Sozialrecht

Beginn einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach Wegfall eines Teilzeitarbeitsplatzes – gleichzeitiger Beginn einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen

Aktenzeichen  L 3 R 196/20

Datum:
10.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 3. Senat
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:LSGST:2022:0310.L3R196.20.00
Normen:
§ 34 Abs 4 Nr 1 SGB 6
§ 43 Abs 1 S 2 SGB 6
§ 43 Abs 2 S 2 SGB 6
§ 89 Abs 1 S 2 Nr 7 SGB 6
§ 89 Abs 1 S 2 Nr 11 SGB 6
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Spruchkörper:
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Leitsatz

Zum Beginn einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Wegfall des Teilzeitarbeitsplatzes und der daraus resultierenden Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes bei gleichzeitigem Beginn der Altersrente für schwerbehinderte Menschen. (Rn.35)

Verfahrensgang

vorgehend SG Magdeburg, 25. Juni 2020, S 10 R 21/19, Urteil

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 25. Juni 2020 geändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
Kosten sind zwischen den Beteiligten in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist noch umstritten, ob der Klägerin – wie vom Sozialgericht entschieden – anstelle der von der Beklagten zuerkannten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ein Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung – SGB VI) vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2021 zusteht.
Die am … 1956 geborene Klägerin ist ausgebildeter Chemiefacharbeiter. Nach einer beruflichen Umorientierung und dem berufsbegleitenden Studium der Staatswissenschaften war sie ab 1991 in der Kreisverwaltung, zunächst in der Kfz-Zulassungsstelle und zuletzt seit 2014 vollschichtig im Umweltamt beim Landkreis … (im Weiteren: Landkreis), Bereich Abfallentsorgung, versicherungspflichtig beschäftigt. Ab dem 3. März 2016 war sie arbeitsunfähig erkrankt und bezog sodann vom 14. April 2016 bis zum 30. August 2017 Krankengeld. Vom 31. August 2017 bis zum 29. August 2019 erhielt sie Arbeitslosengeld.
Bei der Klägerin ist seit dem 23. November 2000 ein Grad der Behinderung von 60 mit den Merkzeichen „G“ und „B“ festgestellt.
Die Klägerin beantragte am 21. September 2016 die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung. Sie leide insbesondere seit 1996 nach einer Operation der Bandscheiben durchgehend an Problemen der Lendenwirbelsäule. Hinzu komme der Zustand nach einer Lungenoperation aufgrund einer 1966 durchgemachten Tuberkulose. Seit 1997 bestünden ferner Herzrhythmusstörungen und ein Geschwürsleiden des Verdauungstraktes. Sie könne keinerlei Arbeiten mehr verrichten.
Die Beklagte holte u.a. Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. M. vom 17. Oktober 2016, von der Fachärztin für Innere Medizin/Pneumologie/Allergologie Dr. R. vom 4. November 2016 und von dem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. H. vom 31. Mai 2017 ein. Dr. M. kam zu dem Ergebnis, die Klägerin könne aufgrund des Zustandes nach Bandscheibenoperation und ausgeprägten degenerativen Veränderungen der Hals- und Lendenwirbelsäule nicht mehr in ihrem letzten Beruf als Verwaltungsfachangestellte tätig sein. Einschränkungen bestünden insbesondere für langes Sitzen, langes Stehen, Heben und Tragen von Lasten, Treppen/Leitern steigen sowie Arbeiten unter Zeitdruck und bei widrigen Umwelteinflüssen. Leichte körperliche Tätigkeiten im Wechselrhythmus seien der Klägerin bis zu drei Stunden täglich möglich. Dr. R. führte aus, das Leistungsvermögen der Klägerin sei aus internistisch-pneumologischer Sicht hinsichtlich der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) Stadium III mittelschwer eingeschränkt. Die Tätigkeit als Verwaltungsfachangestellte sei ihr gleichwohl vollschichtig zumutbar. Dr. H. stellte auf seinem Fachgebiet keine Einschränkung der beruflichen Belastbarkeit fest. Zu berücksichtigen sei jedoch die Summierung und Interaktion der orthopädischen und pulmologischen Erkrankungen.
Nach Auswertung der medizinischen Ermittlungen durch den prüfärztlichen Dienst kam die Beklagte zu dem Ergebnis, dass die Klägerin sowohl ihre Tätigkeit als Verwaltungsangestellte als auch leidensgerechte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch drei bis unter sechs Stunden täglich verrichten könne. Nachdem der Landkreis der Beklagten unter dem 28. August 2017 bescheinigt hatte, der Klägerin ab sofort einen dem Leistungsvermögen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz anbieten zu können, bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 30. November 2017 – ausgehend vom Eintritt des Leistungsfalls der teilweisen Erwerbsminderung am 3. März 2016 – Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung vom 1. September 2016 bis zum 30. September 2022, dem Ende des Monats, in dem die Regelaltersgrenze erreicht werde. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehe nicht, da die Klägerin noch mindestens drei Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könne und ihr ein Arbeitsplatz zur Verfügung stehe. Dies gelte auch, wenn die Klägerin ihre Beschäftigung aufgebe.
Am 31. Januar 2018 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 30. November 2017 gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – SGB X). Sie sei seit März 2016 fortlaufend krankgeschrieben und werde auch künftig nicht arbeitsfähig in die Verwaltung auf einen Computerarbeitsplatz zurückkehren können.
Die Beklagte holte einen Behandlungs- und Befundbericht von der Fachärztin für Orthopädie/Chirotherapie Dr. K. vom 14. Mai 2018 und ein Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie/Rheumatologie Dr. J. vom 22. Juni/August 2018 ein. Dr. J. kam zu dem Ergebnis, die Klägerin könne als Verwaltungsangestellte nur noch unter drei Stunden täglich arbeiten und leichte körperliche Arbeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen drei bis unter sechs Stunden täglich verrichten. Sodann lehnte die Beklagte den Antrag auf Rücknahme des Bescheides vom 30. November 2017 ab. Die gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin seien bei der Beurteilung des Leistungsvermögens berücksichtigt worden. Aus den zusätzlich eingeholten Befunden und dem Gutachten ergebe sich (weiterhin) ein Leistungsvermögen von täglich drei bis unter sechs Stunden im bisherigen Beruf und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Da der Arbeitgeber einen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz anbieten könne, sei der Klägerin der Arbeitsmarkt nicht verschlossen (Bescheid vom 14. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2018).
Am 20. Dezember 2018 beantragte die Klägerin die Bewilligung von Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit einem Rentenbeginn ab dem 1. Januar 2019. Mit Bescheid vom 10. Januar 2019 bewilligte die Beklagte der Klägerin die beantragte Rente ab dem 1. Januar 2019 mit einem monatlichen Zahlbetrag von 1.266,92 €.
Am 10. Januar 2019 hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Magdeburg Klage erhoben und zunächst mit der Klageschrift die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 14. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2018 sowie die Verurteilung der Beklagten, ihr vom „28. Januar 2018“ an Rente wegen Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen, verfolgt. Die durch die Beklagte vorgenommene Leistungsbeurteilung sei unrichtig. Eine weitere Beweisaufnahme werde insoweit ihre volle Erwerbsminderung ergeben.
Das Sozialgericht hat Behandlungs- und Befundberichte von dem Facharzt für HNO-Heilkunde Dr. W. vom 6. März 2019, von der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. A. vom 12. März 2019, von dem Facharzt für Innere Medizin/Pneumologie S. (Eingang am 10. April 2019) und von Dr. K. vom 29. April 2019 eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 61f., 64 bis 68, 69 bis 76 und 78 bis 89 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Der Landkreis hat auf Nachfrage des Sozialgerichts am 21. Januar 2020 mitgeteilt, ein Angebot der Weiterbeschäftigung der Klägerin bestehe nicht, da das bestehende Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 2018 aufgehoben worden sei. Seinerzeit habe das Angebot eine Weiterbeschäftigung im Umfang von drei Stunden im Fachbereich Umwelt, Sachgebiet Abfallwirtschaft, als Sachbearbeiterin Abfallgebühreneinzug umfasst. Die Klägerin hat auf Aufforderung des Sozialgerichts den Auflösungsvertrag zum 31. Dezember 2018 vom „nicht lesbar.01.2019“ vorgelegt. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 101f. und Blatt 104 der Gerichtsakte verwiesen.
Der mit der Prozessführung bevollmächtigte Rechtsanwalt der Klägerin hat sodann auf die Aufforderung des Sozialgerichts, sofern Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestehe, die abschließenden Anträge zu formulieren, mit Schriftsatz vom 29. April 2020 – Eingang am 4. Mai 2020 – zunächst das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt sowie neben der Aufhebung des angefochtenen Bescheides (Ziff. 1 des Klageantrags) unter Ziff. 2 beantragt, die Beklagte zu verurteilen, „der Klägerin vom 28.01.2018 bis 31.12.2018 Rente wegen Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.“ Am 6. Mai 2020 hat er mitgeteilt, „korrigierend“ zu den Anträgen vom 29. April 2020 unter Ziff. 2 die Verurteilung der Beklagten zu verfolgen, „der Klägerin vom 01.09.2016 bis 31.12.2018 Rente wegen Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen“. Infolge eines Schreibfehlers sei der Klageantrag ab dem28. Januar 2018 datiert. Es werde gebeten, die vorgenommene Korrektur entsprechend zu berücksichtigen. Das Sozialgericht hat die Klägerin daraufhin unter dem 8. Mai 2020 darauf hingewiesen, es sei geboten, dass der Klageantrag konkretisiert werde im Hinblick auf „Rente wegen voller Erwerbsminderung, Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.“ Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 14. Mai 2020 „nunmehr korrigierend abschließend“ unter Ziff. 2 beantragt, die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin „vom 01.09.2016-31.12.2018 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bzw. Rente wegen Berufsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.“ Ausweislich des Telefonvermerks vom 22. Juni 2020 hat der Kammervorsitzende dem Klägerbevollmächtigten einen telefonischen Hinweis zur Sach- und Rechtslage sowie zur sachdienlichen Antragstellung gegeben. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin einen unter dem 12. Mai 2020 datierten und am 22. Juni 2020 beim Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz mit der Überschrift „Antragskonkretisierung“ übersandt, in dem unter Ziff. 2 die Verurteilung der Beklagten, „der Klägerin vom 01.09.2016 Rente wegen Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bzw. Rente wegen Berufsunfähigkeit und ab 01.01.2019 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen.“ geltend gemacht wird.
Die Beklagte, die sich mit Schriftsatz vom 23. April 2020 – eingegangen am 29. April 2020 – mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt hat, hat auf die Aufforderung des Sozialgerichts, einen abschließenden Antrag zu formulieren, auch nach einer Erinnerung vom 8. Mai 2020 nicht reagiert.
Das Sozialgericht hat sodann mit Urteil ohne mündliche Verhandlung am 25. Juni 2020 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2018 und unter Abänderung des Bescheides vom 30. November 2017 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2021 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu leisten. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Ausweislich der ärztlichen Dokumentationen leide die Klägerin wesentlich unter degenerativen Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates sowie einer Lungenerkrankung. Aufgrund der damit einhergehenden Funktionsstörungen sei die Erwerbsfähigkeit der Klägerin auf drei bis unter sechs Stunden täglich vermindert. In der Folge habe die Beklagte der Klägerin zu Recht beginnend ab dem 1. September 2016 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bewilligt. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung habe der Klägerin bis zum 31. Dezember 2018 nicht zugestanden, da nach einhelliger Feststellung sämtlicher in das Verfahren einbezogenen Mediziner eine Erwerbsminderung auf unter drei Stunden täglich für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bei der Klägerin nicht bestehe und ihr bis zum 31. Dezember 2018 ein leidensgerechter und den beruflichen Fähigkeiten entsprechender Teilzeitarbeitsplatz zur Verfügung gestanden habe. Seit Januar 2019 stehe der Klägerin kein adäquater Teilzeitarbeitsplatz mehr zur Verfügung und der Arbeitsmarkt sei insoweit als verschlossen anzusehen. Soweit der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen sei, bestehe auch für Versicherte mit teilweiser Erwerbsminderung ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Dies ergebe sich in sinngemäßer Auslegung des § 224 Abs. 1 SGB VI i.V.m. dem Urteil des Bundessozialgerichts [BSG] vom 22. Juni 1978 (11 RA 76/77). Ein Anspruch der Klägerin schon ab dem 1. September 2016 über die bereits bewilligte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung hinaus bestehe aus den vorstehend genannten Gründen nicht.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 14. Juli 2020 zugestellte Urteil am 13. August 2020 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Das Sozialgericht habe den Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit unzutreffend bestimmt. Aus den Entscheidungsgründen ergebe sich als Leistungsfall der 31. Dezember 2018, da ein Teilzeitarbeitsplatz ab dem 1. Januar 2019 nicht mehr zur Verfügung gestanden habe. Der Rentenbeginn bestimme sich daher nach § 99 Abs. 1 SGB VI i.V.m. den §§ 101 Abs. 1 und 102 Abs. 1 und 2 SGB VI, wonach befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet werden. Der frühestmögliche Rentenbeginn sei demnach der 1. Juli 2019 und nicht der 1. Januar 2019. Zudem habe das Sozialgericht übersehen, dass hier dem Bezug der Rente wegen voller Erwerbsminderung die Regelung des § 34 Abs. 4 SGB VI entgegen stehe. Da die Klägerin bereits seit dem 1. Januar 2019 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen beziehe, sei es nicht zulässig, von der bereits gezahlten Altersrente in die Rente wegen voller Erwerbsminderung zu wechseln, weil sich für diese Rente ein Rentenbeginn am 1. Juli 2019 ergebe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 25. Juni 2020 zum Aktenzeichen S 10 R 21/19 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig. Vom Gesetz sei festgelegt, dass die Altersrente nicht geringer ausfallen dürfe als die „bis zum Zeitpunkt bezogene Erwerbsminderungsrente“. Sofern die Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Januar 2019 höher ausfalle als die jetzige Altersrente für schwerbehinderte Menschen, habe sie rückwirkend die höhere Rente zu erhalten. Zudem hat sie im Hinblick auf die auf Veranlassung des Senats auf der Grundlage eines angenommenen Leistungsfalls am 31. Dezember 2018 sowie eines Rentenbeginns am 1. Juli 2019 durch die Beklagte vorgenommene Rentenauskunft das Vergleichsangebot unterbreitet, dass ihr die Beklagte für die Zeit vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2021 Rente wegen voller Erwerbsminderung i.H.v. 1.601,57 €/Monat/Netto (entsprechend dem in der Rentenauskunft berechneten Betrag) zahle und die Beklagte die Berufung zurücknehme.
Die Beklagte hat dem Vergleichsangebot der Klägerin nicht zugestimmt. Sie hat – ebenfalls auf Veranlassung des Senats – unter dem 10. Mai 2021 einen fiktiven Rentenbescheid erstellt, in dem sie die Rente wegen voller Erwerbsminderung beginnend ab dem 1. Januar 2019 mit einem monatlichen Zahlbetrag zum 1. Juli 2021 von 1.556,04 € errechnet hat. Die Klägerin hat durch ihren Prozessbevollmächtigten gegen diesen fiktiven Rentenbescheid Widerspruch eingelegt.
Die Berichterstatterin hat mit gerichtlichem Schreiben vom 9. August 2021 darauf hingewiesen, dass mit Ablauf des 31. Dezember 2018 eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X dahingehend eingetreten sei, dass der Arbeitsplatz durch Abschluss des Aufhebungsvertrages weggefallen sei. Damit habe ab dem 1. Januar 2019 ein Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung bestanden, da der Leistungsfall der teilweisen Erwerbsminderung bereits am 3. März 2016 eingetreten sei und vor Ablauf der in dem insoweit bestandskräftigen Bescheid vom 30. November 2017 bestimmten Befristung zum 30. September 2022 eine vorherige Änderung oder ein Ende der Rente gemäß § 102 Abs. 1 S. 2 SGB VI aus anderen Gründen nicht ausgeschlossen sei. Dem stehe auch nicht § 34 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI entgegen, wonach für Zeiten des Bezugs einer Rente wegen Alters der Wechsel in eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ausgeschlossen sei. Von dieser Regelung sei der Anspruch auf eine andere Rente nicht betroffen, wenn diese vor oder gleichzeitig mit der Altersrente beginne. Der Widerspruch gegen die fiktive Rentenberechnung sei unzulässig.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 15. November 2021 an der Berufung mit ausführlicher Begründung festgehalten. Sie hat hervorgehoben, dass es sich bei den Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung einerseits und Rente wegen voller Erwerbsminderung andererseits um verschiedene Rentenansprüche handele. Der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung sei erst am 31. Dezember 2018 eingetreten. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung lägen damit erstmals seit diesem Zeitpunkt vor. Für den neu entstandenen Einzelanspruch seien jedoch die Regelungen zum Rentenbeginn erneut anzuwenden. Gemäß §§ 101 Abs. 1 und 102 Abs. 1 und 2 SGB VI beginne die befristete Rente mit Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Erwerbsminderung. Dies gelte auch für eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn eine (befristete) Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung in eine solche umgewandelt werde. Da der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung am 31. Dezember 2018 eingetreten sei, sei daran festzuhalten, dass diese Rente frühestens am „1. Juli 2020“ habe beginnen können. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beklagten wird auf Blatt 251 bis 252 der Gerichtsakten Bezug genommen.
Die Klägerin hat in ihrer Erwiderung hierauf vom 2. Dezember 2021 auf das gerichtliche Schreiben vom 9. August 2021 verwiesen.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 20. Januar 2022 hat der Senat darauf hingewiesen, dass die Standpunkte ausgeschrieben sein dürften und um Mitteilung gebeten, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestehe.
Die Beteiligten haben sich sodann mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Senat einverstanden erklärt (Schriftsätze der Klägerin vom 20. Januar 2022 und der Beklagten vom 7. Februar 2022).
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten, die sämtlich Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit übereinstimmend einverstanden erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die Berufung der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2021 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu leisten. Auch insoweit war die Klage abzuweisen. Denn die Beklagte hat es mit dem angefochtenen Bescheid zutreffend abgelehnt, unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom 30. November 2017 der Klägerin vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2021 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu bewilligen. Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid nicht beschwert (§§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 S. 1 SGG).
Die Klage ist in Bezug auf den noch umstrittenen Zeitraum nicht bereits dadurch unzulässig geworden, dass die Klägerin ihren zunächst mit der Klageschrift zeitlich unbegrenzten Antrag auf „Rente wegen Erwerbsminderung“ mit den auf die Aufforderung des Sozialgerichts verfassten schriftsätzlichen Anträgen – wie sie im Tatbestand im Einzelnen dargestellt worden sind – auf den Zeitraum bis zum 31. Dezember 2018 begrenzt hat. Denn die Aufforderung des Sozialgerichts, den Antrag näher zu konkretisieren, ist vor dem Hintergrund erfolgt, keine mündliche Verhandlung durchführen zu müssen und durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden zu können. Wäre eine mündliche Verhandlung anberaumt worden, wäre dort die Konkretisierung des Antrags besprochen und der dann zuletzt am 22. Juni 2020 auf den Vorschlag des Kammervorsitzenden schriftsätzlich gestellte Antrag, der den vom Sozialgericht ausgeurteilten Zeitraum mitumfasst, protokolliert worden. Der Kammervorsitzende hat sich zu Recht veranlasst gesehen, gemäß § 106 Abs. 1 SGG darauf hinzuwirken, dass unklare Anträge erläutert und sachdienliche Anträge gestellt werden. Denn der in der Klageschrift gestellte Antrag hat bereits nicht erkennen lassen, welche konkrete Rente „wegen Erwerbsminderung“ mit der Klage verfolgt werden sollte. Auch nach dem weiteren Hinweis des Sozialgerichts im gerichtlichen Schreiben vom 8. Mai 2020 ist weiterhin an dem hilfsweisen Antrag auf Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sowie wegen Berufsunfähigkeit festgehalten worden, obwohl der Klägerin bereits seit dem 1. September 2016 bestandskräftig eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zuerkannt worden war und deshalb ausschließlich für den Antrag auf Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung ein Rechtsschutzbedürfnis bestand. Die zwischenzeitliche zeitliche Begrenzung resultierte offenkundig aus dem Missverständnis, dass bei der Zuerkennung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum 31. Dezember 2018 diese ohne Weiteres bis zum 30. September 2022 weitergewährt worden wäre. In diesem Sinne ist auch die Berufungserwiderung der Klägerin zu verstehen. Nach dem Meistbegünstigungsprinzip ist zu ermitteln, welche Leistungen (überhaupt) mit der Klage verfolgt werden sollten (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juni 2013 – B 7 AY 6/11 R -, RdNr. 11 m.w.N). Hier ist das Klagebegehren der Klägerin von Beginn des von ihr noch ohne anwaltliche Vertretung eingeleiteten Verwaltungsverfahrens mit dem Ziel der Rücknahme des Bescheides vom 30. November 2017 und der Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer anstelle der ihr bereits zuerkannten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung – unter Berücksichtigung eines ihr zur Verfügung stehenden Teilzeitarbeitsplatzes – gewesen. Dieses Ziel konnte sie nur mit dem – nach mehrfacher Intervention durch den Kammervorsitzenden letztendlich – am 22. Juni 2020 gestellten Antrag erreichen. Ein willentlicher Verzicht auf die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Januar 2019 kann zu keinem Zeitpunkt des Klageverfahrens angenommen werden.
Die Klage ist unbegründet. Der mit der Klage angefochtene Bescheid vom 14. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2018, mit dem die Rücknahme des be-standskräftig gewordenen Bescheides vom 30. November 2017 abgelehnt worden ist, ist rechtmäßig. Denn die Klägerin kann für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2019 keine teilweise Rücknahme des Bescheides vom 30. November 2017 beanspruchen. Ihr steht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2021 nicht zu.
Gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.
Hier ist der Verwaltungsakt vom 30. November 2017 insoweit nicht begünstigend gewesen, als damit die Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung abgelehnt wurde. Der vorgenannte Verwaltungsakt war im Zeitpunkt seines Erlasses nicht rechtswidrig, da ausweislich der Bescheinigung des Landkreises vom 28. August 2017 der Klägerin im Rahmen des noch bestehenden Arbeitsverhältnisses „ab sofort“ ein Teilzeitarbeitsplatz entsprechend ihrem Leistungsvermögen hat angeboten werden können. Der Bescheid vom, in dem der Klägerin im Rahmen eines Dauerverwaltungsaktes für den Zeitraum vom 1. September 2016 bis zum 30. September 2022 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bewilligt worden ist, ist mit Ablauf des 31. Dezember 2018 – und damit ab dem 1. Januar 2019 (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 2 C 9.20 -, juris RdNr. 7, 12) – rechtswidrig geworden, da zu diesem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und dem Landkreis beendet wurde. Damit ist eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X eingetreten. Denn die Voraussetzung dafür, dass bei dem bei der Klägerin noch bestehenden täglichen Leistungsvermögen von mindestens drei bis unter sechs Stunden der Teilzeitarbeitsmarkt nicht verschlossen war, ist damit ab dem 1. Januar 2019 entfallen. Aufgrund der dann eingetretenen Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes ist der – von dem Leistungsfall der teilweisen Erwerbsminderung zu unterscheidende – Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung eingetreten (vgl. § 89 Abs. 1 Nr. 7 und 1 SGB VI; BSG, Urteil vom 7. April 2016 – B 5 R 26/15 R -, juris RdNr. 31; Danckelmann in Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 5. Aufl. 2017 § 89 RdNr. 3). Der Senat stützt sich insoweit auf die ständige Rechtsprechung des BSG, wonach die teilweise Erwerbsminderung bei praktischer Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes für Tätigkeiten in einem täglichen zeitlichen Rahmen von drei bis unter sechs Stunden zu einer vollen Erwerbsminderung auf Zeit führt (vgl. schon zu § 1247 Reichsversicherungsordnung [RVO], BSG, Großer Senat [GS], Beschlüsse vom 10. Dezember 1976, GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75 und GS 3/76; Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., Stand 1. April 2021, § 43 SGB VI RdNrn. 266 ff. m.w.N.).
Der Anspruch auf Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund des am 1. Januar 2019 eingetretenen Leistungsfalls hätte der Klägerin erst ab dem 1. August 2019 zugestanden. Gemäß § 101 Abs. 1 S. 1 SGB VI werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet.
Der Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. August 2019 bis zum 31. Dezember 2021 steht jedoch entgegen, dass der Klägerin bereits ab dem 1. Januar 2019 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen bewilligt worden ist. Gemäß § 34 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI ist nach bindender Bewilligung einer Rente wegen Alters oder für Zeiten des Bezugs einer solchen Rente der Wechsel in eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ausgeschlossen. Ein „Wechsel“ im Sinne von § 34 Abs. 4 SGB VI liegt nur vor, wenn sich für die weitere Rente ein späterer Rentenbeginn ergeben würde als für die „erste“ Rente. § 34 Abs. 4 SGB VI ist nur dann nicht anzuwenden, wenn die andere Rentenart vor oder gleichzeitig mit der Altersrente beginnt (Uta Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., Stand 1. April 2021, § 34 SGB VI RdNr. 132; Danckelmann, a.a.O., § 34 RdNr. 26).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


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