Sozialrecht

Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen für das Studium der Sozialen Arbeit

Aktenzeichen  12 B 20.2073

Datum:
27.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BayVBl – 2021, 278
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BAföG § 10 Abs. 3 S. 2 Nr. 3, S. 3, § 66a Abs. 2
VwGO § 130a

 

Leitsatz

1. I. § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG in der nach § 66a Abs. 2 BAföG ab 1. August 2019 geltenden Fassung ist auf Bewilligungszeiträume, die vor dem 1. August 2019 begonnen haben, zeitlich uneingeschränkt anwendbar. (Rn. 19)
2. II.Die Pflege und Betreuung eines autistischen Kindes kann unabhängig von dessen Lebensalter nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG einen persönlichen oder fami¬liären Hinderungsgrund darstellen, einen Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen. (Rn. 23)
3. III.Das Unverzüglichkeitsgebot des § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG kommt nicht zur Anwendung, solange der Hinderungsgrund des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG nicht tatsächlich weggefallen ist. (Rn. 26)

Verfahrensgang

M 15 K 17.4333 2019-07-18 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 18. Juli 2019 (Az.: M 15 K 17.4333), der Bescheid des beklagten Studentenwerks vom 12. Januar 2017 und der Widerspruchsbescheid des beklagten Studentenwerks vom 9. August 2017 werden aufgehoben.
II. Das beklagte Studentenwerk wird verpflichtet, der Klägerin für ihr Studium der Sozialen Arbeit für den Zeitraum Oktober 2016 bis September 2017 Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
III. Das beklagte Studentenwerk trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Die Entscheidung ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Das beklagte Studentenwerk kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die 1962 geborene Klägerin verfolgt mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung die Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen für ihr Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule M. für den Zeitraum September 2016 bis August 2017 weiter.
I.
1. Sie ist Mutter von fünf 1990, 1992, 1996, 1999 und 2003 geborenen Kindern. Der letztgeborene Sohn ist Autist und pflegebedürftig nach Pflegegrad 4. Von 1982 bis 1983 war die Klägerin an der Hochschule Ro. im Diplomstudiengang Innenarchitektur immatrikuliert, von 1986 bis 2003 war sie als Unternehmerin und kaufmännische Angestellte, von 2003 bis 2010 neben der Pflege des fünften Kindes als Hausfrau und von 2011 bis Juli 2016 mit 30 Wochenstunden als Geschäftsführerin einer GmbH tätig. Infolge häuslicher Gewaltdelikte ist die Klägerin von ihrem Ehemann geschieden.
1.1 Ihren Antrag auf Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen für das im September 2016 im Alter von fast 54 Jahren aufgenommene Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule M. lehnte das beklagte Studentenwerk mit Bescheid vom 12. Januar 2017 ab. Für eine Förderung nach Überschreiten der Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) lägen zwar grundsätzlich die Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG vor. Eine Förderung komme jedoch nach § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG nur dann in Betracht, wenn die Ausbildung unverzüglich nach Wegfall der Hinderungsgründe aufgenommen werde. Vorliegend hätte die Klägerin auch in Ansehung der Pflege ihres autistischen Sohnes A. das Studium bereits zum Sommersemester 2014 an der Hochschule M. aufnehmen können, da A. bereits mit Schuleintritt im Jahr 2010 von 7:30 bis 16:00 Uhr betreut gewesen sei, sodass kein Hinderungsgrund für eine Studienaufnahme vorgelegen hätte.
1.2 Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies das beklagte Studentenwerk mit Bescheid vom 9. August 2017 zurück. Nachdem A. am 24. November 2013 das zehnte Lebensjahr vollendet habe, hätte kein Hinderungsgrund mehr vorgelegen, das Studium bereits zum Sommersemester 2014 zu beginnen. Etwas Anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass A. an Autismus leide. So habe die Klägerin mit Schreiben vom 20. Dezember 2016 selbst ausgeführt, dass für sie As Betreuung mit der Einschulung im Jahr 2010 leichter geworden sei, da er von Montag bis Freitag durch eine Schulbegleitung von 7:30 bis 16:00 Uhr betreut worden sei. Trotz entsprechender Aufforderung habe die Klägerin keinen Nachweis führen können, dass sie A. infolge der Autismuserkrankung ca. einmal pro Woche von der Schule haben abholen und sich dafür habe bereithalten müssen. Ferner wichen As Fehltage an der Schule nicht erheblich von denen anderer Schüler ab. Trotz der Erkrankung ihres Sohnes wäre es der Klägerin daher möglich gewesen, das Studium bereits zum Sommersemester 2014 aufzunehmen. Die Studienaufnahme erst zum Wintersemester 2016/2017 sei daher nicht unverzüglich nach Wegfall des Hinderungsgrundes erfolgt. Dies gelte gleichermaßen, wenn man in der Trennung der Klägerin von ihrem Ehemann 2010 und einer daraus resultierenden Bedürftigkeit eine einschneidende Veränderung der persönlichen Verhältnisse im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG sähe. Auch in diesem Fall hätte die Klägerin nach Eintritt der Bedürftigkeit nicht unverzüglich im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG das Studium aufgenommen.
2. Die daraufhin erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht München als unbegründet ab. Die Klägerin könne sich zwar auf den Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG berufen, wonach die Altersgrenze für die Aufnahme der Ausbildung von 30 Jahren nach § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG dann nicht gelte, wenn der Auszubildende aus persönlichen oder familiären Gründen gehindert gewesen sei, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Auszubildende bei Erreichen der Altersgrenze bis zur Aufnahme der Ausbildung ein eigenes Kind unter 10 Jahren ohne Unterbrechung erzogen habe und während dieser Zeit höchstens 30 Wochenstunden, als Alleinerziehender auch mehr, erwerbstätig gewesen sei. Nachdem die Klägerin zuletzt ihren behinderten Sohn A. betreut habe, der auf ihre Hilfe angewiesen gewesen sei, seien familiäre Hinderungsgründe nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG ausnahmsweise auch ohne Rücksicht auf das Alter des Sohnes – folglich auch über dessen zehntes Lebensjahr hinaus – anzunehmen gewesen.
Die Klägerin habe jedoch gegen das in § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG geregelte Unverzüglichkeitsgebot verstoßen. Die Obliegenheit, unverzüglich nach Wegfall des Hinderungsgrundes eine Ausbildung zu beginnen, bedeute entsprechend § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB „ohne schuldhaftes Zögern“. Die rechtzeitige Aufnahme der Ausbildung sei dann nicht im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG schuldhaft verzögert, „wenn sie dem Auszubildenden nicht zuvor objektiv möglich und zumutbar“ gewesen sei. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an die umsichtige Planung und zielstrebige Durchführung der Ausbildung umso strenger seien, je mehr der Auszubildende die allgemeine Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG überschritten habe und je geringer daher das Interesse der Allgemeinheit an der Ausschöpfung seiner Bildungsreserven im Hinblick auf die zu erwartende Berufsdauer sei. Die Klägerin habe indes im vorliegenden Fall in subjektiv vorwerfbarer Weise gegen das Unverzüglichkeitsgebot des § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG verstoßen, da es ihr zumutbar gewesen wäre, spätestens nach der Einschulung von A. im Jahr 2010 ein Studium aufzunehmen, da A. ab dem Einschulungszeitpunkt von 7:30 bis 16:00 Uhr fremdbetreut gewesen sei. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin unterstellen würde, dass As Schulverhalten zunächst nicht absehbar gewesen sei, so wäre ihr jedenfalls ab Beginn des dritten Grundschuljahres im September 2013 die Aufnahme eines Studiums möglich und zumutbar gewesen. Auch habe die Klägerin nicht durch Vorlage entsprechender Unterlagen nachgewiesen, dass eine im Schuljahr 2013/2014 erforderliche Betreuung von A. ihrem erfolgreichen Ausbildungsabschluss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entgegengestanden hätte. Jedenfalls wäre es ihr daher zum Wintersemester 2013/2014 zumutbar gewesen, ihr Studium der Sozialen Arbeit aufzunehmen. Schließlich könne sie sich auch nicht mit Erfolg auf den Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BAföG berufen.
3. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung macht die Klägerin die Unrichtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils geltend.
3.1 Ihr Sohn A. sei pflegebedürftig und werde aufgrund seiner eingeschränkten Alltagskompetenz gegenwärtig in Pflegegrad 4 eingestuft. Pflegegrad 4 beinhalte schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit des Pflegebedürftigen. Mit dieser Einstufung gingen für die Klägerin einschneidende Belastungen einher. Vor diesem Hintergrund könne ihr die Anwendung von § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG nicht versagt werden. Es lägen mithin bei ihr persönliche und familiäre Gründe vor, die einen rechtzeitigen Ausbildungsbeginn auch nach Vollendung des zehnten Lebensjahres ihres pflegebedürftigen Sohnes A. verhindert hätten.
3.2 Das Verwaltungsgericht vermenge im angefochtenen Urteil überdies den Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG mit dem Unverzüglichkeitsgebot des § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG. Während es einerseits annehme, dass die Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG infolge der Betreuungsbedürftigkeit des Sohnes der Klägerin auch über das 10. Lebensjahr hinaus vorlägen, verlange es andererseits, dass die Klägerin ihre Ausbildung nach § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG unverzüglich nach dem Wegfall der Hinderungsgründe hätte aufnehmen sollen. Dass und zu welchem Zeitpunkt die Hinderungsgründe für eine Aufnahme der Ausbildung weggefallen sein sollen, habe das Verwaltungsgericht nicht dargelegt. Eine derartige Annahme stehe in Widerspruch zur Feststellung der fortdauernden Pflegebedürftigkeit von A. über das 10. Lebensjahr hinaus. Im Übrigen bleibe unerfindlich, weshalb das Verwaltungsgericht es bereits mit der Einschulung von A. im Jahr 2010, d.h. zu einem Zeitpunkt, in dem A. erst 7 Jahre alt gewesen sei, für die Klägerin als zumutbar angesehen habe, ein Studium aufzunehmen, wohingegen die gesetzliche Regelung die Kinderbetreuung bis zum zehnten Lebensjahr als Hinderungsgrund für die Aufnahme der Ausbildung anerkenne.
3.3 Weiterhin wende das Verwaltungsgericht den Begriff der Unverzüglichkeit fehlerhaft an. Dass ein Auszubildender bei steigendem Alter gehalten sein solle, „größere Risiken einzugehen“, finde im Gesetz keine Stütze und lasse sich auch teleologisch nicht begründen. Soweit das Verwaltungsgericht im Zusammenhang mit der Unverzüglichkeit der Aufnahme der Ausbildung nach Wegfall der Hinderungsgründe allein auf As Fehltage in der Schule abgestellt habe, greife dies ebenfalls zu kurz, da Fehltagen allenfalls indizielle Bedeutung zukäme.
3.4 Schließlich sei § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG gemäß § 66a Abs. 2 BAföG seit 1. August 2019 in der neuen Fassung anwendbar, wonach Auszubildende dann aus persönlichen Gründen gehindert seien, einen Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen, wenn sie bei Erreichen der Altersgrenze bis zur Aufnahme der Ausbildung ein eigenes Kind unter 14 Jahren ohne Unterbrechung erziehen und während dieser Zeit bis zu höchstens 30 Wochenstunden im Monatsdurchschnitt erwerbstätig seien. Diese Voraussetzungen lägen auf Seiten der Klägerin ungeachtet der Pflegebedürftigkeit ihres Sohnes A. vor. Die geänderte Rechtslage sei auch im Berufungsverfahren zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt daher,
unter Änderung des angefochtenen Urteils des VG München, Az.: M 15 K 17.4333 vom 18. Juli 2019 den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 12. Januar 2017 und des Widerspruchsbescheids vom 9. August 2017 zu verpflichten, der Klägerin für den Bewilligungszeitraum Oktober 2016 bis auf Weiteres Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
4. Das beklagte Studentenwerk hat im Berufungsverfahren keine Stellung genommen und keinen Antrag gestellt. Mit Schreiben vom 18. Dezember 2020 hat der Senat die Verfahrensbeteiligten zu seiner Absicht angehört, über die Berufung der Klägerin nach § 130a Satz 1 VwGO im schriftlichen Verfahren zu entscheiden, weil er diese einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Hierzu haben die Verfahrensbeteiligten innerhalb der gesetzten Äußerungsfrist keine weitere Stellungnahme abgegeben.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
Die Berufung der Klägerin hat Erfolg. Ihr steht – trotz Überschreitens der Altersgrenze – nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG n.F. ein Anspruch auf Ausbildungsförderung für den Bewilligungszeitraum Oktober 2016 bis September 2017 in gesetzlicher Höhe zu.
1. Der Senat entscheidet über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a Satz 1 VwGO in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens durch Beschluss, da er diese einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet. Die Rechtssache weist weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten auf (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, U.v. 30.6.2004 – 6 C 28.03 -, BVerwGE 121, 211 [212]; U.v. 9.12.2010 – 10 C 13.09 -, BVerwGE 138, 289 [297 f.]). Im Verfahren sind weder eine Vielzahl ungewöhnlich schwieriger, umstrittener oder gänzlich neue Materien betreffende Fragen noch ein besonders umfangreicher Streitstoff zu bewältigen (vgl. BVerwG, B.v. 10.6.2008 – 3 B 107/07 – juris, Rn. 5; B.v. 9.12.2010 – 10 C 13/09 – juris, Rn. 24). Die Beteiligten hatten im Berufungsverfahren hinreichend Gelegenheit, sich zu den maßgeblichen Fragen zu äußern. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welche auf der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK gründet (vgl. hierzu U.v. 29.10.1991 – Nr. 22/1990/213/275 -, NJW 1992, 1813 f.), muss in Fällen einer erstinstanzlichen öffentlichen mündlichen Verhandlung nicht stets und unabhängig von der Art der zu entscheidenden Fragen in der folgenden zweiten Instanz eine weitere mündliche Verhandlung stattfinden (vgl. BVerwG, B.v. 25.9.2007 – 5 B 53/07 – juris, Rn. 18). Dies gilt namentlich dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – nur über Rechtsfragen zu entscheiden ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.9.2003 – 4 B 68/03 -, NVwZ 2004, 108 [110]; B.v. 7.9.2011 – 9 B 61/11 -, NVwZ 2012, 379 [380] Rn. 6; siehe auch Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Juni 2017, § 130a Rn. 3). Tatsachenfragen, die eine Beweiserhebung erfordert hätten, haben sich entscheidungserheblich nicht gestellt. Die aufgeworfenen Fragen lassen sich bereits alleine aufgrund der Aktenlage angemessen beurteilen (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 25.9.2007 – 5 B 53/07 – juris, Rn. 18; siehe auch Rudisile, in: Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, Stand: Juni 2017, § 130a Rn. 3).
2. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist auf die Klägerin § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG in der ab 1. August 2019 geltenden Fassung für den streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum Oktober 2016 bis September 2017 anwendbar.
2.1 Die Übergangsbestimmung des § 66a Abs. 2 BAföG sieht vor, dass u.a. § 10 BAföG in der durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. Juli 2019 (BGBl. I, S. 1048) geänderten Fassung „erst ab dem 1. August 2019 anzuwenden [ist], soweit nachstehend nichts anderes bestimmt ist“. Zugleich ordnet jedoch § 66a Abs. 4 Satz 1 BAföG für „Bewilligungszeiträume, die vor dem 1. August 2019 begonnen haben“, die Fortgeltung lediglich der §§ 11 ff. BAföG „in der bis zum 31. Juli 2019 anzuwendenden Fassung“ an. Die Fortgeltung von § 10 BAföG in der bis zum 31. Juli 2019 geltenden Fassung wird demgegenüber für Bewilligungszeiträume, die vor dem 1. August 2019 begonnen haben, explizit nicht angeordnet (vgl. hierzu die Gesetzgebungsmaterialien BT-Drs. 19/8749, 44, aus denen sich hierfür keine näheren Motive ableiten lassen; vgl. ferner Ramsauer in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 66a Rn. 11 „schwer durchschaubare Übergangsregelung“). Folglich ist § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG in der Neufassung ab dem 1. August 2019 auf Bewilligungszeiträume, die vor dem 1. August 2019 begonnen haben, anwendbar (so auch Müller in Rothe/Blanke, BAföG, Stand Juli 2019, § 66a Rn. 5: „Eine zeitlich uneingeschränkte Anwendbarkeit mit Wirkung zum 1.8.2019 ergibt sich danach lediglich für die geänderten Vorschriften der §§ (…) 10 Abs. 3 Nr. 3 (…).“ Hervorhebung durch den Senat). Mithin gilt im vorliegenden Fall zugunsten der Klägerin die seit 1. August 2019 geltende Gesetzesfassung.
2.2 Ausgehend von der damit einhergehenden „Verlängerung“ des Hinderungsgrundes der ununterbrochenen Erziehung eines eigenen Kindes bis zum 14. Lebensjahr, das ihr Sohn A. erst 2017 beendet hatte, muss sich die Klägerin bei Aufnahme der Ausbildung im September 2016 keine Obliegenheitsverletzung entgegenhalten lassen (vgl. hierzu S.weg in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 10 Rn. 24). Ihr steht bei Vorliegen der sonstigen Fördervoraussetzungen, die vorliegend nicht im Streit stehen, daher trotz Überschreiten der Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 BAföG ein Anspruch auf Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu.
3. Auch nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG in der bis zum 31. Juli 2019 anzuwendenden Fassung käme der Klägerin ein Anspruch auf Ausbildungsförderung zu. Ein Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot des § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG ist entgegen der Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts nicht erkennbar.
3.1. Nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG a.F. gilt die Altersgrenze vom 30 Jahren für die Aufnahme der zu fördernden Ausbildung dann nicht, wenn „Auszubildende aus persönlichen oder familiären Gründen gehindert waren, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen“. Dies ist „insbesondere“ dann der Fall, „wenn sie bei Erreichen der Altersgrenzen bis zur Aufnahme der Ausbildung ein eigenes Kind unter zehn Jahren ohne Unterbrechung erziehen und während dieser Zeit höchstens 30 Wochenstunden im Monatsdurchschnitt erwerbstätig sind“. Alleinerziehende dürfen auch mehr als 30 Wochenstunden erwerbstätig sein, wenn sie dadurch den Bezug von Grundsicherungsleistungen vermeiden.
Soweit der Gesetzgeber als Regelbeispiel eines Hinderungsgrundes aus persönlichen oder familiären Gründen von der ununterbrochenen Erziehung eines eigenen Kindes bis zum 10. Lebensjahr ausgeht, beinhaltet dies zugleich, dass daneben noch weitere persönliche oder familiäre Hinderungsgründe für den Beginn eines Ausbildungsabschnitts bestehen, die nicht an die Altersgrenze eines Kindes geknüpft sind. So nennt Ziffer 10.3.4 BAföGVwV als persönliche oder familiäre Gründe, die eine Förderung nach unverschuldetem Überschreiten der Altersgrenze rechtfertigen, neben der Kindererziehung u.a. Schwangerschaft, eigene Erkrankung bzw. Behinderung sowie ausdrücklich die „Betreuung von behinderten oder aus anderen Gründen auf Hilfe angewiesenen Kindern“ (vgl. hierzu S.weg in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 10 Rn. 29: Betreuung von behinderten oder aus anderen Gründen auf Hilfe angewiesenen Kindern ohne Rücksicht auf deren Alter; Hervorhebung durch den Senat; ferner Roggentin in Rothe/Blanke, BAföG, Stand September 2013, § 10 Rn. 17.2).
Richtigerweise ist im vorliegenden Fall daher vom Vorliegen eines persönlichen oder familiären Hinderungsgrundes über die Vollendung des zehnten Lebensjahres des Sohnes A. der Klägerin auszugehen, weil A. an Autismus leidet, aufgrund stark eingeschränkter Alltagskompetenz in Pflegegrad 4 eingestuft und daher auf die persönliche Betreuung der Klägerin angewiesen ist.
Dass der Hinderungsgrund der Pflege eines eigenen, behinderten Kindes bis zum Beginn des zu fördernden Ausbildungsabschnitts im Wintersemester 2016/2017 entfallen wäre, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen. Vielmehr folgt gerade aus dem von der Klägerin vorgetragenen Umstand der Einstufung ihres Sohnes in Pflegegrad 4, der eine nur beschränkte Alltagskompetenz zur Voraussetzung hat, dass unabhängig davon, ob A. durch einen Schulbegleiter zu bestimmten Tageszeiten, an denen Schulunterricht stattfindet, unterstützt wird, ein weiterhin hoher Betreuungsbedarf aufgrund der Autismuserkrankung besteht. Für das Vorliegen eines persönlichen oder familiären Hinderungsgrundes erweist es sich demzufolge als unbeachtlich, wie oft die Klägerin ihren Sohn persönlich von der Schule abholen musste bzw. wie viele Fehltage von der Schule er aufgewiesen hat.
3.2 Angesichts der Fortdauer des Hinderungsgrundes nach § 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG über das 10. Lebensjahr von A. hinaus kommt es damit, wie die Klägerin zu Recht geltend macht, auf die Erfüllung des „Unverzüglichkeitsgebots“ im vorliegenden Fall nicht an. Denn § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG knüpft die Pflicht zur unverzüglichen Aufnahme der Ausbildung explizit an den „Wegfall der Hinderungsgründe“ an. Geht man aber, wie das Verwaltungsgericht, vom Fortbestand der Hinderungsgründe auch über das 10. Lebensjahr des Sohnes der Klägerin aus und stellt zugleich keinen Wegfall des Hinderungsgrundes fest, greift § 10 Abs. 3 Satz 3 BAföG nicht ein (vgl. hierzu Roggentin in Rothe/Blanke, BAföG, Stand Januar 2006, § 10 Rn. 24).
Der Klage auf Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe für den Bewilligungszeitraum Oktober 2016 bis September 2017 war daher unter Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Urteils und der entgegenstehenden Ablehnungsbescheide des beklagten Studentenwerks stattzugeben.
4. Das beklagte Studentenwerk trägt nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden in Angelegenheiten des Ausbildungsförderungsrechts nach § 188 Satz 2, 1 VwGO nicht erhoben. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708, 711 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


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