Sozialrecht

Keine Versagung von Arbeitslosengeld II wegen unterlassenem Rentenantrag

Aktenzeichen  L 7 AS 350/16 B ER

Datum:
1.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II SGB II § 5 Abs. 3, § 7 Abs. 4, § 9 Abs.1

 

Leitsatz

Die Weigerung, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen, darf nicht mit der Versagung von Arbeitslosengeld II sanktioniert werden. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 46 AS 1009/16 2016-05-17 Bes SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 17. Mai 2016 wird zurückgewiesen.
II. Der Beschwerdeführer hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdegegners für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

I. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer wendet sich dagegen, dass das Sozialgericht ihn im Eilverfahren zur Zahlung von Arbeitslosengeld II verpflichtet hat. Er geht davon aus, dass der Antragsteller nicht hilfebedürftig sei, weil er eine vorgezogene Altersrente beziehen könne.
Der im Dezember 1952 geborene Antragsteller bezog seit 2012 zusammen mit seiner 1975 geborenen Ehefrau, dem 2009 geborenen Sohn und der 2012 geborenen Tochter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II vom Antragsgegner. Der Antragsteller war zeitweise erwerbstätig und er bemüht sich fortlaufend um weitere Tätigkeiten. Die Mietwohnung kostet monatlich 570,- Euro Grundmiete und 160,- Euro Betriebskostenvorauszahlung.
Mit Schreiben vom 24.09.2015 wurde der Antragsteller vom Antragsgegner aufgefordert, einen Antrag auf eine vorzeitige Altersrente zu stellen. Ab 01.01.2016 ist laut Rentenauskunft eine vorgezogene Altersrente mit einem Abschlag von 9% möglich. Der Antragsteller wandte sich in einem Eilverfahren erfolglos gegen diese Aufforderung (vgl. Beschluss Bay LSG vom 03.06.2016, L 7 AS 233/16 B ER). Da der Antragsteller der Aufforderung nicht nachkam, stellte der Antragsgegner gemäß § 5 Abs. 3 SGB II diesen Rentenantrag. Weil der Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten auch im Rentenverfahren nicht nachkam, versagte der Rentenversicherungsträger die Rente oder lehnte sie in der Sache ab (dieser Bescheid liegt dem Gericht nicht vor). Dagegen legte der Antragsgegner Widerspruch ein.
Mit Bescheid vom 22.12.2015 gewährte der Antragsgegner für die Monate Januar bis April 2016 nur mehr der Ehefrau und den beiden Kindern Leistungen. Leistungen für den Antragsteller lehnte er ab, weil keine Hilfebedürftigkeit vorliege. Mit Beschluss vom 08.02.2016, S 46 AS 81/16 ER, verpflichtete das Sozialgericht München den Antragsgegner, dem Antragsteller auch für diese Monate Arbeitslosengeld II zu gewähren.
Den Antrag auf Leistungen ab 01.05.2016 verbeschied der Antragsgegner mit Bescheid vom 25.04.2016 wie zuvor: Der Ehefrau und den beiden Kindern wurden für die Monate Mai bis Oktober 2016 Leistungen in Höhe von insgesamt monatlich 1.024,- Euro bewilligt. Dabei wurden die gesetzlichen Regelbedarfe und jeweils ein Viertel der tatsächlichen Unterkunftskosten als Bedarf berücksichtigt und bei den Kindern je Kindergeld von 190,- Euro in Abzug gebracht. Leistungen für den Antragsteller wurden abgelehnt, weil Hilfsbedürftigkeit nach § 9 Abs. 1 SGB II i. V. m. § 5 SGB II nicht vorliege. Er sei zur Beantragung vorrangiger Leistungen aufgefordert worden, seiner Verpflichtung nach § 12a SGB II, die vorrangige Altersrente zu beantragen, bislang nicht nachgekommen. Dagegen erhob der Antragsteller rechtzeitig Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist.
Am 28.04.2016 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht München einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 17.05.2016 verpflichtete das Sozialgericht den Antragsgegner vorläufig, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 01.05.2016 bis 31.10.2016 dem Grunde nach weiterhin Leistungen zu gewähren. Die Möglichkeit, eine Altersrente zu beziehen, genüge nicht für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II. Wenn der Antragsteller trotz Aufforderung die vorgezogene Altersrente nicht selbst beantrage, bestehe ein Selbsteintrittsrecht des Antragsgegners nach § 5 Abs. 3 SGB II. Wenn bereits ein Rentenantrag zum Erlöschen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II führen würde, wäre das Regelungssystem mit §§ 5, 9, 12a und 13 Abs. 2 SGB II überflüssig. Außerdem könne fiktives Einkommen nicht angerechnet werden. Ob ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II bestehe, könne hier dahinstehen.
Dagegen hat der Antragsgegner am 01.06.2016 Beschwerde zum Landesozialgericht eingelegt. Der Antragsteller sei nicht hilfebedürftig. Hilfebedürftig sei nach § 9 Abs.1 SGB II nur, wer die erforderliche Hilfe nicht von anderen – auch nicht von Trägern anderer Sozialleistungen – erhalte. Daran knüpfe § 12a und § 5 Abs. 3 SGB II an, die den Nachrang existenzsichernder Leistungen gewährleisten wollten. Der Antragsteller könne sich selbst helfen, weil die Inanspruchnahme der Rente zumutbar und in angemessener Zeit durchsetzbar sei. Für den „Erhalt“ einer anderen Leistung nach § 9 Abs. 1 SGB II sei kein tatsächlicher Zufluss der Leistung nötig. Das SGB II verwende für den tatsächlichen Zufluss den Begriff „beziehen“, etwa in § 7 Abs. 4 SGB II. Auch der Grundsatz, dass nur „bereite Mittel“ bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit zu berücksichtigen seien, stehe hier nicht entgegen. Dies sei nur bei der Berücksichtigung von Einkommen im Sinn von § 11 SGB II zu prüfen, nicht beim gesetzlich geregelten Rangverhältnis verschiedener Sozialleistungen. Die Ablehnung werde nicht auf § 7 Abs. 4 SGB II gestützt. Wenn der Antragsteller beim Rentenantrag mitwirke, würden bis zum Erhalt der Rente Arbeitslosengeld II gewährt werden.
Der Antragsgegner beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts München vom 17.05.2016 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
II. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, weil das Sozialgericht München dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht stattgegeben hat.
Streitgegenstand ist allein der Anspruch des Antragstellers auf Arbeitslosengeld II für die Zeit ab 01.05.2016 bis 31.10.2016.
Für die begehrte Begründung einer Rechtsposition im einstweiligen Rechtsschutz ist ein Antrag auf eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft. Der Antrag muss zulässig sein und die Anordnung muss zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Es muss glaubhaft sein, dass ein materielles Recht besteht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird (Anordnungsanspruch), und es muss glaubhaft sein, dass eine vorläufige Regelung notwendig ist, weil ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist (Anordnungsgrund).
Der Anordnungsgrund ergibt sich aus dem vollständigen Wegfall des Arbeitslosengelds II beim einkommens- und vermögenslosen Antragsteller. Auch ein Anordnungsanspruch nach § 19 Abs. 1 i. V. m. § 7 Abs. 1 SGB II ist glaubhaft. Insbesondere ist von Hilfebedürftigkeit nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 9 Abs. 1 und 2 SGB II auszugehen.
Auch der Antragsgegner räumt ein, dass ein Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II nicht vorliegt, weil dies den tatsächlichen Bezug einer Altersrente voraussetzen würde, woran es hier fehlt. Der Antragsgegner stellt vielmehr darauf ab, dass der Antragsteller nicht hilfebedürftig sei, weil er zu Recht zur Beantragung einer Altersrente aufgefordert worden sei und es an ihm selbst liege, diese Altersrente umgehend zu bekommen. Im Kern will der Antragsgegner den Antragsteller durch das Vorenthalten von Arbeitslosengeld II dazu zwingen, im Rentenverfahren mitzuwirken. Dies zeigt auch die Äußerung, dass Leistungen erbracht werden würden, wenn der Antragsteller am Rentenverfahren mitwirken würde.
Eine Rechtsgrundlage für eine Ablehnung von Arbeitslosengeld II wegen fehlender Mitwirkung im Rentenverfahren ist nicht ersichtlich.
Das Sozialgericht weist zu Recht in seinem Beschluss darauf hin, dass bereits die Existenz von § 5 Abs. 3 SGB II zeigt, dass die fehlende Mitwirkung im Rentenverfahren nicht genügt, um SGB II-Leistungen abzulehnen. Ansonsten wäre diese Vorschrift, die dem SGB II-Träger die Verfahrensherrschaft über den Rentenantrag überträgt, weitgehend überflüssig.
Hilfebedürftigkeit besteht nach § 9 Abs. 1 SGB II nicht, wenn der Betroffene die erforderliche Hilfe von anderen erhält. Der Antragsteller erhält aber keine Altersrente. Daran ändert auch nichts, dass in § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II für den Leistungsausschluss der „Bezug“ einer Altersrente gefordert wird. Der Gegenbegriff zum tatsächlichen Zufluss von Leistungen wäre der bloße Anspruch auf Leistungen, so z. B. in § 5 Abs. 2 S. 1 SGB II für die Systemabgrenzung zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff SGB XII. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet dagegen der Erhalt von Leistungen den tatsächlichen Zufluss der Leistungen (ebenso Voelzke in Hauck-Noftz, SGB II § 9 Rn. 49: Hilfebedürftigkeit ist zu verneinen, wenn ein Dritter die Hilfe tatsächlich erbringt).
Das Beschwerdegericht kann sich auch nicht der Argumentation anschließen, dass die Sicherung des Nachrangs existenzsichernder Leistungen einen Wegfall der Hilfebedürftigkeit oder einen Leistungsausschluss bewirkt. Der Nachranggrundsatz ist keine eigenständige Ausschlussnorm – ihm kommt regelmäßig nur im Zusammenhang mit ergänzenden bzw. konkretisierenden sonstigen Vorschriften Bedeutung zu (so BSG, Urteil vom 20.01.2016, B 14 AS 35/15 R, Rn. 42 zum Nachranggrundsatz des SGB XII – für eine andere Beurteilung des Nachranggrundsatzes im SGB II sieht das Beschwerdegericht keinen Grund). Ein Leistungsausschluss ohne Rückgriff auf andere Normen ist allenfalls in extremen Ausnahmefällen denkbar, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließt und Ansprüche ohne weiteres realisierbar sind (BSG, a. a. O.).
Dem Antragsgegner ist zuzugestehen, dass der Antragsteller das Rentenverfahren behindert, wo und wie er nur kann. Damit kommt er den vorgenannten Ausnahmefällen sehr nahe. Weil der Gesetzgeber diesen Konflikt gesehen hat und darauf nur mit der Übertragung der Verfahrensherrschaft für den Rentenantrag auf den SGB II-Träger reagiert hat, sieht das Beschwerdegericht hier gleichwohl keinen Leistungsausschluss. Der Gesetzgeber hat gerade nicht die Gestaltung gewählt, die § 202 SGB III in der bis 31.12.2004 gültigen Fassung zugrunde lag. Nach der dortigen Regelung ruhte der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe, wenn der Antrag auf eine Altersrente nicht binnen eines Monats nach Aufforderung gestellt wurde.
Der SGB II-Träger ist auf andere Handlungsmöglichkeiten verwiesen: * Er kann gegen einen Ablehnungsbescheid oder Versagungsbescheid der Rentenversicherung Rechtsbehelfe einlegen. Gegen eine vollständige Versagung der Altersrente kann er einwenden, dass eine geringere Rente zu gewähren sei, wenn mitwirkungsabhängige ungeklärte Rentenzeiten bestehen und nur eine teilweise Versagung erfolgen dürfe (so die fachlichen Weisungen der BA zu § 5 SGB II, Rn. 5.13). * Bezüglich einer Versagung von Arbeitslosengeld II ist zu unterscheiden. Die Weigerung, einen Rentenantrag zu stellen, kann nicht zu einer Versagung von Arbeitslosengeld II führen, weil der SGB II-Leistungsträger nach § 5 Abs. 3 SGB II selbst diesen Antrag stellen kann. Ob wegen anschließender mangelnder Mitwirkung im Rentenverfahren auch eine (teilweise) Versagung von Arbeitslosengeld II möglich ist, ist umstritten. In der Literatur wird dies teilweise bejaht (Knickrehm/Hahn in Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, § 5 Rn. 37; Luthe in Hauck/Noftz, § 5 Rn. 165 SGB II), soweit der SGB II-Träger die Voraussetzungen nach § 66 Abs. 3 SGB I erfüllt, also selbst erfolglos eine Frist mit Versagungsandrohung gesetzt hat. Nach den vorgenannten fachlichen Weisungen der BA ist eine derartige Versagung nicht möglich (a. a. O., Rn. 5.11). * Daneben ist ein Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X i. V. m. § 34b SGB II vorgesehen und es kommt ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II in Betracht.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Antragsteller nicht deswegen von SGB II-Leistungen ausgeschlossen ist, weil er erfolglos aufgefordert wurde, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen.
Das Sozialgericht hat den Antragsgegner „dem Grunde nach“ zu Leistungen verpflichtet. Dies wird teilweise für unzulässig gehalten, weil in § 142 Abs. 1 SGG nicht auf § 130 SGG verwiesen wird (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.11.2014, L 26 AS 2821/14 B ER). Nach wohl herrschender Meinung ist eine derartige Leistungsverpflichtung möglich, wenn dies mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes vereinbar ist (Meyer-Ladewig, SGG, 11. Auflage 2014, § 86b Rn. 30). Eine Leistungsverpflichtung dem Grunde nach ist nach Auffassung des Beschwerdegerichts möglichst zu vermeiden, weil sie die Vollstreckbarkeit des Beschlusses beeinträchtigt und es bei der Leistungserbringung zu Verzögerungen kommen kann. Wenn, wie hier, nur ein Leistungsausschluss, nicht aber die Höhe des Anspruchs strittig ist, erscheint eine bloße Verpflichtung „dem Grunde nach“ aber hinnehmbar. Hier kommt hinzu, dass sich der Antragsteller kontinuierlich und nicht ohne Erfolgsaussicht um Arbeit bemüht. Eine Einkommensanrechnung ist bei einer Verpflichtung dem Grunde nach – im Gegensatz zu einer bezifferten Verpflichtung – ohne Antrag an das Sozialgericht auf Abänderung des gerichtlichen Beschlusses möglich (vgl. zum Abänderungsantrag Meyer-Ladewig, a.a.O, § 86b Rn. 45). Aus diesen Gründen verbleibt es hier bei der sozialgerichtlichen Verpflichtung, dem Antragsteller dem Grunde nach Leistungen zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.


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