zu bekommen. Dem Fachmann war es aufgrund seines allgemeinen Fachwissens bekannt, auch von der Beklagten unbestritten, wie das erfindungsgemäße Enantiomer zu isolieren ist, ohne dass es weitergehender Informationen bedurfte. Dies gibt sowohl das Grundpatent an (vgl. D1, [0030]) und es ist dem vorveröffentlichten Stand zu entnehmen (vgl. D8, S. 919 li. Sp. Mitte und S. 921 re. Sp. Abs. 2; D9: Sp. 15 Z. 25-Sp. 16 Z. 4; D16: S. 7011-7012 etc.). Wegen der expliziten Nennung des Racemats von Lacosamid in D7, der Nennung der jeweiligen Enantiomere für jede der funktionalisierten Aminosäuren, und wegen der unstrittig fachüblich zu bewerkstelligenden Bereitstellung der Enantiomere ist das streitpatentgemäße Lacosamid, also die R-Form, aus fachmännischer Sicht individualisiert offenbart. Damit sind die Gegenstände der erteilten Ansprüche 1 bis 9, soweit sie sich auf Lacosamid beziehen, als nicht neu zu werten.
109
Was die Offenbarung des Enantiomers und damit den Stoff Lacosamid betrifft, ist es auch nicht erforderlich, dass die D7 dessen Bedeutung herausstellt, wie die Beklagte vorbringt, sondern auf Racemate abstellt. Insoweit bleibt es ohne Belang, dass die D7 bei der Diskussion der nachgewiesen oder angenommen aktiveren D-Enantiomere bei den Methyl- und Phenylderivaten oder Furanyl- und Pyrrolylderivaten eine Druckschrift 68 (vorliegend als D12) zitiert, die nichts zu einem Racemat oder dessen Trennung beiträgt (vgl. D7, S. 42 Z. 8-16; S. 164 drittle. Z. bis S. 165 Z. 2).
110
Weiter wird auch in der Beschreibungseinleitung (vgl. D7, S. 42-43) darauf hingewiesen, dass für bekannte N-Benzylaminosäuren möglicherweise Wirkunterschiede der Stereoisomere bestünden und zwar wegen der Wechselwirkung mit den biologischen Rezeptoren. Dabei stellt die D7 heraus, dass bei den Grundkörpern mit R = CH3 oder Phenyl in Formel 107 (Verbindungen 68a, 68b), also bei reinen und sich bereits dadurch von dem Substituenten der Verbindung 107e unterscheidenden Kohlenwasserstoff-Substituenten, die D-Enantiomere eine höhere Aktivität zeigen (vgl. D7, S. 42).
111
In der Zusammenfassung der D7 wird diese Aussage noch einmal wiederholt (vgl. D7, S. 164-165, insb. S. 164 le. Satz; „The recent finding that the D-enantiomers of 68a and 68b were more active and less toxic than the corresponding racemates68 suggests that the D-enantiomer of each of the compounds (69a and 69b) may display even improved pharmacological properties.”).
112
Für die Betrachtung der Neuheit war somit, wie oben gezeigt, festzustellen, ob sich dem Fachmann das Lacosamid des Streitzertifikats durch die Offenbarung von racemischem Lacosamid in D7 zusammen mit der weiteren Offenbarung, dass bei einer Gruppe strukturgleicher Verbindungen mit den Substituenten Methyl und Phenyl die D- bzw. R-Enantiomere eine höhere Aktivität zeigen, welche sich aber von dem Substituenten des racemischen Lacosamids 107e unterscheiden, ohne Weiteres erschließt.
113
1.2.2. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Fallgestaltung von der Entscheidung des BGH „Escitalopram“ in zwei wesentlichen Punkten. Nämlich dass zum einen dort in der maßgeblichen Schrift die Chiralität nicht angesprochen und es des Weiteren für den Fachmann gerade nicht ohne weiteres möglich war, das Enantiomer in die Hand zu bekommen, also herzustellen. Damit fehlten im Unterschied zu der vorliegend maßgeblichen Schrift D7 in der Fallgestaltung der Entscheidung „Escitalopram“ zwei ihr unmittelbar und eindeutig zu entnehmende wesentliche technische Informationen, welche vorliegend im Hinblick auf die Isolierung des Enantiomers unter dem Aspekt erforderlicher Herstellbarkeit eines neuheitsschädlich offenbarten Stoffes deshalb entbehrlich war, weil diese dem Fachmann unbestritten schon im Prioritätszeitpunkt aufgrund seines bloßen allgemeinen Fachwissens möglich war, ohne dass es weitergehender Informationen bedurfte, was auch das Grundpatent angibt (D1, [0030]) und dem vorveröffentlichten Stand zu entnehmen ist (vgl. D8, S. 919 li. Sp. Mitte und S. 921 re. Sp. Abs. 2; D9: Sp. 15 Z. 25-Sp. 16 Z. 4; D16: S. 7011-7012 etc.). In diesem Fall ist von einer Herstellbarkeit bzw. einem in die Hand Bekommen auch dann auszugehen, wenn die Schrift insoweit keine eigene Methode offenbart (vgl. Melullis, Benkard, a.a.O. Art. 54 Rn. 241).
114
Soweit sich die Frage stellt, ob ein Mitlesen von Lacosamid, also des R-Enantiomers der Verbindung 107e, gerechtfertigt erscheint, ist dem Senat bewusst, dass der BGH in der „Escitalopram“-Entscheidung (GRUR 2010, 123, Rn. 33) unter Berufung auch auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts eine individualisierte Offenbarung der einzelnen Raumformen der Stereoisomere verneint hat, sofern die Vorveröffentlichung die Stereoisomere nicht ausdrücklich behandelt und keine Methode ihrer Herstellung beschreibt, auch wenn solche Raumformen aufgrund eines asymmetrischen Kohlenstoffatoms denkgesetzlich möglich sind.
115
Zu beachten gilt aber auch, dass der BGH insoweit in diesem Zusammenhang die Aussage vorangestellt hat, dass „einer Veröffentlichung, in der eine chemische Verbindung beschrieben wird, ohne dass der Aspekt der Chiralität erwähnt ist, und die auch keine sonstigen Ausführungen enthält, die nur ein bestimmtes Enantiomer betreffen, (entnimmt) der Fachmann jedoch in der Regel nicht unmittelbar und eindeutig, dass die offenbarte Lehre auch einzelne Enantiomere umfasst“ und damit darauf abstellt, dass der Fachmann erst unter Hinzufügung seines diesbezüglichen Fachwissens, dass das angesprochene Racemat auch eine chirale Verbindung darstellt und deshalb enantiomere Raumformen aufweist, in der Lage sei, die technische Information der Schrift zu nutzen, um diese unter Einsatz und Hinzufügung seines Fachwissens weiter zu entwickeln bzw. hieraus Folgerungen zu ziehen.
116
Dies ist aber vorliegend gerade wegen der ausdrücklich in der D7 angesprochenen Chiralität der diskutierten racemischen Verbindungen auch im Hinblick auf Lacosamid nicht erforderlich. Die Schrift D7 selbst vermittelt die ein Mitlesen enantiomerer Formen auslösende technische Information; was einzig fehlt, ist eine explizite Offenbarung des hier maßgeblichen R-Enantiomers Lacosamid in Form der Struktur, der IUPAC-Bezeichnung oder ähnlicher Darstellungsmöglichkeiten.
117
Würde man trotz dieser Umstände eine individualisierende Offenbarung verneinen, bliebe für den Bereich der Chemie bzw. den Bereich chiraler Verbindungen angesichts keiner einzigen zusätzlich erforderlichen technischen Information für eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung eines Enantiomers nur dessen oben angesprochene explizite Offenbarung als hinreichend und dem sog. Goldstandard entsprechend, was angesichts der Gleichstellung zu sonstigen Gebieten der Technik nicht gerechtfertigt ist. Denn insoweit ist nicht zu verkennen, dass der Fachmann insbesondere für das Mitlesen der maßgeblichen „Raumform“ des Enantiomers einer chiralen Verbindung keine weiteren Parameter erfordert, insbesondere keine weiteren Angaben einer dreidimensionalen Darstellung, sondern der Fachmann hat die denkgesetzlich möglichen Raumformen allein aufgrund der Schrift unmittelbar konkret vor Augen.
118
1.3. Allerdings kann die Arbeit von Le Gall (D7) die Neuheit des Wirkstoffs Lacosamid gemäß Anspruch 10 des Grundpatents nicht in Frage stellen, da sich zu einer pharmazeutischen Zusammensetzung keinerlei Angabe findet.
V.
119
1. Der Senat sieht unabhängig davon, ob die D7 als Ausgangspunkt des weiter zu bildenden und zur objektiven Aufgabenformulierung heranzuziehenden Stands der Technik anzusehen ist, welche der Fachmann weiterbilden wollte, oder die D7 als in Betracht kommendes Sprungbrett für einen Stand der Technik heranzuziehen ist, der allgemein von den im Prioritätszeitpunkt relevanten antikonvulsiven Pharmazeutika gebildet wurde, die bei der Behandlung epileptischer Anfälle Anwendung finden, die angegriffene Lehre durch den im Verfahren befindlichen Stand der Technik nicht nahegelegt.
120
1.1. Insoweit ist zunächst wesentlich, dass die D7, wie erläutert, zwar den Stoff Lacosamid offenbart und sich mit der Bereitstellung von antikonvulsiven Arzneimitteln bzw. pharmazeutischen Wirkstoffen, insbesondere zur Behandlung von Epilepsie, beschäftigt, nicht aber die Bereitstellung von Lacosamid als einen derartigen arzneilichen Wirkstoff und Arzneimittel offenbart und – wie zu zeigen sein wird – dem Fachmann auch nicht nahelegte.
121
Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit und Formulierung der objektiven Aufgabe bedeutet dies, dass die erfindungsgemäße Bereitstellung nach Anspruch 10 als antikonvulsives Arzneimittel bereits Teil der Lösung ist und daher nicht Eingang in die Formulierung der Aufgabe finden darf. So hat auch der BGH in der Entscheidung „Escitalopram“ (GRUR 2010, 123) ausgeführt: „Steht der Fachmann vor dem Problem, einen Stoff bereitzustellen, der als Arzneimittel für bestimmte Anwendungsgebiete in Betracht kommt und im Vergleich zu auf diesem Gebiet bekannten Arzneimitteln eine Alternative darstellt, und kommen hierfür mehrere Stoffe oder Stoffgruppen in Betracht, ist die Entscheidung zugunsten eines bestimmten Stoffs bereits ein Teil der Lösung“.
122
1.2. Unabhängig hiervon sieht der Senat es ferner nicht gerechtfertigt, die Lehre der D7, auch wenn sie rückschauend der angegriffenen Lehre objektiv am nächsten kommt, zur objektiven Aufgabenformulierung und als Ausgangspunkt des weiterzubildenden Stands der Technik und einer möglichen Problemlösung heranzuziehen. Die objektive Aufgabe bzw. das technische Problem ergibt sich bekanntlich aus dem, was die Erfindung gegenüber dem Stand der Technik tatsächlich leistet (vgl. BGH GRUR 2010, 602, Tz. 27 – Gelenkanordnung; GRUR 2010, 607, Tz. 18 – Fettsäurezusammensetzung; Beschluss vom 19. Oktober 2004 – X ZB 33/03, GRUR 2005, 141, 142 – Anbieten interaktiver Hilfe; Urteil vom 12. Februar 2003 – X ZR 200/99, GRUR 2003, 693, 695 – Hochdruckreiniger, je m.w.N.).
123
1.2.1. Der Senat sieht vielmehr aufgrund des objektiven und auch tatsächlich gelösten technischen Problems die objektiv zu formulierende Aufgabe (vgl. BGH GRUR 2005, 141 – Anbieten interaktiver Hilfe; GRUR 2010, 602, Rn. 27 – Gelenkanordnung; GRUR 2010, 607, Rn. 18 – Fettsäurezusammensetzung) des berufenen Fachmanns bzw. Teams darin, die im Stand der Technik beschriebenen Nachteile antikonvulsiver Pharmazeutika zu verringern und insbesondere ein wirksameres Präparat mit weniger toxischen Nebenwirkungen bereit zu stellen.
124
So hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 13. Januar 2015 „Quetiapin“ (GRUR 2015, 352) ausgeführt, dass bei der Definition des technischen Problems, das einer Erfindung zugrunde liegt, nicht ohne weiteres unterstellt werden darf, dass für den Fachmann die Befassung mit einer bestimmten Aufgabenstellung angezeigt war. Vielmehr ist das technische Problem so allgemein und neutral zu formulieren, dass sich die Frage, welche Anregungen der Fachmann durch den Stand der Technik insoweit erhielt, ausschließlich bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit stellt. Auch in einer späteren Entscheidung (Urteil vom 13. Juni 2017, X ZR 16/15) führt der Bundesgerichtshof aus, dass es nicht zulässig sei, ohne weiteres zu unterstellen, dass dem Fachmann die Befassung mit einer bestimmten Aufgabenstellung nahegelegt war. Sofern sich nicht zweifelsfrei beurteilen lässt, welchen Problemen sich der Fachmann ausgehend vom Stand der Technik zugewendet hätte, wäre es verfehlt, schon bei der Definition der Aufgabe die Frage zu prüfen, welche Anregungen dem Fachmann durch den Stand der Technik gegeben wurden.
125
Schließlich hebt auch der Bundesgerichtshof in der Entscheidung „Repaglinid“ vom 11. November 2014 (GRUR 2015, 356) hervor, dass die Bestimmung des technischen Problems dazu dient, „den Ausgangspunkt der fachmännischen Bemühungen um eine Bereicherung des Stands der Technik ohne Kenntnis der Erfindung zu lokalisieren, um bei der anschließenden und davon zu trennenden Prüfung auf Patentfähigkeit zu bewerten, ob die dafür vorgeschlagene Lösung durch den Stand der Technik nahegelegt war oder nicht. Elemente, die zur patentgemäßen Lösung gehören oder die sich bei ihrer Erarbeitung herausgestellt haben, sind deshalb bei der Bestimmung des technischen Problems nicht zu berücksichtigen“.
126
Der Senat sieht es deshalb in Anwendung dieser Grundsätze als richtig an die Aufgabe wie vorstehend allgemein und nicht als eine ausschließlich auf die den nächstkommenden Stand der Technik bildende Schrift D7 bezogene Differenzaufgabe zu formulieren, welche bereits einen bestimmten Lösungsansatz vorschlägt.
127
1.2.2. Dem entspricht auch der gebotene Lösungsansatz im Rahmen der Prüfung eines Naheliegens für die Beurteilung, welcher Stand der Technik der berufene Fachmann weiterbilden wollte und welche Lösungssätze sich ihm anboten. Der Bundesgerichtshof betont auch hier, dass die Einordnung eines bestimmten Ausgangspunkts als – aus der Sicht ex post – nächstkommender Stand der Technik weder ausreichend noch erforderlich ist (st. Rspr. BGH, Urteil vom 26. September 2017, X ZR 109/15, GRUR 2018, 509 – Spinfrequenz, unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 31. Januar 2017, X ZR 119/14, GRUR 2017, 498 Rn. 28 – Gestricktes Schuhoberteil) und weist darauf hin, dass bereits das Auffinden des nächstliegenden Stands der Technik als Ausgangspunkt für die Problemlösung nur rückschauend in Kenntnis der Erfindung formuliert werden kann und deshalb einer Rechtfertigung bedarf, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere – oder auch nur eine andere – Lösung zu finden, als sie der bekannte Stand der Technik zur Verfügung stellt (Urteil vom 18. Juni 2009, Xa ZR 138/05, GRUR 2009, 1039 – Fischbissanzeiger; BGHZ 179, 168 – Olanzapin).
128
Der Senat teilt diesen methodischen Lösungsansatz, da die danach erforderliche Rechtfertigung für die Annahme eines bestimmten Ausgangspunktes, insbesondere wenn er den nächstliegenden Stand der Technik bildet, darin liegt, dass ansonsten Gefahr besteht, die objektive Erfindungsleistung ungebührlich zu schmälern; so wenn die Heranziehung eines der Erfindung nächstliegenden oder eines anderen bestimmten Ausgangspunkts bereits Element der erfindungsgemäß geleisteten Problemlösung ist oder anders formuliert, wenn darin im Hinblick auf die geistige Transferleistung des Erfinders bereits ein Beitrag zur erfinderischen Tätigkeit zu sehen ist.
129
Es erscheint deshalb aus Sicht des Senats ebenso wenig wie zur objektiven Aufgabenformulierung gerechtfertigt, auf die D7 im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit als Ausgangspunkt des für die Problemlösung heranzuziehenden Stands der Technik abzustellen. Die D7 bildet vielmehr bereits ein für den Fachmann in Betracht kommendes konkretes Sprungbrett für eine mögliche Lösung des weiter zu bildenden Stands der Technik, nämlich allgemein antikonvulsiver Pharmazeutika, insbesondere auch zur Anwendung gegen Epilepsie, und der sich hieraus ergebenden allgemeinen Aufgabenstellung, toxische Nebenwirkungen zu verringern.
130
Richtigerweise erscheint es aus Überzeugung des Senats vorteilhaft, auch sprachlich zu unterscheiden, ob eine insoweit relevante Lehre, wie vorliegend die Schrift D7, den Ausgangspunkt als weiterzubildender Stand der Technik bildet oder ob diese Lehre, auch wenn sie rückschauend den nächstliegenden Stand der Technik bildet, nur ein mögliches „Sprungbrett“ für eine Problemlösung bildet. Dieses „Sprungbrett“ aufzufinden bzw. dessen zu rechtfertigendes Heranziehen als „Ausgangspunkt“ – wie es der Bundesgerichtshof formuliert – ist deshalb bereits Teil der Problemlösung und nicht deren Ausgangspunkt und damit weder für die Formulierung der objektiven Aufgabe noch für die Beurteilung eines Naheliegens ein zulässiger Ausgangspunkt, was mithin sprachlich und systematisch in der Formulierung „Sprungbrett“ zum Ausdruck kommt.
131
Soweit die D7 als Sprungbrett zur Lösung zu diskutieren ist, hat der Senat zwar keine Zweifel, dass der angesprochene Fachmann sich nicht ausschließlich Anregungen aus der Literatur holen wird, die im „mainstream“ der aktuellen Forschung angesiedelt ist (vgl. z.B. D52), wie die Beklagte meint, sondern auch grundsätzlich eine Masterarbeit auf verwertbare Lösungsansätze durchsieht und diese nicht deshalb verwirft, weil sie in einer Masterarbeit enthalten sind, die anders als ein in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publizierter Artikel keiner unabhängigen Begutachtung („peer review“) unterzogen wurde. Weiter wird er auch solche Arbeiten, wie das Konvolut an Publikationen der Arbeitsgruppe um Prof. K…, darunter insbesondere die von der Klägerin herausgestellten und in der Verhandlung im Einzelnen diskutierten Druckschriften D8 aus dem Jahr 1990, D14 aus dem Jahr 1991, D10 aus dem Jahr 1993 und D15 aus dem Jahr 1994 beachten, die mit den dort untersuchten FAAs zwar ein Randgebiet der Antikonvulsiva betreffen, jedoch im Zuge der durchgeführten MES-Tests insoweit aussichtsreiche Derivate vorstellen.
132
Allerdings gilt es vorliegend zu berücksichtigen, dass im Prioritätszeitpunkt Anfang 1996 die Masterarbeit D7 von Le Gall aus dem Jahr 1987 etwa 9 Jahre alt war und zahlreiche Artikel von dem wissenschaftlichen Leiter der Arbeitsgruppe, nämlich von Prof. K…, veröffentlicht waren, der Le Gall angehört hatte, ohne dass der dortige Forschungsansatz betreffend die hier maßgebliche Verbindung 107e aufgegriffen oder fokussiert worden wäre, wie die Beklagte im Hinblick auf mehrere, die Arbeiten von Prof. K… abbildende Publikationen sowie weitere Arbeiten zur Leitstrukturen von Antiepileptika (vgl. D8-D16, Review-Artikel D52) geltend gemacht hat; die Forderung, dass die Wahl dieses Ausgangspunkts der Rechtfertigung bedarf, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere Lösung zu finden, als sie der bekannte Stand der Technik zur Verfügung stellt (vgl. BGH GRUR 2009, 382 – Olanzapin; BGH GRUR 2009, 1039 – Fischbissanzeiger; BPatG GRUR 2004, 317 – Programmartmitteilung), macht vorliegend für die Wahl der D7 als Sprungbrett eine besondere Begründung notwendig. Es liegt keinesfalls auf der Hand, dass die D7 den nächstliegenden Stand der Technik bildet.
133
2. Letztlich kann vorliegend selbst dann kein anderes Ergebnis erzielt werden, wenn zugunsten der Klägerin unterstellt wird, die D7 bilde nicht nur ein mögliches „Sprungbrett“ für die Problemlösung, sondern den Ausgangspunkt des weiter zu bildenden Stands der Technik und damit vernachlässigt wird, dass bereits im Wiederaufgreifen der Lösungsansätze und Anregungen der D7 ein wesentlicher oder bereits für sich genommen hinreichender Beitrag zur erfinderischen Problemlösung und Leistung lag. Denn der Senat teilt im Ergebnis die Ansicht der Beklagten, dass auch dann die Bereitstellung einer enantiomeren Form des Lacosamid-Racemats für den Fachmann nicht nahelag, also – so wie die Beklagte es formuliert hat – aus sich selbst heraus ein Naheliegen nicht begründet ist.
134
2.1. Für die Beurteilung eines Naheliegens ist mit zu berücksichtigen, dass erfahrungsgemäß die technische Entwicklung nicht notwendigerweise diejenigen Wege geht, die sich bei nachträglicher Analyse der Ausgangsposition als sachlich plausibel oder gar mehr oder weniger zwangsläufig darstellen und es – abgesehen von denjenigen Fällen, in denen für den Fachmann auf der Hand liegt, was zu tun ist – in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe dafür bedarf, die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung zu suchen (vgl. BGH GRUR 2009, 746 – Betrieb einer Sicherheitseinrichtung).
135
In der Rechtsprechung ist es anerkannt, dass selbst bei einer Anzahl überschaubarer alternativer Lösungsansätze, von denen jeder spezifische Vor- und Nachteile hat, und die sich als gleichwertige, ebenso vorzugswürdige Alternativen darstellen, in der Regel für den Fachmann Anlass besteht, jeden dieser Lösungsansätze in Betracht zu ziehen (vgl. BGH GRUR 2012, 261 – E-Mail via SMS; GRUR 2012, 803 – Calcipotriol-Monohydrat), und dass das Beschreiten eines jeden von mehreren unterschiedlichen Wegen zur Problemlösung naheliegen kann (vgl. BGH GRUR 2015, 356 – Repaglinid). Einen wesentlichen Aspekt bildet hierbei die angemessene Erfolgserwartung für die Lösung des sich stellenden technischen Problems (vgl. BGH GRUR 2012, 803 – Calcipotriol-Monohydrat; GRUR 2010, 123 – Escitalopram), d.h. die Erfolgserwartung, die der Fachmann mit dem oder den möglichen Lösungswegen verbindet.
136
2.2. Die Klägerin verweist insoweit auf BGH-Calcipotriol-Monohydrat, wonach die angemessene Erfolgserwartung Bedeutung gewinnen könne und somit kein zwingendes Kriterium darstelle. In dieser Entscheidung ist es jedoch als maßgeblich dargetan, dass für den Fachmann aus dem Stand der Technik eine Anregung notwendig ist, dort beschriebene Maßnahmen aufzugreifen und auf einen bekannten Stoff anzuwenden. Vorliegend handelt es sich bei dem bekannten Stoff um das racemische Lacosamid der D7. Wenn die Klägerin das Auffinden des Wirkstoffs Lacosamid im Lichte der Druckschrift D7 allein oder unter Beachtung der von D7 „sternförmig ausgehenden“ chronologisch nachfolgenden Arbeiten zu unterschiedlichen in α-Position substituierten FAAs und deren SARs als sowohl angeregt als auch von vornherein aussichtsreich wertet, kann dieser Sichtweise nicht gefolgt werden. Ihre Sichtweise wird auch nicht dadurch gestützt, dass in den nachfolgenden Arbeiten wiederholt in D7 genannte Verbindungen und deren Wirkung und somit auf D7 basierende Kenntnisse aufgegriffen werden.
137
2.2.1. Druckschrift D7 (Masterarbeit Le Gall) als Ausgangspunkt
138
Auf der Suche nach einem spezifischen, pharmazeutisch relevanten Wirkstoff zur Behandlung einer Krankheit wird als „Screening“ im Allgemeinen der erste Schritt im Entdeckungsprozess einer neuen Arznei bezeichnet, bei dem eine Vielzahl an Substanzen daraufhin getestet wird, ob sie sich an den krankheitsauslösenden Rezeptor als Zielmolekül („target“) binden können, um dessen Wirkung zu hemmen und im Körper somit die heilende oder lindernde Reaktion herbeizuführen. Das „Screening“ dient der Sammlung von Hinweisen darauf, welche Merkmale die Moleküle, die sich am „target“ anlagern können, haben müssen und ob sie bestimmte Atome unbedingt oder keinesfalls enthalten sollten.
139
Mangels genauer Kenntnis des oder der „target(s)“ (vgl. D59a, Rn. 76) verfolgt D7 einen von der Molekülstruktur des Wirkstoffs ausgehenden, phänotypischen Ansatz. Die den Untersuchungsgegenstand der D7 bildenden 2-Substitutierten-2-acetamido-N-benzylacetamide (vgl. D7, Titel) werden im „Screening“ einem mehrstufigen Test unterworfen, der mit der Phase 1 von insgesamt 7 Phasen startet, in welcher die zu untersuchende Verbindung in dem „Maximal electro-shock (MES) test“ auf ihren Aktivitätslevel geprüft wird (vgl. D7, S. 18-19). Nach der Lehre der D7 handelt es sich bei aktiven Verbindungen um solche mit einem Wert von 300 mg/kg (vgl. D7, S. 18 „Phase 1“). Bekannte antikonvulsiv wirkende Stoffe wie Phenytoin, Metphenytoin oder Diazepam erreichen insoweit gute, also niedrige, MES-Werte (nachfolgende Angaben stets ohne Einheit und ganzzahlig gerundet) von i.d.R. 14, 61 und 19 (vgl. D7, S. 107 Tab. 34). Soweit die Klägerin geltend macht, dass die MES-Werte ohnehin nur Tendenzen aufzeigen und nicht streng numerisch zu werten sind, ist das Runden der in D7 wie in anderen Druckschriften gegebenen Zahlenangaben auf ganze Zahlen gerechtfertigt (vgl. D58a, Rn. 103). Der Klägerin mag vor dem Hintergrund der Ausführungen von Prof. L… (vgl. D57, Rn. 187), dass die erste Testphase nur einen groben Filter bildet, dahin zu folgen sein, dass der Fachmann in der ersten Testphase MES-Werte < 100 als in einer ersten Orientierung beachtenswert empfindet. Allerdings wird er vor dem Hintergrund der Zahlenwerte etablierter Antikonvulsiva, insbesondere Phenytoin (vgl. D59, Rn. 36, 99), auch in diesem Bereich zu differenzieren haben.
140
Nach dem in der D7 verfolgten Ansatz werden ausgehend von zwei auf dem Grundgerüst der oben gezeigten Formel 107 basierenden Verbindungen 68a und 68b (R = Methyl oder Phenyl in Formel 107) mit unter dem angegebenen Grenzwert von 100 liegenden MES-Werten von 51 und 32 (vgl. D7, S. 106 Tab. 33, S. 104, Tab. 31) verschiedene Sets analoger Verbindungen mit Bz. 69a-h, 68c-d, 86a-b und 107a-e hergestellt. Bei den aus den Gruppen Heterocyclen und annelierten Iso- und Heterocyclen mit einem Heteroatom gebildeten Resten R resultieren die mit Abstand besten Werte bei den 2-Furyl- bzw. 2- Pyrryl-Verbindungen 69a, 69b (vgl. D7, S. 104 Tab. 31) mit den MES-Werten 10 und 16, die besser sind als der Grundkörper mit Bz. 68b mit dem Phenylrest und MES-Wert 32. Annelierte Ringe sind dagegen kaum aktiv (vgl. D7, S. 105 Tab. 32).
141
Auch aliphatische Reste wie Methylmercaptoethyl, Isopropyl, Methoxy, Ethoxy, Cyano, Amido, Ethylcarboxylat und Hydroxymethyl werden als Substituenten in der D7 untersucht und MES-Werte (auch Literaturwerte) angegeben. Diese zeigen signifikant schlechtere Werte als die aromatischen Reste (vgl. D7, i.d.R. S. 106 Tab. 33: > 100, > 100, 98 und 62, S. 154 Tab. 44: > 300, > 300, > 300 und > 100).
142
Eine der Erkenntnisse im Abstract der D7 besteht darin, dass für eine maximale Aktivität im MES-Test kleine Substituenten erforderlich sind und Elektronendonatoren den Effekt verstärken (vgl. D7, S. vi Z. 3-7 und S. 108 Z. 7-11). Neben kleinen Heterocyclen werden die Reste R = CH3 (Verbindung 68a) oder R = CN, CONH2, COOCH2CH3 (vgl. D7, S. 153 Z. 5-4 von unten Verbindungen 107a-c) am Grundgerüst 107 als klein bezeichnet.
143
Bei monocylischen Heteroaromaten mutmaßt der Autor eine gesteigerte Wirksamkeit bei fallender Resonanzstabilität und damit einen elektrophilen Rezeptor (vgl. D7, Tab. 31 und S. 109, Abs. 2), was die Beklagte als fachlich nicht überzeugend wertet. Zur Überprüfung der These, dass es beim Rezeptor auf Ladung und die Größe des Substituenten am α-C-Atom ankommt, wird in D7 daher der Austausch der Ringwasserstoffatome von Furan (Verbindung 69a) und Pyrrol (Verbindung 69b) gegen kleine Elektronendonatoren vorgeschlagen (vgl. D7, S. 165 Z. 7-10).
144
Bei aliphatischen Substituenten schätzt der Autor der D7 die Substituenten in 107a-c als elektronenziehend ein, was dem Fachwissen um die elektronegativeren Atome Stickstoff und Sauerstoff in der Kette entspricht. Er schweigt jedoch dazu, was es mit den weiteren, ebenfalls elektronegative Atome in der Kette tragenden Verbindungen 86a (OCH3), 86b (OCH2CH3), 107d (CH2OH) und 107e (CH2OCH3) (vgl. D7, S. 106, 133) auf sich hat und schlägt im Ausblick als weitere in Betracht zu ziehende aliphatische Substituenten O-Vinyl- und O-Ethinyl-Gruppen vor (vgl. D7: S. 165 Z. 2-15).
145
Hinsichtlich der von der Klägerin als in D7 explizit angesprochen gewerteten Veranlassung, die bereits als Racemat synthetisierte Verbindung 107e lediglich auf ihre Wirkung hin zu untersuchen, ist damit zu untersuchen, wie sich diese Passage dem Fachmann im Gesamtkontext der D7 erschließt.
146
Wörtlich lautet die Beschreibung dort: “The more lipophilic methoxy ether 107e has not been evaluated yet. The close structural analogy of this compound with 86b suggest that this adduct may have good anticonvulsant activity” (vgl. D7, S. 155 Z. 10-13).
147
Sofern der Fachmann dieser Information Aufmerksamkeit schenkt, tut er dies nicht losgelöst von den übrigen Ergebnissen der D7 und kann nur bei einem schlüssigen Kontext der D7 zu einer weiteren Untersuchung veranlasst sein.
148
Was die wesentlichen, in der Zusammenfassung dargelegten Empfehlungen der D7 anbelangt, ist dort jedenfalls nicht zu erkennen, dass es sich bei Verbindung 107e um einen aussichtsreichen Kandidaten handeln könnte. Denn diese Verbindung ist nicht nur nicht angesprochen, sondern es wird empfohlen, bei dieser Substanzklasse einen anderen Weg zu gehen und offenkettige Alkenyl- und Alkinyl-Substituenten mit einem Sauerstoffatom in der Kette als möglicherweise aktiv auszuprobieren. Zudem stellt die Zusammenfassung der D7 auf die Furan- und Pyrrolderivate als aussichtsreichste Kandidaten ab. Hinsichtlich der Stellung eines Heteroatoms wird auf die untersuchten Thiophenderivate 69c und 69d mit MES-Werten 45 und 88 lediglich zu Vergleichszwecken hingewiesen. Diese Verbindungen mit MES-Werten im selben Bereich wie die zu Lacosamid isomere Ethoxyverbindung 86b mit MES-Wert 62 werden jedoch nicht als aussichtsreich angesprochen. Schließlich wird noch über eine stärkere Wirksamkeit bei R-Derivaten der FAAs gemutmaßt.
149
Wie auch die Gutachten bekräftigen (vgl. D57, Rn. 64-66; D59a, Rn. 32, 44, 63; D60a, Rn. 16-21 etc.), waren belastbare Kenntnisse über den verantwortlichen Rezeptor nicht vorhanden, so dass alle auf einen Wirkmechanismus ausgerichteten Ausführungen spekulativ sein mussten.
150
Somit veranlassen die grundlegenden Angaben der D7 den Fachmann nicht zur weiteren Untersuchung der 107e.
151
Aber selbst unter der Prämisse, dass sich dem Fachmann die in D7 präsentierten FAAs mit aliphatischen Substituenten als in irgendeiner Weise aussichtsreiche Substanzklasse erschließen sollten, wird er beim Studium der Ergebnisse in D7 nicht zu weiteren Aktivitäten veranlasst.
152
So vergleicht D7 die isomeren Verbindungen 107d (R = CH2OH in Formel 107) und 86a (R = OCH3 in Formel 107; D7, S. 155 Abs. 2) und folgert, dass 107d mit MES > 100 eine geringe und gegenüber 86a mit MES = 98 (D7, S. 106, Tab. 33) deutlich verringerte Aktivität hat. Allerdings liegt die Verbindung 86a bereits an der Grenze zur Inaktivität gemäß der in D7 gegebenen Definition. Für das nicht untersuchte racemische Lacosamid 107e wird wegen struktureller Nähe zur – isomeren – Verbindung 86b (R = OCH2CH3 in Formel 107 und MES 62) eine gute antikonvulsive Wirkung vermutet. Soweit der Autor der D7 damit racemischem Lacosamid etwaiges Potential bescheinigt, tut er dies zum einen im Vergleich mit der Ethoxyverbindung, die einen bereits hohen MES-Wert von 62 aufweist, aber noch mit Metphenytoin nach Tab. 34 und MES-Wert 61 vergleichbar ist. Der Wert liegt jedoch ersichtlich höher als die Werte der Grundkörper, von denen die Studie ausging (R = Methyl oder Phenyl in Formel 107 mit MES-Werten 51 und 32) und nochmals höher als die Werte der als aussichtsreiche Kandidaten beschriebenen Furyl- und Pyrrylderivate 69a und 69b, die Phenytoin oder Diazepam vergleichbar sind. Zum anderen erweisen sich sämtliche untersuchten Derivate der Reihe 107a-107d mit einem Kohlenstoffatom in α-Stellung und mit den elektronegativen Atomen N und O in der Kette als inaktiv. Einen Grund, dass gerade die Verbindung 107e insoweit eine Ausnahme bilden sollte, kann der Fachmann dem in D7 vorgelegten Datenmaterial nicht entnehmen. Auch unter der Annahme, dass der Fachmann der Stellung des Heteroatoms im Substituenten nach den Darlegungen in der Zusammenfassung Bedeutung beimessen könnte, wird er basierend auf den Erkenntnissen der D7 gerade nicht zur weiteren Untersuchung der Verbindung 107e ermutigt. Denn ihm liegen mit der Ethoxyverbindung 86b und dem MES-Wert 62 ein Ergebnis zu einer α-Sauerstoff-substituierten Verbindung und mit der Ethoxycarbonylverbindung 107c und dem MES-Wert > 300 das Ergebnis einer β-Sauerstoff-substituierten unpolaren Verbindung vor. Dem Argument der Klägerin folgend, bedient auch ein Sauerstoffatom aufgrund seiner freien Elektronenpaare den elektrophilen Rezeptor, was der Annahme der D7, es handle sich bei der Verbindung 107c um keine elektronenliefernde Gruppe (vgl. D7, S. 155 Z. 2-4) entgegenlaufen mag. Die Rolle einer elektronenliefernden Gruppe als wirksames Strukturelement wird ohnehin durch spätere und weiter unten diskutierte Arbeiten von Prof. K… relativiert.
153
Damit ist auch unter Berücksichtigung der in D7 vorgestellten SARs von aliphatisch substituierten FAAs aus fachlicher Sicht keine Veranlassung zur Auswahl der racemischen Verbindung 107e als arzneilicher Wirkstoff gegeben.
154
Was die möglicherweise pharmakologisch aktiveren D- bzw. R-Enantiomere anbelangt, war dies in D7 nur für aliphatische (R = Me in Formel 107) und aromatische (R = Ph in Formel 107) Substituenten zahlenmäßig gefasst und spekulativ für heteroaromatische Substituenten (R = 2-Furanyl in Formel 107) angedeutet worden. Der Fachmann wusste jedoch um die häufig unterschiedlichen Wirkungen von Enantiomeren (vgl. BGH GRUR 2015, 356 – Repaglinid). Zudem wurden die in D7 noch wenig ausführlich dargelegten Erkenntnisse durch die unmittelbar danach im Jahr 1988 erfolgenden Publikationen der Arbeitsgruppe um Prof. K… untermauert (vgl. D13: S. 373, Tab. I i.V.m. S. 372 re. Sp. le. Abs.; D11: S. 234 li. Sp. le. Abs. – Ende; D51) und im Fall der als R-Enantiomer wirksam gemutmaßten Furanverbindung 69a durch D8 aus dem Jahr 1990 bestätigt (vgl. D8: S. 920, Tab. III, Verbindg. 2g). Damit hätte der Fachmann bei einer entsprechenden Auswahl fraglos auch Versuche mit den einzelnen Enantiomeren durchgeführt.
155
2.2.2. Eine zusätzliche Berücksichtigung der von Prof. K… nachfolgend publizierten Druckschriften D8, D10, D14 und D15, in denen Lacosamid weder als Racemat beschrieben noch sonst angesprochen ist, führt zu keinem anderen Ergebnis und stellt, anders als es die Klägerin wertet, die Ergebnisse der D7 sogar teilweise in Frage.
156
Die D8 aus dem Jahr 1990 befasst sich mit Ausnahme des Methylderivats als elektronenliefernden Substituenten (R=CH3 in Formel 107) ausschließlich mit α-(hetero)aromatisch substituierten FAAs und belegt eine höhere Wirksamkeit der R-Enantiomere bei den entsprechenden Furanyl, Methyl- und Phenylderivaten, die schon in D7 genannt waren, sowie eine herausragende Wirksamkeit der Furanyl- und Pyrrolylderivate als kleine elektronenreiche Substituenten (vgl. D8, S. 920, Tab. III und S. 922 re. Sp. „Conclusions“). Eine Anregung zum Einsatz aliphatischer Verbindungen, insbesondere zum Einsatz von aliphatischen Resten mit einem Sauerstoffatom in der Kette, wird nicht gegeben.
157
In der D14 aus dem Jahr 1991 werden SARs zu α-Heteroatom-subsituierten FAAs der Formel 107 untersucht (vgl. D14, S. 2445, Tab. I). Neben der aus D7 bekannten Furanylverbindung werden insbesondere zwei in α- und in β-Position heterosubstituierte Verbindungen 3l und 3n (R= NH(OCH3) und N(CH3)OCH3 mit MES-Werten 6 und 7) als hochaktiv bezeichnet und auf die aktivitätssteigernde Rolle eines substituierten Sauerstoffatoms in der β-Position hingewiesen (vgl. D14, S. 2447, li. Sp. Z. 27-31 und 36-40). Soweit die Klägerin wegen der strukturellen Ähnlichkeit der Verbindung 3l mit Lacosamid und der in D14 angesprochenen Bedeutung eines substituierten Sauerstoffatoms in der β-Position die weitere Untersuchung von racemischem Lacosamid aus D7 veranlasst sieht, vergisst sie, dass D14 den Fachmann auf Substituenten mit geminalen Heteroatomen, also gerade keine aliphatischen C-C-Bindungen lenkt (vgl. D14, S. 2447 re. Sp. „Conclusions“) und die α-N-alkoxyamino-Einheit daher explizit hervorhebt (vgl. D14, S. 2447, li. Sp. Z. 27-31). Zudem handelt es sich bei diesen Resten wegen der auch benachbarten Stickstoff- und Sauerstoffatome um elektronenziehende Reste, die die in D7 aufgestellte Theorie einer elektrophilen Bindungsstelle des Rezeptors in Zweifel stellen und den Fachmann gerade nicht dazu veranlassen, racemisches Lacosamid aus D7 weiter zu untersuchen. Denn die Ethoxycarbonylverbindung 107c der D7 mit der geforderten Alkoxyaminogruppe erwies sich als wirkungslos und unterscheidet sich von der Verbindung 3l im Wesentlichen nur durch eine mit der NH-Gruppe in der elektronenziehenden Wirkung vergleichbaren Carbonylgruppe (C=O-Gruppe) in α-Position zum chiralen Kohlenstoffatom.
158
Wie D8 ist auch D10 aus dem Jahr 1993 wesentlich mit der Untersuchung α-heteroaromatisch substituierter FAAs der Formel 107 befasst und wiederholt die Theorie der pharmakologisch aktivitätssteigernden Wirkung eines Heteroatoms in β-Stellung unter Zitierung der in D14 untersuchten offenkettigen Verbindungen. Sie lehrt weiter, dass elektronenärmere Aromaten wie Azole eine schlechtere Wirkung zeigen (vgl. D10, S. 3354 li. Sp. le. zwei Abs.). Prof. K… bescheinigt in D10 den Tetrahydrofuranylderivaten 21a und 21b mit den MES-Werten 52 und 90 (vgl. D10, Tab. II und S. 3354 re. Sp. drittle. bis zweitle. ganzer Satz) eine höhere Wirkung als dem bereits in D7 beschriebenen und dort als unwirksam befundenen Hydroxymethylderivat 49 (vgl. D10, S. 3355, re. Sp. oben; R=CH2OH in Formel 107 der D7, S. 133). Diese Werte entsprechen jedoch dem im MES-Test mäßig wirksamen Ethoxyderivat 86b der D7 und bieten als weiteres Beispiel eines in β-Stellung mit einer Alkoxygruppe substituierten Derivates keinen zusätzlichen Anhaltspunkt, die Untersuchung der Verbindung 107e in D7 wieder aufzunehmen. Im Gegenteil verfügt der Fachmann nun über Testwerte von Verbindungen des Grundgerüsts 107 mit einer Alkoxygruppe in β-Position und in α-Position elektronenarmem (C=O in Verbindg. 107c der D7) oder elektronenreicherem Kohlenstoffatom (2-Tetrahydrofuranyl in 21a, 21b der D10) mit in beiden Fällen mäßiger Wirkung.
159
Nicht zuletzt liegen die Werte der nicht aromatischen Tetrahydrofuranderivate signifikant unter denen des Furanderivats 69a der D7 und lassen die Eignung von aliphatischen Resten umso zweifelhafter erscheinen. Insoweit vermag auch der klägerseitig angesprochene Weg der Strukturvereinfachung („reductionist approach“) als eine dem Fachmann im Zusammenhang mit dem Furanderivat 69a ins Auge fallende Anregung, sich mit der Verbindung 107e weiter zu beschäftigen, nicht zu überzeugen, was auch im Urteil des High Court of Justice (D27, Rn. 169-172) diskutiert wurde. Danach müssten lediglich zwei Kohlenstoffatome des Furanrings unter Sättigung mit Wasserstoffatomen aus dem Furanring entfernt werden, um zum Racemat des Lacosamid zu gelangen. Nachweislich geht jedoch bereits die Sättigung von Furan zu Tetrahydrofuran mit einem signifikanten Wirkverlust einher, so dass ein zusätzlicher Ringabbau nicht veranlasst sein konnte.
160
Schließlich hilft auch der Inhalt der D15 aus dem Jahr 1994 nicht weiter und schließt auch keine von der Klägerin geltend gemachte Lücke. Einmal mehr weist Druckschrift D15 darauf hin, dass heterocyclisch substituierte Grundgerüste 107 der D7 eine exzellente Schutzwirkung im MES-Test zeigen und trifft im Gegensatz zu früheren Arbeiten die Aussage, dass die Platzierung eines substituierten Heteroatoms im Abstand von zwei Atomen zur C(α)-Position als zweite strukturelle Determinate den wichtigeren Faktor für die antikonvulsive Wirkung darstellt (vgl. D15: S. 4568, li. Sp. Z. 8 von unten – re. Sp. Z. 10). Dem Titel der D15, die nun auch elektronenarme Heteroaromaten als gut geeignet ausweist, was gegen eine elektrophile Bindungsstelle am Rezeptor gemäß der in D7 vermittelten Annahme spricht, und daraus, dass die zweite Determinante das vielversprechendere Konzept sei, was sich auch in der dort untersuchten Verbindung 24 (R = N(H)OCH3 in Formel 107 der D7 mit MES 6) widerspiegle, entnimmt die Klägerin einen offenen Sinn der Heteroaromaten, der sich gerade nicht auf ringförmige Strukturen beschränke, sondern auch offenkettige Verbindungen inkludiere, und eine Bestätigung des in D14 bereits früher erkannten Konzepts der Bedeutung der Heterosubstitution zwei Atome vom α-Kohlenstoff entfernt (vgl. D14: S. 2447, li. Sp. Z. 35-40 und re. Sp. „Conclusions“). Dies führe den Fachmann wieder zu den offenkettigen Substituenten und damit zu racemischem Lacosamid zurück.
161
Wie ausgeführt, waren mit der Verbindung 107c der D7 und den 2-Tetrahydrofuranyl-Derivaten 21a, 21b der D10 bereits Verbindungen getestet worden, die auch allen nachträglich aufgestellten strukturellen Konzepten zur Wirksamkeit Rechnung trugen und sich als wirkungslos oder mäßig wirksam erwiesen.
162
In Summe kann aus den Erkenntnissen der Arbeit von Le Gall (D7) und den nachfolgenden Publikationen von Prof. K…, von denen die oben diskutierten Druckschriften den insoweit wesentlichen Teil abdecken, kein Anlass gezogen werden, die Verbindung 107e aus D7 weiter zu untersuchen.
163
Gerade die Tatsache, dass sich sämtliche aliphatischen Reste, bei denen am α-C ein weiteres Kohlenstoffatom gebunden ist, solchen Strukturen als unterlegen erweisen, bei denen ein α-Heteroatom oder ein Heteroaromat an das chirale Kohlenstoffatom gebunden sind, wird den Fachmann bei sachgemäßer Bewertung der publizierten Versuchsergebnisse davon abhalten, die Untersuchung der in D7 genannten Verbindung 107e wieder aufzunehmen. Denn sowohl Substituenten mit der Struktureinheit im MES-Test brauchbarer geminaler Heteroatome als auch heteroaromatischer Substituenten unterscheiden sich von der in Rede stehenden Verbindung 107e signifikant hinsichtlich der Elektronendichte, Polarität, Form und damit Raumbeanspruchung bzw. sterischen Ausdehnung. Ausgehend von den Ergebnissen der Arbeitsgruppe um Prof. K…, speziell ausgehend von der Arbeit von Le Gall, ist somit nicht zu unterstellen, dass der Fachmann das racemische Lacosamid 107e der D7 im Licht der als unwirksam befundenen Ethoxycarbonylverbindung 107c, der mäßig wirksamen isomeren Ethoxy-Verbindung 86a und dem im Vergleich hochwirksamen aromatischen Furanderivat 69a als interessanten Ansatz erkannt hätte.
VI.
164
Damit war die Klage unabhängig von der Betrachtung der Zulässigkeit dahin, dass die Beklagte das Schutzzertifikat ausschließlich nach Anspruch 10 des Grundpatents verteidigte, abzuweisen.
165
Da auch die übrigen Bedingungen und Voraussetzungen für die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel gemäß der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 erfüllt sind, hat das angegriffene Schutzzertifikat Bestand.
VII.
166
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht auf Grund von § 99 Abs. 1 i. V. m. § 709 Satz 1 und 2 ZPO.


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