Aktenzeichen L 7 R 5045/16
SGB VI SGB VI § 1 S. 1 Nr. 1, § 5 Abs. 4 Nr. 1, § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
SGB III SGB III § 25 Abs. 1, § 28 Abs. 1 Nr. 1
SGB IV SGB IV § 7 Abs. 1
Leitsatz
1. Wird bei einer Statusfeststellung durch einen Verwaltungsakt ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis, aber keine Versicherungspflicht in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung festgestellt, ist der Kläger formell beschwert und klagebefugt. Ausreichend ist die Behauptung, es liege eine selbstständige Tätigkeit vor. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Feststellung der Versicherungsfreiheit auf die zutreffenden Normen gestützt wird. (amtlicher Leitsatz)
2. Auch bei einer Feststellung der Versicherungsfreiheit ist ein Feststellungsinteresse zu bejahen. Der Kläger hat ein rechtliches Interesse an der zutreffenden Feststellung, ob eine abhängige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird, und der sich hieraus ergebenden Folgen der Versicherungspflicht bzw. Versicherungsfreiheit. (amtlicher Leitsatz)
Tenor
I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 28. Januar 2016 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) der Kläger ist unbegründet. Die Bescheide vom 18.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.3.2014 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten.
Richtige Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt., § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG (vgl. Bay. LSG vom 16.7.2015, L 7 R 181/15), die zulässig ist. Die Kläger sind formell beschwert und klagebefugt. Eine Klagebefugnis ist bereits dann zu bejahen, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Bescheid rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten beeinträchtigt wird. Die Kläger haben einen Anspruch darauf, dass die Versicherungsfreiheit auf die zutreffenden Normen gestützt wird. Wenn der Kläger zu 1 selbstständig ist, dann besteht bereits keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, § 25 Abs. 1 SGB III. Die nach Auffassung der Beklagten anzuwendenden Normen zur Versicherungsfreiheit des Klägers zu 1 nach § 5 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI und § 28 Abs. 1 Nr. 1 SGB III setzen jedoch eine grundsätzlich bestehende Versicherungspflicht der ausgeübten Beschäftigung voraus. Als eine Folge davon bleibt der Arbeitgeber in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI beitragspflichtig.
Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ist § 7 Abs. 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setzt eine solche versicherungspflichtige Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Diese Weisungsgebundenheit kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und er dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet.
Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich ausgehend von den genannten Umständen nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (st. Rspr. vgl. u. a. BSG vom 29.8.2012, B 12 KR 25/10 R, Rn. 15).
Ob eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung gerechtfertigt ist, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die hieraus gezogene Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung gehen der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine formlose Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht. In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von Vereinbarungen abweichen. Maßgebend ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so wie sie rechtlich zulässig ist (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 16).
Unter Anwendung dieser Grundsätze und ausgehend von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls überwiegen vorliegend im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung die Merkmale, die für eine abhängige Beschäftigung sprechen.
Ausgangspunkt ist zunächst der grundsätzlich weiterhin geltende „Anstellungsvertrag“ aus dem Jahre 1985. Dieser enthält wesentliche Merkmale einer abhängigen Beschäftigung. Darin wurde ein erfolgsunabhängiges monatliches Festgehalt von aktuell brutto 6.000 € vereinbart sowie ein 13. Monatsgehalt als Weihnachts- und Urlaubsentgelt (§ 2). Der Kläger zu 1 hat ferner Anspruch auf Erstattung nachgewiesener Reisekosten und sonstiger Aufwendungen (§ 3), Anspruch auf 6 Wochen Erholungsurlaub (§ 4) und auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf die Dauer von 6 Monaten (§ 5). Im Gegenzug dazu hat sich der Kläger zu 1 verpflichtet, sein ganzes Wissen und Können und seine volle Arbeitskraft der Klägerin zu 2 zur Verfügung zu stellen (§ 7). Der Vertrag ist für die Klägerin zu 2 aus wichtigem Grund mit einer Frist von 6 Monaten zum Jahresende kündbar. Ein monatliches Festgehalt, ein 13. Monatsgehalt, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Erholungsurlaub, Reisekostenerstattung und eingeschränkte Kündigungsmöglichkeiten sind Arbeitnehmerrechte, wie sie typischerweise, ohne Beteiligung am Erfolg bzw. Misserfolg des Unternehmens infolge fehlender Anteile am Stammkapital, in einem Arbeitsvertragsverhältnis bestehen. Als Gegenleistung schuldete der Kläger zu 1 seine Arbeitskraft. Ihm wurde Gesamtprokura zusammen mit einem Geschäftsführer oder weiteren Prokuristen eingeräumt. Damit erreichte der Kläger zu 1 letztlich die Stellung eines leitenden Angestellten unterhalb der Ebene des Geschäftsführers.
Der Beurteilung der Tätigkeit als abhängige Beschäftigung steht nicht entgegen, dass der Kläger zu 1 als Firmengründer weiterhin „Kopf und Seele“ des Familienunternehmens ist. Die für das Leistungsrecht der Arbeitsförderung und der Unfallversicherung entwickelte „Kopf und Seele“ – Rechtsprechung hat das Bundessozialgericht ausdrücklich in seiner Entscheidung vom 11.11.2015, B 12 R 2/14 R, Rn. 42 aufgegeben.
Das BSG hat bereits entschieden, dass für die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit es auch bei Familiengesellschaften entscheidend darauf ankommt, ob der Betroffene die im Gesellschaftsrecht wurzelnde Rechtsmacht besitzt, unliebsame Weisungen des Arbeitgebers bzw. Dienstberechtigten abzuwenden. Das aufgrund familiärer Rücksichtnahme gegenseitige Einvernehmen und die hierdurch gegebene faktische Möglichkeit der Einflussnahme sind nicht ausreichend. Eine bloße „Schönwetter-Selbstständigkeit“ ist mit Blick auf das Erfordernis der Vorhersehbarkeit sozialversicherungs- und beitragsrechtlicher Tatbestände nicht hinnehmbar (vgl. BSG vom 29.7.2015, B 12 KR 23/13 R, Rn. 23 bis 26).
Die dem Kläger zu 1 eingeräumten weitreichenden Befugnisse führen genauso wenig wie die faktische Nichtausübung eines Weisungsrechts gegenüber dem Kläger zu 1 zur Annahme einer selbstständigen Tätigkeit. Ohne die Innehaben einer Gesellschafterstellung besitzt der Kläger zu 1 nicht die Möglichkeit, ihm unliebsame Weisungen des Geschäftsführers abzuwenden. Das BSG hat bereits im Falle eines Minderheitengesellschafters, der in der Gesellschaft angestellt und nicht zugleich Geschäftsführer ist, entschieden, dass dieser nicht die Rechtsmacht besitzt, seine Weisungsgebundenheit als Angestellter der Gesellschaft aufzuheben oder abzuschwächen. Das Weisungsrecht gegenüber Angestellten der GmbH ist vielmehr Sache der laufenden Geschäftsführung (vgl. BSG vom 11.11.2015, B 12 KR 13/14 R, Rn. 21). Der Kläger zu 1 ist nicht einmal Minderheitengesellschafter bei der Klägerin zu 2.
An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts durch das schriftliche, schuldrechtlich vereinbarte Vetorecht zugunsten des Klägers zu 1 bzgl. sämtlicher Entscheidungen betreffend die Gesellschaft. Dieses Vetorecht ist im Gesellschaftsvertrag nicht verankert worden. Gegenteiliges wurde hierzu nicht vorgetragen. Selbst wenn dies der Fall wäre, wäre dies als Stimmrechtsübertragung gesellschaftsrechtlich unwirksam. Es verstößt gegen das sog. Abspaltungsverbot, nach dem das Stimmrecht des Gesellschafters nicht ohne den dazugehörenden Geschäftsanteil übertragen werden kann (vgl. BSG vom 11.11.2015, B 12 R 2/14 R, Rn. 30, 31).
Als bloße schuldrechtliche Vereinbarung stellt es eine Ergänzung zum Anstellungsvertrag dar, welches dessen Schicksal teilt. Dem Kläger zu 1 kann aus wichtigem Grund außerordentlich gekündigt werden. Damit ist auch das Vetorecht aus wichtigem Grund kündbar (vgl. BSG vom 11.11.2015, B 12 KR 10/14 R, Rn. 26 ff). Das Vetorecht verleiht somit nicht die Rechtsmacht, unliebsame Weisungen der Geschäftsführer abzuwenden.
Schließlich trägt der Kläger zu 1 kein Unternehmerrisiko. Die Gefahr des Verlustes seines festen Monatsgehalts durch Insolvenz der Klägerin zu 2 ist nicht anders zu beurteilen als das Risiko eines Arbeitnehmers im Falle der Insolvenz seines Arbeitgebers.
Im Hinblick auf die fehlende Rechtsmacht, unliebsame Weisungen der Geschäftsführer abzuwenden, fällt die Möglichkeit, die Arbeitszeit frei zu bestimmen nicht weiter ins Gewicht. Der Kläger zu 1 bleibt in das Unternehmen eingegliedert.
Die Ausübung von Arbeitgeberfunktionen selbst durch einen Geschäftsführer ist nicht ausschlaggebend für die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit (vgl. BSG vom 18.12.2001, B 12 KR 10/01 R).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Kläger sind unterlegen. Der Kläger zu 1 ist kostenprivilegiert nach § 183 SGG. Diese Kostenprivilegierung erstreckt sich auf die an sich nach § 197a SGG kostenpflichtige Klägerin zu 2, da es sich um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt (vgl. Bay. LSG, a. a. O., Rn. 60 m. w. N.).
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.