Sozialrecht

Gesetzliche Unfallversicherung – Arbeitsunfall – Unfallereignis – von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis – alltäglicher Vorgang – seelische Einwirkung – Streitgespräch mit dem Vorgesetzten – Herzstillstand

Aktenzeichen  B 2 U 15/19 R

Datum:
6.5.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2021:060521UB2U1519R0
Normen:
§ 8 Abs 1 SGB 7
Spruchkörper:
2. Senat

Verfahrensgang

vorgehend SG Schleswig, 23. November 2015, Az: S 7 U 50/13, Urteilvorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 23. Januar 2019, Az: L 8 U 24/16, Urteil

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. Januar 2019 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat.
2
Die 1987 geborene Klägerin kollabierte am 12.4.2010 an ihrem Arbeitsplatz auf einem Schreibtischstuhl sitzend. Der Notarzt reanimierte sie und wies sie in ein Krankenhaus ein, wo ihr ein Defibrillator implantiert wurde. Die Beklagte verneinte einen Arbeitsunfall, weil kein plötzliches äußeres Ereignis vorliege und es damit schon begrifflich an einem “Unfall” fehle. Die Klägerin habe bei der üblichen Arbeit einen “Herzinfarkt” erlitten und auf telefonische Nachfrage selbst angegeben, dass an diesem Tag keine Besonderheiten aufgetreten seien (Bescheid vom 22.9.2011).
3
Im April 2012 beantragte die Klägerin, diesen Bescheid zu überprüfen, weil sie keinen Herzinfarkt, sondern einen Herzstillstand erlitten habe. Es habe sich keinesfalls um eine normale berufliche Situation gehandelt, sondern vielmehr um einen sehr stressigen Tag. Nach Geschäftsschluss sei eine Kassendifferenz festgestellt worden. Die Filialleiterin sei krankheitsbedingt abwesend gewesen. Sie habe mit dem Kollegen, der die “offizielle Stellvertretung” übernommen habe, gestritten, weil dieser dem Gebietsleiter eine Kassendifferenz melden wollte, die ein anderer Kollege verursacht habe. Sie habe diesen Kollegen in Schutz nehmen wollen und eine Meldung für entbehrlich gehalten. Nach der Auseinandersetzung sei sie an ihren Schreibtisch zurückgekehrt und dann kollabiert. Die Beklagte lehnte es gleichwohl ab, den Verwaltungsakt vom 22.9.2011 zurückzunehmen (Bescheid vom 16.11.2012 und Widerspruchsbescheid vom 29.5.2013).
4
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Das SG hat den Vertreter der Filialleiterin als Zeugen vernommen und die Klage abgewiesen (Urteil vom 23.11.2015). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 23.1.2019). Der “Herzstillstand” der Klägerin sei kein Arbeitsunfall, weil bereits kein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis vorliege. Es habe keine Extremsituation vorgelegen. Verbale Differenzen und das Verhalten von Menschen, über das man sich in hohem Grade aufregen könne, seien überall anzutreffen. Wie stark die Reaktion auf Herausforderungen sei, hänge von dem jeweiligen Temperament des Betroffenen ab. Das Gespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin, in dessen Verlauf unterschiedliche Standpunkte sachlich und in einem angemessenen Ton ausgetauscht worden seien, habe zwar “unschön, unharmonisch und frostig” geendet. Dieser habe solche Gespräche jedoch als Alltagsgeschäft bezeichnet. Eine persönliche Haftung der Klägerin für den Kassenfehlbestand habe nicht zur Debatte gestanden. Zudem werde der “plötzliche Herztod” gerade als ein kardialer Tod aus vollem Wohlbefinden definiert. Besondere Dispositionen, die den akuten Herztod unmittelbar verursachten, seien nicht bekannt. Bei einer Untersuchung von 955 akuten Todesfällen seien besondere psychische Belastungen nur in 1,7 % der Fälle vorausgegangen. Unerheblich sei auch, dass die Beklagte im Ursprungsbescheid von einem Herzinfarkt statt von einem plötzlichen Herztod ausgegangen sei.
5
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 44 Abs 1 SGB X und des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII. Ihr Gespräch mit dem Kollegen, der die Filialleiterin vertreten habe, habe optisch und akustisch auf sie eingewirkt und einen Herzstillstand als Gesundheitsschaden verursacht. Für ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis bedürfe es keines besonderen oder ungewöhnlichen Geschehens.
6
Die Klägerin beantragt,die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. Januar 2019 und des Sozialgerichts Schleswig vom 23. November 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 22. September 2011 aufzuheben und das Ereignis vom 12. April 2010 als Arbeitsunfall anzuerkennen.
7
Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.
8
Wesentliche Faktoren für den Kollaps der Klägerin seien die “Torsade-de-Pointes-Tachykardien” mit anfallsartigem Herzrasen als innerer Ursache sowie die Einnahme eines Allergiemedikaments gewesen. Es sei auch zweifelhaft, ob die psychische Einwirkung überhaupt geeignet gewesen sei, einen kardiologischen Gesundheitsschaden hervorzurufen.


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