Sozialrecht

Berechnung der Wartezeit von 35 Jahren bei Hochschulausbildung

Aktenzeichen  L 13 R 224/20

Datum:
17.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6706
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 54 Abs 3, § 58 Abs 1 Nr 4, § 71, § 122 Abs 1, Abs. 3
GG Art. 3, Art. 20, Art. 28

 

Leitsatz

1. Bei der Berechnung der Wartezeit von 35 Jahren können Ausbildungszeiten nur bis zur Höchstdauer von acht Jahren berücksichtigt werden.
2. Auf die Höchstdauer werden auch Monate angerechnet, die sowohl mit einer Anrechnungszeit als auch mit einer Beitragszeit belegt sind (sog. beitragsgeminderte Zeit).
1. Auf die Höchstdauer von 96 Monaten i.S.v. § 58 Abs. 1 Nr.4 SGB VI werden auch diejenigen Monate angerechnet, in denen neben einer Anrechnungszeit auch Beitragszeiten vorliegen (sog. beitragsgeminderte Zeit).Der Senat gibt dabei einer am Wortlaut orientierten systematischen Auslegung den Vorzug, wobei auch Sinn und Zweck der Regelung nicht entgegenstehen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Weder dem Wortlaut noch den Gesetzesmaterialien zu § 122 Abs. 3 SGB VI lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass bei Zusammentreffen mit Beitragszeiten Ausbildungszeiten nicht der Höchstdauer unterliegen. Dass der Gesetzgeber bei Inkrafttreten des § 122 Abs. 3 SGB VI keine Veranlassung gesehen hat, eine entsprechende Ausnahme zu formulieren, obwohl in § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI bereits damals eine entsprechende Höchstgrenze enthalten war, bestätigt die Annahme, dass die vorliegende Konstellation aus Sicht des Gesetzgebers keine planwidrige Regelungslücke darstellt, was für eine teleologische Reduktion entgegen des klaren Wortlauts zwingend erforderlich wär (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hinsichtlich des Aspekts einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen der Gruppe der Studenten, die während des Studiums einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen und derjenigen, die sich ausschließlich der Ausbildung widmen können, vermag der Senat einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht zu erkennen.(Rn. 28 – 30 ) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 4 KN 5/17 2020-03-12 GeB SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 12.03.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist gemäß §§ 143,151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, insbesondere statthaft und form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist aber unbegründet. Der Kläger hat mangels Erfüllung der Wartezeit von 35 Jahren vor dem 01.12.2019 keinen Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Insbesondere können über den 31.12.1981 hinaus keine Anrechnungszeiten wegen Ausbildung auf die Wartezeit angerechnet werden, weil diese bereits bis zur Höchstdauer von 96 Monaten berücksichtigt worden sind. Für die Berücksichtigung von Ausbildungszeiten über die Höchstdauer von 96 Monaten hinaus fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht.
1. Die Klage ist als Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) zulässig. Dem Kläger geht es darum, über die Anerkennung weiterer Anrechnungszeiten einen früheren Rentenbeginn bereits zum 01.09.2016 zu erreichen. Im Übrigen sind weder die Versicherungszeiten noch die Höhe der Altersrente zwischen den Beteiligten streitig und daher auch nicht Gegenstand des Rechtsstreits. Der Zulässigkeit der auf frühere Rentenzahlung gerichteten Klage steht nicht entgegen, dass die Beklagte dem Kläger nachfolgend mit dem von ihm nicht mit Widerspruch angefochtenen Bescheid vom 24.03.2017 Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.12.2016 bewilligt hat. Denn streitig ist vorliegend nur der Anspruch auf Rente vom 01.09.2016 bis zum 30.11.2016.
2. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die streitige Altersrente im streitigen Zeitraum nicht. Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen besteht nach § 236a Abs. 1 SGB VI für Versicherte, die wie der Kläger vor dem 01.01.1964 geboren sind, wenn sie das 63. Lebensjahr vollendet haben, als schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 SGB IX) anerkannt sind und die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben. Die vorzeitige Altersrente kann frühestens mit Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen werden. Bei Versicherten vom Jahrgang des Klägers (1955) verschiebt sich der frühestmögliche Beginn um 9 Monate (§ 236a Abs. 2 Satz 2 SGB VI), bei dem am 16.07.1955 geborenen Kläger auf den 16.04.2016. Der Kläger ist zwar als schwerbehinderter Mensch anerkannt, er erfüllt aber die weitere Voraussetzung einer Wartezeit von 35 Jahren erst für einen Rentenbeginn am 01.12.2016, nachdem er für die Zeit vom 01.09.2016 bis 30.11.2016 drei weitere freiwillige Beiträge entrichtet hat. Der Kläger hat auch unter Berücksichtigung der bis 11.07.1984 andauernden Hochschulausbildung keinen Anspruch auf Berücksichtigung weiterer Anrechnungszeiten zur (früheren) Erfüllung der Wartezeit für einen Rentenbeginn am 01.09.2016. Auch ein Anspruch auf Rente für langjährige Versicherte (§§ 36, 236 SGB VI), der ebenfalls eine Wartezeit von 35 Jahren voraussetzt, hätte zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestanden.
2.1. Auf die Wartezeit von 35 Jahren (§ 50 Abs. 4 SGB VI) für die Erfüllung der Voraussetzungen für die Altersrente für schwerbehinderte Menschen werden alle Kalendermonate mit rentenrechtlichen Zeiten angerechnet (§ 51 Abs. 3 SGB VI), während auf die allgemeine Wartezeit und auf die Wartezeiten von 15 und 20 Jahren nur Kalendermonate mit Beitragszeiten angerechnet werden (§ 51 Abs. 1 SGB VI). Spezielle Wartezeitregelungen gibt es daneben für die Wartezeit von 25 Jahren für eine Bergmannsrente und die Wartezeit von 45 Jahren für eine Altersrente für besonders langjährige Versicherten. Der Gesetzgeber hat dabei für jede Wartezeit individuelle Voraussetzungen formuliert, so dass sich die Regelungen auch hinsichtlich der jeweils auf die Wartezeit anrechenbaren Zeiten unterschieden. Dabei ist die Wartezeitregelung hinsichtlich der Wartezeit von 35 Jahren insofern am großzügigsten, als danach nicht nur bestimmte Zeiten, sondern grundsätzlich alle rentenrechtlichen Zeiten Berücksichtigung finden können. Aus der Formulierung „alle“ können aber darüber hinaus keine weitergehenden Ansprüche hergeleitet werden. Entscheidend ist, ob es sich um Kalendermonate mit rentenrechtlichen Zeiten handelt.
Was rentenrechtliche Zeiten sind, hat der Gesetzgeber in § 54 Abs. 1 SGB VI (in der ab 01.01.2005 geltenden Fassung) ausdrücklich geregelt. Danach sind rentenrechtliche Zeiten
1. Beitragszeiten,
a) als Zeiten mit vollwertigen Beiträgen,
b) als beitragsgeminderte Zeiten,
2.beitragsfreie Zeiten und
3.Berücksichtigungszeiten.
Zeiten mit vollwertigen Beiträgen sind Kalendermonate, die mit Beiträgen belegt und nicht beitragsgeminderte Zeiten sind (§ 54 Abs. 2 SGB VI). Beitragsgeminderte Zeiten sind Kalendermonate, die sowohl mit Beitragszeiten als auch Anrechnungszeiten, einer Zurechnungszeit oder Ersatzzeiten belegt sind. Als beitragsgeminderte Zeiten gelten außerdem Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen für eine Berufsausbildung (Zeiten einer beruflichen Ausbildung – § 54 Abs. 3 SGB VI). Beitragsfreie Zeiten sind Kalendermonate, die mit Anrechnungszeiten, mit einer Zurechnungszeit oder mit Ersatzzeiten belegt sind, wenn für sie nicht auch Beiträge gezahlt worden sind (§ 54 Abs. 4 SGB VI).
2.2. Vorliegend sind beim Kläger 324 Kalendermonate mit Beitragszeiten als Zeiten mit vollwertigen Beiträgen zu berücksichtigen, daneben (in den Monaten November 1975, März und Juli 1977) drei Monate mit Beitragszeiten als beitragsgeminderte Zeiten, die sowohl mit Beitragszeiten als auch Anrechnungszeiten wegen Hochschulausbildung belegt sind. Daneben können bis zur Höchstdauer von 96 Monate weitere 93 Monate Ausbildungszeit als beitragsfreie Zeiten (Anrechnungszeiten) berücksichtigt werden.
Anrechnungszeiten gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI (in der ab 01.01.2013 geltenden Fassung) sind Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung), insgesamt jedoch höchstens bis zu acht Jahren (96 Monate). Beim Kläger liegen vom 16.07.1972 bis 11.07.1984 mit Unterbrechung durch den Wehrdienst (16.08.1974 bis 15.11.1975) und eine Pflichtbeitragszeit vom 21.03.1977 bis 22.07.1977 Anrechnungszeiten wegen Ausbildung vor (§ 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI) vor, bis 08.06.1973 aufgrund einer Fachschulausbildung sowie vom 01.10.1973 bis 31.07.1974, vom 16.11.1975 bis 20.03.1977 und vom 23.07.1977 bis 11.07.1984 aufgrund einer Hochschulausbildung. Die Unterbrechungen beruhen zum einen auf der Ableistung des Wehr- bzw. Zivildienstes vom 16.08.1974 bis 15.11.1975 und zum anderen auf der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung vom 21.03.1977 bis 22.07.1977. Die Übergangszeit vom 09.06.1973 bis 30.09.1973 zwischen beiden Ausbildungen ist ebenfalls als Anrechnungszeit wegen Ausbildung zu berücksichtigen, nicht aber die Monate, in denen nur eine versicherungspflichtige Beschäftigung und keine Anrechnungszeit vorliegen (August 1974 bis Oktober 1975 und April 1977 bis Juni 1977). Dabei ist nach den Feststellungen der Beklagten davon auszugehen, dass die Hochschulausbildung auch im Zeitraum vom 21.03.1977 bis 22.07.1977 tatsächlich unterbrochen wurde. Tatsächlich wäre nämlich nicht ausgeschlossen, dass ein Versicherter als sog. Werkstudent neben einer Hochschulausbildung Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entrichtet, ohne dass deswegen automatisch von einem Fall des § 58 Abs. 4a SGB VI auszugehen wäre, in dem nicht mehr von einem Überwiegen der Ausbildung ausgegangen werden kann (vgl. dazu die Übergangsregelung in § 230 Abs. 4 SGB VI und BSG, Urteil vom 22.05.2003 – B 12 KR 24/02 R -). Anrechnungszeiten sind aber auch die Überschneidungsmonate November 1975, März und Juli 1977. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass in den streitigen Teilmonaten, also während der Dauer der Hochschulausbildung, diese nicht überwiegend im Sinne des § 58 Abs. 4a SGB VI ausgeübt wurde. Denn die versicherungspflichtige Beschäftigung bzw. der Wehrdienst wurden nicht zeitgleich „neben“ der Ausbildung, sondern zeitlich im Anschluss an diese bzw. vor deren (Wieder-)Aufnahme ausgeübt. Etwas anderes wird vom Kläger auch nicht behauptet.
Insgesamt handelt es sich um einen Zeitraum von deutlich mehr als acht Jahren, weswegen eine Begrenzung auf die Höchstdauer von acht Jahren (entsprechend 96 Monaten) vorzunehmen ist. Die Berechnung der Höchstdauer von 96 Monaten folgt der Regelung in § 122 Abs. 3 SGB VI (in der ab 01.01.2002 geltenden Fassung), wonach die Berechnung der Höchstdauer mit den am weitesten zurückliegenden Kalendermonaten beginnt (vgl. BT-Drucks. 11/4124 S. 179 = M 010 S. 84). Dort heißt es u.a., es werde „eindeutig bestimmt, dass bei einer zeitlich begrenzten Berücksichtigung von Zeiten die Kalendermonate in der Anfangszeit von Bedeutung sind“ (BT-Drs. 11/4124, S. 180). Vorliegend beginnt die Berechnung der Höchstdauer mit dem Kalendermonat, in dem das 17. Lebensjahr vollendet wird (am 16.07.1972). Dabei zählen Kalendermonate, die nur teilweise mit Anrechnungszeiten belegt sind, als volle Monate (§ 122 Abs. 1 SGB VI). Gleiches gilt für Monate, die nur an einzelnen Tagen mit Beiträgen belegt sind. Eine Verdrängung „schwächerer“ durch „stärkere“ Zeiten findet abgesehen von den ausdrücklich geregelten Fällen (§ 58 Abs. 1 Satz 3, Abs. 4a SGB VI) nicht statt. Diese Regelungen sind zwingend und stehen im Zusammenhang mit anderen Regelungen, wie § 74 Abs. 1 SGB VI, bei denen es ebenfalls auf die zeitliche Lage der jeweiligen Ausbildungszeit ankommt (KassKomm/Gürtner, 110. EL Juli 2020, SGB VI § 58 Rn. 59, 60). Die Regelung der Höchstdauer begrenzt lediglich den zeitlichen Umfang dieser Zeit und trifft keine Aussage über die weiteren rentenrechtlichen Auswirkungen. Ob und auf welche Weise die Anrechnungszeiten bei der Ermittlung der Rentenhöhe Berücksichtigung finden, ist in den für die Berechnung geltenden Vorschriften geregelt und für die Ermittlung der Höchstdauer unbeachtlich (Dankelmann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl., § 122 SGB VI (Stand: 18.05.2020), Rn. 42).
Dabei werden auf die Höchstdauer von 96 Monaten auch diejenigen Monate angerechnet, in denen neben einer Anrechnungszeit auch Beitragszeiten vorliegen (sog. beitragsgeminderte Zeit). Dies betrifft vorliegend die Monate November 1975, März und Juli 1977.
Bei diesen Monaten handelt es sich um Anrechnungszeiten i.S.d. § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI, die nur deshalb als beitragsgeminderte Zeiten bezeichnet werden, weil sie neben den Anrechnungszeiten auch mit Beitragszeiten belegt sind (§ 54 Abs. 3 Satz 1 SGB VI). Bei der Bezeichnung als beitragsgeminderte Zeit handelt es sich aber lediglich um eine begriffliche Abgrenzung, weil beitragsgeminderte Zeiten, in denen also in einem Kalendermonat neben einer Anrechnungszeit auch Beitragszeiten vorliegen, gemäß § 71 Abs. 2 SGB VI (in der ab 01.01.2005 geltenden Fassung) bei der Rentenberechnung eines gesonderte Bewertung erfahren, die auf der Überlegung beruht, dass Versicherte, die nur für einen Teil des Monats oder in einem Monate wegen der Anrechnungszeit jedenfalls nicht in vollem Umfang Entgeltpunkte erwerben konnten, dadurch keine Nachteile erfahren sollten und deswegen mindestens die Entgeltpunkte erhalten, die die Zeit als Anrechnungszeit erfahren würde. Ziel dieser Bewertung ist es, zugunsten eines Versicherten Zeiten auszugleichen, in denen aufgrund Vorliegens eines Anrechnungszeittatbestandes nur verminderte Beiträge gezahlt worden sind. Die Berücksichtigung einer Versicherungszeit als sog. beitragsgeminderte Zeit setzt daher das Vorliegen einer Anrechnungszeit, jedenfalls in einem Teil des jeweiligen Monats (vgl. § 122 Abs. 1 SGB VI) nicht nur begrifflich voraus. Die Anrechnungszeit wird auch tatsächlich bei der Rentenberechnung berücksichtigt und führt unter Umständen zu einer Erhöhung der Entgeltpunkte für die in diesem Monat ebenfalls vorliegende Beitragszeit (§ 71 Abs. 2 SGB VI). Es handelt sich also nicht um eine nur fiktive Anrechnungszeit, wie der Kläger meint. Ob die betreffende Zeit im Ergebnis auch mit Entgeltpunkte bewertet wird, ist dabei unerheblich. Auch auf den vorliegenden Fall eines Wechsels zwischen Beitragszeit und Ausbildungszeit innerhalb eines Monates ist die Regelung in § 71 Abs. 2 SGB VI anwendbar. Auch in diesem Fall liegen eine Anrechnungszeit und eine Beitragszeit und damit im Ergebnis eine beitragsgeminderte Zeit vor (vgl. dazu grundlegend BSG, Urteil vom 27.04.2010 – B 5 R 62/08 R -, juris Rn. 17).
Ein Verzicht auf einzelnen Anrechnungszeitmonate, wie vom Kläger vorgeschlagen, ist nicht möglich. Die Feststellung der Versicherungszeiten erfolgt von Amts wegen aufgrund der tatsächlichen Voraussetzungen. Ein Verzicht ist nach dem Sozialgesetzbuch nur bezüglich des Anspruchs auf festgestellte Sozialleistungen unter den Voraussetzungen des § 46 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) möglich.
Entsprechend sind auch die sowohl mit einer Anrechnungszeit als auch mit einer Beitragszeit belegten Monate auf die Höchstdauer von acht Jahren anzurechnen. Der Senat gibt dabei einer am Wortlaut orientierten systematischen Auslegung den Vorzug, wobei auch Sinn und Zweck der Regelung nicht entgegenstehen. Dass die Limitierung der Berücksichtigung von Anrechnungszeiten im Interesse der Versichertengemeinschaft an der Begrenzung der Übernahme beitragsfreier Zeiten in diesem Fall nicht erforderlich wäre, mag zutreffen. Dem Schluss, es fehle insoweit an einer rechtfertigenden Grundlage (so Fichte in Hauck/Noftz, SGB, 09/08, § 122 SGB VI, Rn. 12), vermag der Senat indes nicht zu folgen. Eine teleologische Reduktion des Wortlauts des § 122 Abs. 3 SGB VI im Falle eines Zusammentreffens von Zeiten der schulischen Ausbildung und Zeiten freiwilliger Beitragszahlungen ergibt sich weder aus den Gesetzesmaterialien noch aus systematischen Erwägungen (so auch Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 18.02.2014 – L 2 R 400/13 -, juris). Daher folgt der Senat auch nicht der von Dankelmann (in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl., § 122 SGB VI (Stand: 18.05.2020) Rn. 42) nicht näher begründeten Auffassung, dass in diesem Fall die „Besonderheit“ zu beachten sei, dass die bereits als Beitragszeit berücksichtigte Ausbildungszeit nicht der Höchstdauer unterliege. Allerdings geht aus dieser Kommentierung auch nicht hervor, ob sie sich nur auf zeitgleich zusammenfallende Zeiten, sondern auch auf ein Nacheinander verschiedener Zeiten innerhalb eines Kalendermonats bezieht.
2.3. Für eine andere Auslegung, wie vom Kläger gewünscht, bieten weder § 122 Abs. 1, noch § 54 Abs. 3 oder § 58 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI eine Grundlage. Weder dem Wortlaut noch den Gesetzesmaterialien zu § 122 Abs. 3 SGB VI lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass bei Zusammentreffen mit Beitragszeiten Ausbildungszeiten nicht der Höchstdauer unterliegen. Dass der Gesetzgeber bei Inkrafttreten des § 122 Abs. 3 SGB VI keine Veranlassung gesehen hat, eine entsprechende Ausnahme zu formulieren, obwohl in § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI bereits damals eine entsprechende Höchstgrenze enthalten war, bestätigt die Annahme, dass die vorliegende Konstellation aus Sicht des Gesetzgebers keine planwidrige Regelungslücke darstellt, was für eine teleologische Reduktion entgegen des klaren Wortlauts zwingend erforderlich wäre (vgl. BSG, Beschluss vom 17.04.2012, B 13 R 347/10 B, juris Rn. 11, unter Bezugnahme auf BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26.09.2011, 2 BvR 2216/06). Auch die Entwicklung der Regelung über die Gesamtleistungsbewertung beitragsgeminderter Zeiten seit der bis zum 31.12.1995 geltenden Fassung des § 71 Abs. 2 Satz 1 SGB VI durch Art. 1 des RRG 1992 vom 18.12.1989 (BGBl. I 2261) mit mehrfachen Änderungen und Korrekturen gibt keinen Anlass zu der Annahme, der Gesetzgeber habe für bestimmte Konstellationen Abweichungen zulassen wollen. Insbesondere hat der Gesetzgeber auch die Tatsache, dass inzwischen nur noch bestimmte Ausbildungszeiten überhaupt eine Bewertung erfahren, nicht zum Anlass genommen, eine Korrektur der Regelungen in § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 51 Abs. 3 SGB VI oder § 54 Abs. 1 SGB VI vorzunehmen.
3. Soweit der Kläger unter Darlegung verschiedener Konstellationen geltend macht, er sehe eine Ungleichbehandlung zwischen der Gruppe der Studenten, die während des Studiums einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen und derjenigen, die sich ausschließlich der Ausbildung widmen können, vermag der Senat einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht zu erkennen. Die überspitzt dargestellten Biographien, die vor dem Hintergrund der Regelung in § 58 Abs. 4a SGB VI bereits wenig realistisch erscheinen, sind auch in der Sache nicht ausreichend vergleichbar. Tatsächlich betrifft die streitige Konstellation im Regelfall wie auch beim Kläger nur einzelne Überschneidungsmonate.
Schließlich ist dem Gesetzgeber auch vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht jede Differenzierung verwehrt. Der Gleichheitssatz soll verhindern, dass eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (ständ. Rspr., BVerfG Beschluss vom 21.11.2001 – 1 BvL 19/93 – BVerfGE 104, 126 = SozR 3-8570 § 11 Nr. 5 – juris Rn. 56). Er gilt dabei sowohl für ungleiche Belastungen als auch für ungleiche Begünstigungen (BVerfG, Beschluss vom 21.06.2011 – 1 BvR 2035/07 – BVerfGE 129, 49, 68 – juris Rn. 63 mwN). Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Maß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen. Insoweit gilt ein stufenloser Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (stRspr, vgl BVerfG Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 – BVerfGE 138, 136 – juris Rn. 121; BVerfG Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 371/11 – BVerfGE 142, 353 = SozR 4-4200 § 9 Nr. 15 – juris Rn. 69). Eine strenge Bindung des Gesetzgebers ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft, wobei sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen umso mehr verschärfen, je weniger die Merkmale für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (stRspr, vgl BVerfG Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 – BVerfGE 138, 136 – juris Rn. 122 mwN). Ein solches Merkmal ist das Lebensalter. Umgekehrt erweitern sich mit abnehmender Prüfungsstrenge die Gestaltungs- und Bewertungsspielräume des Gesetzgebers bei steigender „Typisierungstoleranz“. Diese ist im Bereich der leistenden Massenverwaltung besonders groß (BVerfG Beschluss vom 27.7.2016 – 1 BvR 371/11 – BVerfGE 142, 353 = SozR 4-4200 § 9 Nr. 15 – juris Rn. 69 mwN). Diesem Bereich ist die Erbringung von Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung zuzurechnen. Der Gesetzgeber ist – insbesondere bei Massenerscheinungen – auch befugt, zu generalisieren, zu typisieren und zu pauschalieren, ohne allein wegen damit verbundener Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Eine zulässige Typisierung setzt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes freilich voraus, dass mit ihr verbundene Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären, dass sie lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist im Übrigen bei bevorzugender Typisierung weiter gespannt als bei benachteiligender Typisierung (BVerfG, Beschluss vom 04.04.2001 – 2 BvL 7/98 – BVerfGE 103, 310, 319 – juris Rn. 42 mwN). Vorliegend gilt hinsichtlich der Erfüllung der Wartezeit von 35 Jahren beim Zusammentreffen von Anrechnungszeiten und Beitragszeiten danach grundsätzlich ein weiter Prüfungsmaßstab (BSG, Urteil vom 12.03.2019 – B 13 R 19/17 R – zur Anrechnung von Zeiten des Bezugs von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung auf die Wartezeit von 45 Jahren). Hinzukommt, soweit es um die Berücksichtigung von Anrechnungszeiten geht, dass diese – da ohne eigene Beitragsleistung erworben – überwiegend auf staatlicher Gewährung beruhen und somit bereits Ausdruck besonderer staatlicher Fürsorge sind (BVerfG, Beschluss vom 01.07.1981 – 1 BvR 874/77 -, BVerfGE 58, 81-136). Sie sind zwar Bestandteil der Rentenanwartschaft und unterliegen insoweit dem Bestandsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG; es handelt sich jedoch um einen abgeleiteten Eigentumsschutz von geringerer Intensität. Es bleibt daher dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers überlassen, ob und inwieweit er diesen Ausgleich weitergewähren will (BSG, Urteil vom 19.04.2011 – B 13 R 27/10 R -, BSGE 108, 126-144). Selbst Eingriffe in Rentenanwartschaften wären zulässig, wenn sie einem Gemeinwohlzweck dienen und verhältnismäßig sind. Vorliegend durfte des Gesetzgeber danach in typisierender Weise davon absehen, eine von der Gesetzessystematik abweichenden Sonderregelung zu treffen, die in jedem Fall gewährleistet, dass auch über die Höchstdauer von 96 Monaten hinaus Ausbildungszeiten auf die Wartezeit von 35 Jahren anzurechnen sind.
Soweit der Kläger im konkreten Fall die Altersrente drei Monate später beanspruchen kann als es ein theoretischer Versicherter mit ebenfalls langjährigen Ausbildungszeiten könnte, in dessen Biographie keine Beitragszeiten mit Anrechnungszeiten in einem Monat zusammentreffen, ist dies Konsequenz der vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen, ohne dass der Kläger hieraus eine Benachteiligung ableiten könnte. Die von ihm herausgearbeitete Differenzierung knüpft nicht an Persönlichkeitsmerkmale an, sondern verschiebt lediglich den Zeitpunkt des antragsabhängigen Rentenbeginns (§ 99 Abs. 1 SGB VI). Damit verbleibt den Versicherten die Möglichkeit, durch die Wahl des Zeitpunkts der Antragstellung und eines späteren Rentenbeginns Einfluss auf die Frage der Anrechnung bestimmter Kalendermonate zu nehmen (BSG, Urteil vom 12.03.2019, a.a.O.). Schließlich hat die Beklagter auch zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger nach § 207 SGB VI bis zur Vollendung des 45. Lebensjahres bzw. bis zum 31.12.2004 die Möglichkeit hatte, für die Zeiten einer schulischen Ausbildung nach dem vollendeten 16. Lebensjahr, die etwa wegen Überschreitens der Höchstdauer nicht als Anrechnungszeiten berücksichtigt werden, freiwillige Beiträge nachzuzahlen (§ 207 SGB VI). Auch in den Jahren, in denen der Kläger aus anderen Gründen nicht rentenversicherungspflichtig war, so vom 01.06.2000 bis zum 31.12.2005, hätte er zur Erfüllung der Wartezeit freiwillige Beiträge zahlen können. Auch angesichts der Beitragslücke von über fünf Jahren ist nicht erkennbar, dass gerade die Nichtberücksichtigung der streitigen drei Kalendermonate oder etwa die Schwerbehinderung des Klägers dazu geführt haben, dass er die Altersrente nicht bereits zum 01.09.2016 beanspruchen konnte.
Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Art. 28 Abs. 1 GG) ist ebenfalls nicht verletzt. Dieses begründet zwar die Pflicht des Staates, für eine gerechte soziale Ordnung Sorge zu tragen. Die Erfüllung dieser Pflicht obliegt jedoch der eigenverantwortlichen Gestaltung des Gesetzgebers. In diesem Zusammenhang hat das BSG zu Recht darauf hingewiesen, dass das Sozialstaatsprinzip nicht verletzt wird, selbst wenn durch eine Regelung im Einzelfall Unbilligkeiten auftreten, da es nicht der Korrektur jeglicher aus Sicht der Normadressaten hart oder unbillig erscheinenden Einzelregelungen dient (BSG, Urteil vom 19.04.2011 – B 13 R 29/10 R – juris Rn. 63).
Die Berufung bleibt daher ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung (§ 193 SGG) beruht auf dem Ausgang des Verfahrens.
Die Revision wird vor dem Hintergrund der abweichenden Kommentierung zur grundsätzlichen Klärung durch das Bundessozialgericht zugelassen (vgl. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).


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