Sozialrecht

Berufung, Gerichtsbescheid, Beschwerde, Bescheid, Widerspruchsbescheid, Auslegung, Klageverfahren, Krankenversicherung, Rechtsmittel, MDK, Sachleistung, Verfahren, Verhandlung, Entscheidungsdatum, sofortige Beschwerde, erstinstanzliche Entscheidung, gesetzlichen Krankenversicherung

Aktenzeichen  L 5 KR 252/21 B

Datum:
28.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 24600
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Der Meistbegünstigungsgrundsatz findet seine Grenzen im eindeutigen Wortlaut eines – hier unzulässigen – Rechtsmittels.

Verfahrensgang

S 12 KR 1268/20 2021-03-22 GeB SGMUENCHEN SG München

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers vom 2.6.2021 gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 23.3.2021 wird als unzulässig verworfen.

Gründe

I.
Der 1978 geborene Kläger und Beschwerdeführer (im Folgenden: Kläger) war bis 30.9.2020 bei der Beklagten und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beklagte) beitragsfrei familienversichert. Seither ist der Kläger beihilfeberechtigt sowie privat krankenversichert.
Einen Antrag vom 16.7.2020 auf Sachleistung des Medikamentes Exjade, welches für die onkologisch bedingte Eisenüberladung des Klägers nicht zugelassen ist, lehnte die Beklagte nach Sachaufklärung nach Einschaltung des MDK ab (Bescheid 24.9.2020; Widerspruchsbescheid 26.11.2020; Klageverfahren Sozialgericht München [im Folgenden: SG]: S 12 KR 1268/20).
Zwei Eilverfahren, in welchen der Kläger von der Beklagten – trotz Ende seines Versichertenstatus zum 30.9.2020 – Sachleistung des Arzneimittels Exjade von der Beklagten begehrt hat, sind ohne Erfolg geblieben (Beschluss vom 3.2.2021 – L 5 KR 542/20 B ER; Beschluss vom 28.4.2021 – L 5 KR 145/21 B ER: Unzulässigkeit in Haupt- und Hilfsantrag; Nichtannahmebeschluss BVerfG vom 19.05.2021 – 1 BvR 720/21).
Das Klageverfahren S 12 KR 1268/20 hat mit für den Kläger abschlägigem Gerichtsbescheid vom 22.3.2021 geendet. Diese Entscheidung war mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung(Berufung zum Bayer. LSG) versehen. Gleichwohl hat sich der Kläger mit Schreiben vom 30.3.2021 an das SG gewandt und mündliche Verhandlung beantragt. Dazu hat der Kläger mehrere Schreiben verfasst, welche der Senat als Antrag auf mündliche Verhandlung gewertet hat (Abschlussverfügung vom 28.4.2021 – L 5 KR 156/21). Das SG hat den Gerichtsbescheid als rechtskräftig angesehen (vgl. Mitteilung vom 17.5.2021).
Mit Schreiben vom 2.6.2021 hat der Kläger betont, der Gerichtsbescheid sei nicht rechtskräftig. Das Erstgericht habe eine Berufung zum LSG fingiert, obgleich der Kläger zweifelsfrei die mündliche Verhandlung in der ersten Instanz, wie es auch zwingendes Verfahrensrecht ist, gewollt hatte. Weiters hat der Kläger der Kammervorsitzenden Rechtsbeugung vorgeworfen und diese als Straftäter bezeichnet. Er erhebe sofortige Beschwerde gegen deren Rechtsverweigerung als solche.
Zuletzt hat der Kläger sinngemäß beantragt,
das Erstgericht zur Terminierung der mündlichen Verhandlung – nach Einsichtnahme durch den Kläger in die Verfahrensakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakte – zu verpflichten.
Die Beklagte hat sich nicht geäußert.
II.
Die sofortige Beschwerde des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 23.3.2021 ist unzulässig.
1. Wie im Gerichtsbescheid in der Rechtsmittelbelehrungdargelegt, findet gegen einen Gerichtsbescheid – wie hier der gegenständliche des SG vom 23.3.2021 – das Rechtsmittel statt, welches bei einer Entscheidung des Gerichts durch Urteil zulässig wäre, § 105 Abs. 2 S. 1 SGG.
Nur falls gegen ein Urteil die Berufung nicht gegeben wäre, kann gegenüber dem Gerichtsbescheid mündliche Verhandlung beantragt werden, § 105 Abs. 2 S. 2 SGG. Wird in dieser Konstellation sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhandlung statt, § 105 Abs. 2 S. 3 SGG.
2. Im hier zu entscheidenden Fall war gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München wegen offenkundiger Überschreitung des Beschwerdewertes von 750 € im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG die Berufung als zulässiges Rechtsmittel eröffnet. Hierüber wurde der Kläger auch zutreffend belehrt.
a) Gleichwohl hat der Kläger nicht das statthafte Rechtsmittel der Berufung gegen die erstinstanzliche Entscheidung, sondern zuletzt „sofortige Beschwerde“ eingelegt. Eine „sofortige Beschwerde“, wie sie der Kläger bezeichnet und vor Augen hat, kennt das sozialgerichtliche Verfahren nicht, eine Analogie zu § 567 ZPO ist mangels planwidriger Gesetzeslücke ausgeschlossen.
b) Eine Umdeutung der „sofortigen Beschwerde“ in das zulässige Rechtsmittel der Berufung ist nicht möglich.
Der Kläger hat ausdrücklich sowohl gegenüber dem Erstgericht als auch gegenüber dem Berufungsgericht nicht nur einmal erklärt, er begehre, dass über seine Klage im Wege der mündlichen Verhandlung entschieden wird. Insoweit ist es wegen der im Wortlaut und im Sinne eindeutigen Erklärungen des Klägers gegenüber dem Erstgericht und gegenüber dem Rechtsmittelgericht selbst unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes nicht möglich, diese als Berufung umzudeuten.
Maßstab der Auslegung von Prozesserklärungen und des sich daraus ergebenden Klagebegehrens ist der Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten (vgl. BSG -, 12.12.2013, B 4 AS 17/13). Analog § 133 BGB ist grundsätzlich der wirkliche Wille des Beteiligten zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falls, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl. BSG, 22.03.1988, 8/5a RKn 11/87 sopwie 14.06.2018, B 9 SB 2/16 R). Dabei gilt der Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung (vgl. BFH -, 29.11.1995, X B 328/94). Verbleiben Zweifel, ist im Sinne des Meistbegünstigungsprinzips (vgl. BVerwG, 22.02.1985 – 8 C 107/83; BSG, 14.06.2018 – B 9 SB 2/16 R) von einem umfassenden Rechtsschutzbegehren auszugehen (vgl. BSG, 1.3.2011 – B 1 KR 10/10 R), um dem Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auf wirksamen und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt sowie dem damit verbundenen Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes gerecht zu werden (vgl. BverfG -, 30.04.2003 – 1 PBvU 1/0, und 03.03.2004, 1 BvR 461/03; vgl. Bayer. LSG; 21.11.2019 – L 20 KR 1/19 B ER, Rn. 18 – zitiert nach juris).
Wie die Auslegung des Gesetzes (vgl. BVerfG, 18.2.2003 – 2 BvR 369/01, 2 BvR 372/01, und 2.5.2016, 2 BvR 1137/14) ist die Auslegung einer Prozesserklärung durch die Wortlautgrenze (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 02.05.2016 – 2 BvR 1137/14) begrenzt, wobei im Sinn der gebotenen klägerfreundlichen Auslegung vom Gericht im Rahmen der Auslegung alles zu unternehmen ist, der von einem Beteiligten gewählten Formulierung einen Erklärungsinhalt beizumessen, der ihm größtmöglichen Rechtsschutz eröffnet. Anträge im gerichtlichen Verfahren sind insoweit einer Auslegung zugänglich, als sie „Anlass und Raum für eine Auslegung bieten“ (BSG, 14.6.2018, B 9 SB 2/16 R; Bayer. LSG, aaO, Rn. 42 f)
In Anwendung dieser prozessualen Grundsätze auf den hier zu entscheidenden Fall ist festzustellen, dass der Kläger mehrfach gegenüber den SG und der Berufungsinstanz, zuletzt in seinem fett gedruckten Antrag vom 1.7.2021 Seite 3 unmissverständlich zu erkennen gegeben hat, dass er eine Korrektur durch die erste Instanz selbst beantragt. Denn die erstinstanzliche Entscheidung sei von seinen Verfahrensrechten, seinen Verfahrensgrundrechten und seinen Grundrechten unzutreffend und grob fehlerhaft, womit er die Erstrichterin konfrontieren wolle.
Darüber hinaus hat der Kläger in der Berufungsinstanz unzweifelhaft erklärt, dass er diese als unzutreffende Instanz für sein Begehren ansieht.
Zusammenfassend begehrt der Kläger mit seiner „sofortigen Beschwerde“ ein nicht statthaftes Rechtsmittel, denn ein Instrumentarium, welches ihm die Erzwingung einer mündlichen Verhandlung vor dem SG ermöglicht, stellt ihm das Verfahrensrecht nicht zur Verfügung.
3. Durch diese Entscheidung wird weder das Recht des Klägers auf den gesetzlichen Richter, noch das Recht auf gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen beeinträchtigt. Denn zum einen hat der Kläger ausdrücklich das ihm zustehende Rechtsmittel nicht eingelegt. Zum anderen lässt sich eine Verletzung eines letztendlich auf Art. 2 Abs. 2 GG beruhenden Sachleistungsanspruches gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung auch infolge der Beendigung der Familienversicherung zum 30.9.2020 nicht erkennen.
Die „sofortige Beschwerde“ war damit als unzulässig zu verwerfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, § 193 SGG.
Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsmittel nicht eröffnet, § 177 SGG.


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