Sozialrecht

Grundsicherung für Arbeitsuchende: Materielle Beweislast für Hifebedürftigkeit

Aktenzeichen  L 16 AS 813/18

Datum:
10.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13957
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
Alg II-V § 3
SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 9, § 11, § 11b, § 12

 

Leitsatz

1. Es ist Sache der hilfesuchenden Person, den Sachverhalt unter Vorlage geeigneter Unterlagen so darzulegen und nachzuweisen, dass zur Überzeugung des Gerichts ein Leistungsanspruch besteht. (Rn. 28)
2. Eine konkrete Differenzierung zwischen Ausgaben für den privaten Bereich und reinen Betriebsausgaben ist notwendig, um den Gewinn und das anzurechnende Einkommen aus einer selbstständigen Tätigkeit nach §§ 11, 11b SGB II iVm § 3 Alg II-V verlässlich ermitteln zu können. (Rn. 31)
3. Vorhandenes Vermögen nach § 12 Abs. 1 SGB II steht dem Leistungsanspruch nach dem SGB II so lange entgegen, wie es nicht (nachweislich) verbraucht wurde. Ein fiktiver Vermögensverbrauch ist ohne Belang. (Rn. 35)

Verfahrensgang

S 16 AS 19/18 2018-06-07 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 7. Juni 2018 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht erhobene und auch im Übrigen zulässige Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 07.06.2018 ist nicht begründet.
Die Klägerin hat keinen Antrag zur Berufung gestellt. Unter Berücksichtigung ihres Vortrags geht der Senat davon aus, dass sie die Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts sowie der angefochtenen Bescheide und die Verurteilung des Beklagten zur endgültigen Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in der Zeit vom 01.09.2017 bis 28.02.2018 in gesetzlicher Höhe begehrt. Aus ihrer Sicht hat sie zumindest im sozialgerichtlichen Verfahren alle Unterlagen zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen vorgelegt, so dass ihr Begehren nicht mehr auf nur vorläufige Leistungserbringung nach § 41a SGB II, sondern auf endgültige Erbringung der Leistungen nach Ablauf des streitgegenständlichen Zeitraums gerichtet ist. Da die Klägerin am 31.03.2018 einen neuen Leistungsantrag gestellt hat und der Beklagte hierüber mit Bescheid vom 15.05.2018 (ablehnend) entschieden hat (Klageverfahren S 16 AS 667/18, Berufungsverfahren L 16 AS 198/20), ist in diesem Berufungsverfahren nur der Bescheid vom 27.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.10.2018 streitig, der den Bescheid vom 10.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2017 für den Zeitraum vom 01.09.2017 bis 28.02.2018 erledigt hat (§ 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGB X).
Die so verstandene Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Bescheid vom 27.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2018 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt. Die Klägerin hat auch zur Überzeugung des Senats ihre Hilfebedürftigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.09.2017 bis 28.02.2018 nicht nachgewiesen. Sie kann ihren Bedarf durch Einkommen und vorhandenes, verwertbares Vermögen decken.
Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, (2.) erwerbsfähig und (3.) hilfebedürftig sind und (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Streitig ist allein die Frage der Hilfebedürftigkeit der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum. Hilfebedürftig ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II iVm § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.
Die materielle Beweislast für das Vorliegen von Hilfebedürftigkeit trägt die Klägerin als hilfesuchende Person (vgl. Korte in LPK-SGB II, 7. Aufl. 2021, § 9 Rdnr. 5; BSG, Urteil vom 27.01.2009 – B 14 AS 6/08 R). Die materielle Beweislast bzw. Feststellungslast regelt, wen die Folgen treffen, wenn das Gericht eine bestimmte Tatsache letztlich nicht feststellen kann (non liquet). Es gilt der Grundsatz, dass jeder im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Es ist also Sache der Klägerin, den Sachverhalt unter Vorlage geeigneter Unterlagen so darzulegen und nachzuweisen, dass zur Überzeugung des Gerichts ein Leistungsanspruch besteht. Kommt ein Kläger seiner Mitwirkungsobliegenheit im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 103 Satz 1 Halbsatz 2 SGG nicht nach, sind die Gerichte trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 103 Satz 1 SGG nur eingeschränkt verpflichtet, weiter zu ermitteln. Dies gilt insbesondere für Umstände, die in der Sphäre der Klägerin liegen. In diesem Fall trifft die Klägerin die Feststellungslast (vgl. Karl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 9 Rdnr. 233, 219).
Der Bedarf der Klägerin beläuft sich zum einen auf den Regelbedarf nach § 20 Abs. 1, Abs. 1a SGB II iVm §§ 28, 28a Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) und § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG) vom 22.12.2016 sowie § 2 der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung – RBSFV 2018) in Höhe von 409,- Euro bzw. – ab 01.01.2018 – in Höhe von 416,- Euro. Zum anderen sind gemäß § 22 SGB II Kosten der Unterkunft im streitgegenständlichen Zeitraum in Höhe von 16,02 Euro Grundsteuer und 71,- Euro (Wasser/Abwasser) im September 2017, 21,15 Euro Abfallgebühren und 44,15 Euro Brandversicherung im November 2017, 380,14 Euro (wohl für die Wohngebäudeversicherung beim Bayerischen Versicherungsverband) im Dezember 2017 und 21,15 Euro (Abfallgebühren) und 83,23 Euro (VG M, wohl für Wasser/Abwasser nach Abrechnung des Jahres 2017) im Januar 2018 anhand der Kontoauszüge belegt. Für die weiter behaupteten Kosten für Heizung, Warmwasser und Bad in Höhe von 160,- Euro pro Monat hat die Klägerin keine Nachweise erbracht. Solche Kosten sind auch nicht aus den vorgelegten Kontoauszügen ersichtlich. Im Leistungsantrag hatte die Klägerin angegeben, diese Kosten „wegen Armut“ derzeit nicht zu bezahlen bzw. Brennstoffe selbst zu beschaffen; entsprechende Rechnungen wurden jedoch nicht eingereicht.
Die Klägerin verfügte über Einkommen aus der Verletztenrente in Höhe von 427,55 Euro und verwertbares Vermögen, das ihr zur Deckung des oben genannten Bedarfs zur Verfügung stand. Zutreffend hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass von der Verletztenrente nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V die Versicherungspauschale in Höhe von 30,- Euro abzusetzen ist, so dass sich hieraus ein anzurechnendes Einkommen in Höhe von 397,55 Euro ergibt.
Da die Klägerin ihr Einkommen aus der selbstständigen Tätigkeit nicht, insbesondere nach reinen Betriebseinnahmen und -ausgaben differenziert und anhand von Belegen überprüfbar, nachgewiesen hat, kann der Senat schon nicht beurteilen, ob nicht bereits das Gesamteinkommen der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum ihren grundsicherungsrechtlichen Bedarf deckte. Die Klägerin selbst hat in ihrem Schreiben vom 07.03.2022 angegeben, sie könne (nur) die Markteinnahmen nicht belegen. Ausweislich der Kontoauszüge wurden auf das Konto der Klägerin – neben den monatlichen Überweisungen der Unfallrente – jedenfalls im September 2017 900,- Euro eingezahlt und eine Rechnung in Höhe von 19,90 Euro überwiesen; im November 2017 finden sich Einzahlungen in Höhe von insgesamt 250,- Euro und die Überweisung auf eine Rechnung (Rg. 17009) in Höhe von 1.605,- Euro. Der Beklagte hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Klägerin in der Aufstellung ihrer Einnahmen und Ausgaben nicht zwischen den Einnahmen aus der Unfallrente und den Einnahmen aus der selbstständigen Tätigkeit unterscheidet. Gleiches gilt für die Ausgaben, da in der übersandten Kopie aus dem Geschäftsbuch beispielsweise auch Hausnebenkosten und Stromkosten in voller Höhe als Ausgaben angesetzt wurden, obwohl das Haus nur anteilig (ohne konkrete Angaben der Klägerin, zu welchem Anteil) für die selbstständige Tätigkeit der Klägerin genutzt wurde. Eine konkrete Differenzierung zwischen Ausgaben für den privaten Bereich und reinen Betriebsausgaben ist jedoch notwendig, um den Gewinn der Klägerin und letztlich das anzurechnende Einkommen aus ihrer selbstständigen Tätigkeit gemäß §§ 11, 11b SGB II iVm § 3 Alg II-V (in der Fassung vom 26.07.2016) verlässlich ermitteln zu können. Dies war dem Senat anhand der vorliegenden Unterlagen nicht möglich. Darüber hinaus konnte der Senat mangels Vorlage von Belegen nicht überprüfen, ob es sich bei den Ausgaben, sofern man ihre Eigenschaft als Betriebsausgaben unterstellt (etwa Ausgaben, die im handschriftlichen Geschäftsbuch als „Ware“ oder „Verbrauch, Werkstatt, Material“ bezeichnet sind), um notwendige Ausgaben iSd § 3 Abs. 2, 3 Alg II-V handelte.
Die genaue Höhe des Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit kann jedoch dahingestellt bleiben, da die Klägerin auch über verwertbares Vermögen in Form des Rückkaufswertes der H Versicherung verfügte, das die gesetzlichen Vermögensfreibeträge überstieg. Als Vermögen sind nach § 12 Abs. 1 SGB II in der Fassung vom 13.05.2011 grundsätzlich alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen, die den Grundfreibetrag nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II (150,- Euro je vollendetem Lebensjahr, im Falle der Klägerin also 8.400,- Euro bis Januar 2018 und 8.550,- Euro ab Februar 2018) und den Freibetrag für notwendige Anschaffungen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB II (750,- Euro), insgesamt 9.150,- Euro bzw. – ab 01.02.2018 – 9.300,- Euro übersteigen.
Zum anzurechnenden Einkommen sowie der als Vermögen zu berücksichtigenden Rentenversicherung der H, soweit die genannten Freibeträge überschritten sind, verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren nicht nachgewiesen hat, dass der Rückkaufswert der H Versicherung inklusive des Überschussanteilsguthabens unterhalb des Vermögensfreibetrages von 9.150,- Euro gelegen hat. Der Senat hat die Klägerin gebeten, den Wert zum 01.09.2017 zu belegen bzw. alternativ dem Senat eine Schweigepflichtentbindungserklärung zu erteilen, damit dieser die erforderliche Auskunft selbst bei der H Versicherung einholen kann. Dieser Bitte mit gerichtlichem Schreiben vom 25.10.2021 unter Fristsetzung bis 30.11.2021 ist die Klägerin trotz Hinweises auf die mögliche Präklusionswirkung des § 106a Abs. 3 SGG nicht nachgekommen. Die Vorgehensweise des Sozialgerichts, mangels anderweitiger Anhaltspunkte für den hier am 01.09.2017 beginnenden streitgegenständlichen Zeitraum einen Wert von ca. 9.600,- Euro zugrunde zu legen, nachdem der Rückkaufswert nachweislich am 01.12.2015 9.137,29 Euro und am 01.12.2017 9.641,43 Euro betragen hatte, ist nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat hierbei im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG von seiner Schätzbefugnis nach § 202 Satz 1 SGG iVm § 287 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zulässig Gebrauch gemacht und die Schätzungsgrundlagen offengelegt sowie schlüssig und nachvollziehbar dargelegt (vgl. hierzu etwa BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 47/14 R, Rdnr. 18 ff. juris).
Zutreffend hat das Sozialgericht auch darauf hingewiesen, dass vorhandenes Vermögen dem Leistungsanspruch nach dem SGB II so lange entgegensteht, wie es nicht (nachweislich) verbraucht wurde (vgl. Silbermann in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2020, § 9 Rdnr. 20 und Lange in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2020, § 12 Rdnr. 129). Ein fiktiver Vermögensverbrauch ist dabei ohne Belang. Vermögen ist deshalb – soweit es die Freibeträge übersteigt und nicht zum Schonvermögen zählt (hier jedenfalls in Höhe von ca. 450,- Euro bzw. 300,- Euro (die Vermögensfreibeträge übersteigender Rückkaufswert der H Versicherung) zzgl. des Guthabens auf dem Girokonto in Höhe von 610,55 Euro und des Vermögen in Höhe von rund 50,- Euro aus dem Bausparvertrag, insgesamt also rund 1.000,- Euro) – solange auf den Leistungsanspruch anzurechnen, bis es tatsächlich verbraucht ist; dies gilt auch, soweit es bereits in einem früheren Bewilligungszeitraum entsprechend berücksichtigt, tatsächlich aber nicht verbraucht worden ist (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.07.2008 – B 14 AS 14/08 B; Lange in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 12 Rdnr. 30). Die Klägerin hat ihr Vermögen nicht verbraucht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).


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