Sozialrecht

Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung durch posttraumatische Belastungsstörung

Aktenzeichen  S 12 R 1058/14

Datum:
19.1.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 105
SGB VI SGB VI § 43 Abs. 1 S. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

Bleiben alle therapeutischen Maßnahmen ohne durchgreifenden Erfolg, so dass aus Sicht des Gerichts die Behandlungsoptionen aufgrund der Schwere der Erkrankung und des schwierigen und langwierigen therapeutischen Prozesses als ausgeschöpft angesehen werden können und zeigen sich zudem keine Behandlungsoptionen, die in absehbarer Zeit die Möglichkeit der Überwindung der Erkrankung erwarten lassen, kann in einem solchen speziellen Einzelfall eine rentenrechtlich relevante Einschränkung des Leistungsvermögens vorliegen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 10.09.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2014 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin bei einem Leistungsfall mit Antragstellung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit beginnend ab 01.01.2015 befristet bis 31.12.2017 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Gründe

Das Sozialgericht Nürnberg ist sachlich und örtlich gemäß §§ 51, 57 SGG zu-ständig.
Eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG konnte aufgrund des beiderseitig erklärten Einverständnisses der Parteien ergehen. Die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt.
Die ordnungsgemäß und fristgerecht eingereichte Klage ist zulässig.
Sie ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bei einem Leistungsfall mit Antragstellung befristet auf 3 Jahre bis 31.12.2017. Der Bescheid der Beklagten vom 10.09.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Ausgangspunkt der Prüfung ist der Rentenantrag der Klägerin vom 11.06.2014. Prüfungsmaßstab ist damit die Vorschrift des § 43 SGB VI in der seit 01.01.2001 geltenden Fassung. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie – voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind, – in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und – vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage zu berücksichtigen.
Nach dem Ergebnis der Ermittlungen steht fest, dass die Klägerin einen An-spruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab Antragstellung befristet für 3 Jahre mit der im Wege des Vollbeweises erforderlichen Wahrscheinlichkeit hat. Das Gericht gelangt zu dieser Auffassung aufgrund der aktenkundigen medizinischen Unterlagen sowie des überzeugenden Gutachtens von Dr. D. vom 01.05.2015. Diese erfasst den Gesundheitszustand der Klägerin zutreffend und beschreibt das aus den festgestellten Gesundheitsstörungen abgeleitete Leistungsvermögen der Klägerin ebenso zutreffend.
Der Nachweis für die den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung begründenden Tatsachen muss im Wege des Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass die Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedeutet dabei, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann. Das Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können. Es darf dabei kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalls begründeter Zweifel mehr bestehen. Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Das heißt, für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit die Versicherte die Darlegungssowie die objektive Beweislast.
Die Klägerin leidet an psychiatrischen bzw. psychosomatischen Gesundheitsstörungen in Form einer komplexen Traumafolgestörung unter anderem mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, welche die Klägerin subjektiv deutlich beeinträchtigt und zu einer ebenso deutlichen Einschränkung der Aktivitäten in den verschiedensten Lebensbereichen führt. Dies schließt das Gericht aus dem ausführlichen Gutachten von Dr. D … Die gerichtliche Gutachterin hat zur Testung der vorliegenden Erkrankung ein strukturiertes Interview zur Erfassung der Häufigkeit und Intensität der Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass nach wie vor eine massive Belastung der Klägerin durch Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne von Wiedererlebenssymptomen, Vermeidungssymptomen und Übererregung mit einem schweren subjektiven Leiden, einer schweren sozialen Beeinträchtigung und einer schweren beruflichen Beeinträchtigung besteht. Diese Beeinträchtigung ist, nach den nachvollziehbaren Angaben von Dr. D., Teil der komplexen Traumafolgestörung, wobei sich neben dem Haupttrauma aus dem Jahr 2000, dem Suizidversuch des Ex-Mannes, auch anderer Traumata eruieren lassen. Diese leisten im Sinne von kumulativen Traumata auch einen Beitrag zum jetzigen Zustandsbild. So hat die Klägerin den Tod der Großmutter 1983 als traumatisch erlebt. Die Großmutter hatte für die Klägerin eine Mutterfunktion und wurde als deutlich liebevoller und beschützender erlebt, als die leibliche Mutter und die zerstrittenen Eltern. Des weiteren spielt auch der Verkehrsunfall aus dem Jahr 2005 eine bedeutende Rolle bei der Traumafolgestörung. Er ist der Grund, warum die Klägerin das Haus kaum mehr verlässt. Zudem ist er auf organischer Ebene der Ausgangspunkt der Schmerzen im Schulterbereich. Auch haben die mehrfachen Krankenhausaufenthalte in der Jugend der Klägerin dazu beigetra-gen, dass sie eine extreme Verlustangst in Bezug auf Bezugspersonen entwickelt hat. Weiter zu berücksichtigen ist die Tatsache, dass der Ex-Ehemann der Klägerin, nach ihren Angaben, sowohl ihr gegenüber als auch gegenüber der Kinder körperlich übergriffig wurde, was letztendlich zur Trennung geführt hat. Der Suizidversuch des Ex-Ehemannes 2000, welcher nach Ansicht der Klägerin und ihres Umfeldes von diesem absichtlich so herbeigeführt wurde, dass die Klägerin ihn miterleben musste und auch die Chance bekam ihren Ex-Ehemann zu retten, führte schließlich noch einmal massiv zur Konfrontation mit dem Tod. Dieses Ereignis ist bei der Klägerin noch immer mit sehr starken Schuldgefühlen in der Form eines Begleitsymptoms verbunden. Zwar hat die Klägerin relativ bald nach dem Suizidversuch wieder versucht auf eigenen Beinen zu stehen und eine Ausbildung in der Altenpflege geplant, in diese fiel aber der Unfall im Jahr 2005, der wiederum Auslöser der Schulter-Arm-Schmerzen war. In der Folge hat sich eine ausgeprägte Schmerzstörung mit psychischen und körperlichen Anteilen entwickelt. Mit dem Unfall verknüpft die Klägerin auch die Agoraphobie. Sie hat seitdem immer wieder Schwierigkei-ten das häusliche Umfeld zu verlassen, aus Furcht, dass sich wieder ein Unfall ereignen könnte. Die Symptome der Traumastörung wurden letztendlich aufgrund der massiven Konflikte am Arbeitsplatz während der Tätigkeit der Klägerin in einem Altenheim von 2009 bis 2011 aktiviert. Es gelang ihr dabei nicht ihre Überzeugungen und Lebensgrundsätze im Berufsleben einzubringen und umzusetzen. Ihre bisherige Erfahrung, dass ihrer berechtigten Meinung kein Gehör geschenkt wird, wurde zudem bestätigt. Die daraufhin im Jahr 2010 durchgeführte psychosomatische Behandlung wurde von der Klägerin bezüglich der Traumastörungen als äußerst hilfreich empfunden, da die Gründe der Angst entdeckt und ein Teil der Traumata bearbeitet wurden. Ein Arbeitsversuch Anfang 2012 scheiterte jedoch innerhalb von 2 Wochen, da sich die Klägerin völlig überfordert fühlte, ihre körperlichen Symptome explodierten und sich die Panikattacken extrem ver-schlimmerten. Die im selben Jahr durchgeführte konventionelle Rehabilitati-onsbehandlung erbrachte keinen subjektiven Effekt. Erst eine erneute traumaspezifische Behandlung im Jahre 2013 wurde von der Klägerin als positiv erlebt. Jedoch konnten die dort gemachten Fortschritte im Alltag nicht umge-setzt werden. Auch die im März 2013 begonnene ambulante Psychotherapie war nicht traumaspezifische und wurde somit von der Klägerin nicht als hilfreich erlebt und Anfang 2015 abgebrochen.
Nach den überzeugenden und ausführlich begründeten Angaben von Dr. W. zeigt die Klägerin derzeit das Gesamtbild einer komplexen Traumafolgestörung und erfüllt sämtliche Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die bestehende schwerwiegende psychische Störung wurde mittlerweile durch drei mehrwöchige stationäre Behandlungen behandelt aber dadurch nur zeit- und teilweise gebessert. Die Symptome der Klägerin sind immer noch massiv ausge-prägt, so dass die Klägerin aus der Sicht der Gutachterin, welcher sich das Gericht anschließt, derzeit nicht in der Lage ist einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit von 3 Stunden oder mehr nachzugehen. Als Leistungsfall ist, wie Dr. D. in ihrem Gutachten ausführt, spätestens die Antragstellung im Juni 2014 zu sehen. Da eine Besserung der Erkrankung bei entsprechenden Therapien von Dr. D. nicht gänzlich ausgeschlossen wird, ist die vorliegende Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf Zeit zu sehen.
Zu beachten ist allerdings, dass die medikamentöse Behandlung der Klägerin, worauf auch die Beklagte mehrfach hinweist, nicht komplett ausgeschöpft ist. Dies sieht auch die gerichtliche Gutachterin. Sie führt allerdings an, dass nach den Angaben des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. C. bisher immerhin drei wirksame Antidepressiva (Mirtazapin, Ci-talopram und Amitriptylin) erfolglos bei der Klägerin ausprobiert wurden. Zusammenfassend führt Dr. W. in diesem Zusammenhang an, dass die Klägerin zweimal in einer sehr guten stationären Therapie mit teilweisem Erfolg behandelt wurde und einmal erfolglos in einer Rehabilitationsmaßnahme konventioneller Art sowie ebenso erfolglos eine Psychotherapie konventioneller Art absolviert hat. Auch sieht Dr. W. genau wie Dr. N. eine Berentung der Klägerin nicht als ideale Maßnahme an. Jedoch besteht durch die schwere posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin eine tatsächliche Behinderung in sämtlichen Le-bensbereichen, welche die Klägerin derzeit nicht vollschichtig auf dem allge-meinen Arbeitsmarkt einsetzbar macht. Trotz mehrerer stationärer Aufenthalte in spezialisierten Kliniken ist es der Klägerin bisher nicht gelungen, annähernd normalen Freizeitaktivitäten nachzugehen oder einen vergleichsweise normalen Alltagsrhythmus aufrechtzuerhalten. Die Anzahl der durchgeführten Therapien dokumentiert sehr deutlich, dass durchaus bereits die verschiedensten Therapieoptionen ausprobiert wurden und die Klägerin nicht primär Therapien verweigert oder ihnen negativ gegenübersteht. Sicherlich sind die therapeutischen Möglichkeiten, gerade was die antidepressiven Medikamente betrifft, nicht bis ins Letzte ausgereizt. Jedoch ist zu beachten, dass Antidepressiva nur positive Wirkung auf die rezidivierende depressive Störung und die Angsterkrankung haben können. Die Hauptproblematik der Klägerin liegt aber – und dies hat Dr. D. in ihrem Gutachten ausführlich untersucht und dargestellt – in der Beherrschung der Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung und der Schmerzerkrankung. Dies kann wiederum nur durch eine spezielle Psychotherapie und das Erlernen von Techniken zur Beherrschung der Traumafolgen behandelt werden. Bei der Klägerin zeigt sich aber sehr deutlich, dass sie trotz der durchgeführten Therapiemaßnahmen die Schwere der Erkrankung nicht aus eigener Kraft beherrschen kann. Die Klägerin selbst hat jeden Versuch unternommen die Erkrankung erfolgreich behandeln zu lassen. Seit 2010 befindet sie sich bei Dr. C. in Behandlung, von De-zember 2010 bis Februar 2011 wurde eine ambulante Langzeittherapie durchgeführt. Des weiteren wurden Rehabilitationsmaßnahmen von Oktober 2012 bis November 2012 und eine erneute Traumatherapie von April 2013 bis Juni 2013 sowie eine weitergehende ambulante Therapie durchgeführt. All diese Maßnahmen blieben bis zum jetzigen Zeitpunkt ohne durchgreifenden Erfolg, so dass aus Sicht des Gerichts die Behandlungsoptionen aufgrund der Schwere der Erkrankung und des schwierigen und langwierigen therapeutischen Prozesses hier derzeit durchaus als ausgeschöpft angesehen werden können. Behandlungsoptionen, die in absehbarer Zeit die Möglichkeit der Überwindung der Erkrankung erwarten lassen, sind nicht ersichtlich. Daher liegt in diesem speziellen Einzelfall eine rentenrechtlich relevante Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin vor.
Wie bereits ausgeführt, ist die Klägerin ab Antragstellung nur unter 3 Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar, so dass eine volle Erwerbsminderung vorliegt, § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI. Dieser Zustand wird nach den Angaben von Dr. W. in ihrem Gutachten vom 01.05.2015 voraussichtlich noch mindestens 2 Jahre bestehen. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung war daher für die Dauer von 3 Jahren bis 31.12.2017 zu befristen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 105 Abs. 1 Satz 3, 193 SGG.


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