Sozialrecht

Asyl, N., Familie mit zwei minderjährigen weiblichen Kindern, Mutter erneut schwanger, Gefahr der Beschneidung, Tochter mit homozygoter Sichelzellerkrankung, Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen (bejaht)

Aktenzeichen  M 13 K 17.46833

Datum:
14.7.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18647
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Juli 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich N. vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerinnen ¾ und die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet.
Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Insoweit war die Klage abzuweisen.
Zur Begründung wird zunächst hinsichtlich der vor Erlass des hier streitgegenständlichen Bescheids geltend gemachten Fluchtgründe auf die zutreffenden Ausführungen im hier streitgegenständlichen Bescheid verwiesen, denen der erkennende Einzelrichter folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Hinsichtlich der nachträglich geltend gemachten Gefahr der Beschneidung der Klägerin zu 2, ausgehend von der Familie des Klägers, wird zur Begründung ergänzend auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid des Bundesamts vom 12. November 2021 betreffend die Klägerin verwiesen, denen der erkennende Einzelrichter hier ebenso folgt wie im Urteil vom 14. Juli 2022 betreffend die Klägerin (M 13 K 21. …). Diese gelten hier für die Klägerin zu 2 entsprechend, fußen zudem auf einem neueren Erkenntnisstand als es der hier streitgegenständliche Bescheid hätte tun können, wäre die Gefahr der Beschneidung für die Klägerin zu 2 bereits vor Erlass des hier streitgegenständlichen Bescheids geltend gemacht worden.
Die Klägerinnen haben jedoch – durch Umstände, die nach Erlass des hier streitgegenständlichen Bescheids aufgetreten sind (§ 77 Abs. 1 AsylG) – einen Anspruch darauf, dass die Beklagte für sie ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG feststellt.
Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) müssen die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Allgemein schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine Handlung oder Unterlassung von Verfolgungsakteuren (vgl. § 3c AsylG) zurückzuführen sind, können nur in besonderen Ausnahmefällen zur Feststellung eines Abschiebungsverbots führen Denn Art. 3 EMRK enthält keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, nicht bleibeberechtigte Ausländer in ihrem Hoheitsgebiet dauerhaft mit einer Wohnung oder finanzieller Unterstützung zu versorgen, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 20). Nach der neueren Rechtsprechung kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht sein, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not wiederfände, die es ihr nicht erlauben würde, selbst die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, namentlich sich zu ernähren, zu waschen und ein Obdach zu finden, und ihre Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen mit der Menschenwürde unvereinbaren Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, Stand 1.1.2021, § 60 AufenthG Rn. 23). Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – juris LS 1 und Rn. 9, 11).
Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022, 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022 vom 21.4.2022) ist Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht.
Im vorliegenden Fall geht der Einzelrichter davon aus, dass bereits jetzt absehbar ist, dass den Klägerinnen (die Klägerin zu 1 ist aktuell im 8. Monat schwanger) und ihrem Familienverband mit dem Kläger und der Klägerin, der weiteren 2021 geborenen Tochter, bei einer Ausreise nach N. mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen eine Verelendung drohen würde.
Denn es ist nicht nur zu berücksichtigen, ob die Klägerin zu 1 und der Kläger voraussichtlich in der Lage sein würden, zusammen – ggf. unter wechselseitiger Betreuung der Kinder – das ganz normale alltägliche Existenzminimum für die bald insgesamt fünfköpfige Familie – also ohne Berücksichtigung von Behandlungskosten für die Klägerin zu 2 – zu erwirtschaften. Dabei ist zu beachten, dass eine Unterstützung durch die Familie des Klägers nicht zur Verfügung stehen würde, weil das Bundesamt die Klägerin zu 1 und den Kläger wegen einer durch diese Familie des Klägers drohenden Beschneidungsgefahr hinsichtlich der Klägerin (und damit realiter auch hinsichtlich der Klägerin zu 2) auf die Inanspruchnahme internen Schutzes verwiesen hat. Die Mutter der Klägerin hat auch keinen unterstützungsfähigen Familienverband (mehr).
Es ist auch nicht nur zu berücksichtigen, ob die homozygote Sichelzellerkrankung der Klägerin zu 2 irgendwo in N. grundsätzlich adäquat behandelbar ist und ob die – zusätzlichen – Kosten hierfür ggf. unter Verwendung von Rückkehrhilfen für eine gewisse Zeit finanziert werden könnten, so dass der Klägerin zu 2 zumindest alsbald nach einer Ankunft in N. keine lebensbedrohliche Gesundheitsgefahr drohen würde.
Vielmehr ist in einer Gesamtbetrachtung mit zu berücksichtigen, dass sich die Eltern der Klägerin zu 2 mit ihren (demnächst drei) Kindern dauerhaft in unmittelbarer Nähe einer Fachklinik mit Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit Sichelzellerkrankung und einer Notfallaufnahme sowie Kinderintensivstation niederlassen müssten, um im Falle einer jederzeit unerwartet möglichen medizinischen Krise mit der Klägerin zu 2 innerhalb kürzester Zeit in einer solchen Klinik sein zu können (vgl. ärztliches Attest der LMU Klinikum der Universität M. Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von H. Kinderspital vom 12.8.2020). Auch wenn die erfolgte Stammzellentransplantation zu dem gewünschten Erfolg einer Verbesserung des Gesundheitszustandes der Klägerin zu 2 führen würde (was derzeit nach Auskunft der Ärzte noch nicht prognostizierbar ist), wären sie für die Zeit der notwendigen Nachsorge (mindestens 5-10 Jahre) noch auf eine solche kliniknahe Wohnsitznahme angewiesen, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Abstoßungsreaktion bei der Klägerin zu 2, die eines schnellen medizinischen Eingreifens bedürfen würde.
Es ist zur Überzeugung des Einzelrichters nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Klägerin zu 1 und dem Kläger dies – insbesondere mangels finanzieller Unterstützung durch die Familie des Klägers (s.o.) -gelingen könnte. Vielmehr geht der Einzelrichter davon aus, dass nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen unter Aufbietung aller Kräfte auf Dauer vielleicht die Finanzierung der Krankheitskosten der Klägerin zu 2 gerade so möglich wäre, deswegen aber der Familie als Ganzes Verelendung drohen würde. Denn solche Gegebenheiten würden die Eltern der Klägerin zu 2 und der Klägerin (und demnächst noch eines Sohnes) nur in einer der großen Städte N.s vorfinden können, mit einerseits gegenüber auf dem Land absehbar viel höheren Lebenshaltungskosten, insbesondere auch zu erwartenden höheren Mietkosten, und andererseits einem angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation in N. hart umkämpften Arbeitsmarkt bei hoher Arbeitslosigkeit. Nach dem zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22. Februar 2022 gibt es darüber hinaus zwar „eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt.“ (Seite 21).
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei den Klägerinnen ebenfalls erfüllt sind (Klägerin zu 1: allergisches Asthma; Klägerin zu 2: Sichelzellerkrankung), bedarf keiner Prüfung mehr, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG um einen einheitlichen Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – NVwZ 2012, 240 Rn. 16).
Mit der Aufhebung von Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids und der Verpflichtung der Beklagten, das Vorliegen der diesbezüglichen Abschiebeverbotsvoraussetzungen festzustellen, wird die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 gegenstandslos, ebenso die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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