Sozialrecht

Krankenversicherung – Selbsteintrittsrecht der Aufsichtsbehörde bei Verhinderung von Selbstverwaltungsorganen – kein Selbsteintrittsrecht bei Weigerung ein Geschäft in einem bestimmten Sinn zu führen – Verwaltungskompetenzen des Bundes – Verstoß gegen Regelungen des GG – Befugnis zur Nichtanwendung gegen Kompetenznormen verstoßender Regelungen zur Herbeiführung einer verfassungsrechtlichen Überprüfung

Aktenzeichen  B 1 A 2/20 R

Datum:
18.5.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2021:180521UB1A220R0
Normen:
§ 37 Abs 1 S 1 SGB 4
§ 20a Abs 3 SGB 5
§ 20a Abs 4 SGB 5
§ 217g Abs 3 SGB 5
Art 74 Abs 1 Nr 12 GG
Art 87 Abs 2 GG
Art 87 Abs 3 GG
Spruchkörper:
1. Senat

Verfahrensgang

vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 22. Januar 2020, Az: L 1 KR 127/16 KL, Urteil

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. Januar 2020 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 2016 rechtswidrig war.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 2,5 Millionen Euro festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten über eine Aufsichtsmaßnahme der beklagten Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG).
2
Mit dem Präventionsgesetz vom 17.7.2015 (BGBl I 1368 mWv 25.7.2015) wurde ua § 20a SGB V neu gefasst. In den Absätzen 3 und 4 der Vorschrift finden sich Regelungen über die Beauftragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) durch den klagenden Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) zur Unterstützung der Krankenkassen (KKn) bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten für in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Versicherte.
3
§ 20a Abs 3 Sätze 4 bis 6 SGB V regeln:
“Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erhält für die Ausführung des Auftrags nach Satz 1 vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen eine pauschale Vergütung in Höhe von mindestens 0,45 Euro aus dem Betrag, den die Krankenkassen nach § 20 Absatz 6 Satz 2 für Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten aufzuwenden haben. Die Vergütung nach Satz 4 erfolgt quartalsweise und ist am ersten Tag des jeweiligen Quartals zu leisten. Sie ist nach Maßgabe von § 20 Absatz 6 Satz 5 jährlich anzupassen.”
4
Der Verwaltungsrat des Klägers sperrte mit Beschluss vom 2.12.2015 den im Haushaltsplan vorgesehenen Beitrag zur BZgA in Höhe von 0,45 Euro je Versicherten.
5
Nach erfolgloser aufsichtsrechtlicher Beratung forderte die Beklagte den Kläger auf, durch einen Beschluss den Sperrvermerk spätestens bis zum 30.12.2015 aufzuheben. Sie kündigte an, anderenfalls den Sperrvermerk im Wege des Selbsteintrittsrechts nach § 37 SGB IV selbst aufzuheben (Schreiben vom 17.12.2015). Der Kläger teilte mit, der Verwaltungsrat habe sich im schriftlichen Abstimmungsverfahren gegen die Aufhebung des Sperrvermerks ausgesprochen (Schreiben vom 29.12.2015). Daraufhin verfügte die Beklagte die Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsrates des Klägers zur Ausbringung eines Sperrvermerks zu dem Beitrag zur BZgA in Höhe von 0,45 Euro je Versicherten. Der Sperrvermerk sei rechtswidrig, weil er dazu führe, dass der Vorstand des Klägers seiner gesetzlichen Verpflichtung gemäß § 20a Abs 3 SGB V nicht nachkommen könne (Ersatzvornahmebescheid vom 6.1.2016). Der Kläger zahlte daraufhin – auch in den Folgejahren – die entsprechenden Beträge an die BZgA. Am 8.6.2016 schloss er zudem mit der BZgA eine Vereinbarung zur Unterstützung der KKn bei der Erbringung von Leistungen der Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten nach § 20a Abs 3 und 4 SGB V.
6
Die gegen den Bescheid der Beklagten vom 6.1.2016 gerichtete Klage hat das LSG abgewiesen. Die Klage sei mit ihrem Hauptantrag als Anfechtungsklage unzulässig, weil sich der angefochtene Ersatzvornahmebescheid mit der Erfüllung der gesetzlichen Zahlungspflicht und dem Abschluss der nach § 20a Abs 4 Satz 1 SGB V geforderten Vereinbarung zwischen dem Kläger und der BZgA erledigt habe. Die hilfsweise erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage sei zulässig aber unbegründet. § 37 Abs 1 Satz 1 SGB IV (iVm § 217b Abs 1 Satz 3 SGB V aF) sei hinreichende Rechtsgrundlage für den Ersatzvornahmebescheid gewesen. Der Kläger habe sich mit der Anbringung des Sperrvermerks durch den Verwaltungsrat geweigert, seine Geschäfte entsprechend der gesetzlichen Verpflichtung nach § 20a Abs 3 und 4 SGB V zu führen. Der angefochtene Bescheid sei formell und materiell rechtmäßig gewesen. Im Kern berufe sich der Kläger bei sachgerechter Auslegung seines Vorbringens auf die Verletzung seines Rechts auf Selbstverwaltung. Ein konkreter Bestand von Selbstverwaltungsaufgaben sei aber verfassungsrechtlich nicht vorgesehen. Dem Gesetzgeber komme hinsichtlich der Überlassung von Selbstverwaltungsspielräumen oder der Rücknahme bereits übertragener Aufgaben ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu. Der Kernbereich der Selbstverwaltungskompetenz sei durch § 20a Abs 3 und 4 SGB V nicht verletzt. Der Kläger könne im Übrigen die Handlungsfelder und Kriterien der Leistung zur Prävention und Gesundheit, die der Beauftragung der BZgA zugrunde liegen, selbst festlegen. Er habe insoweit maßgeblichen Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung des Auftragsverhältnisses. Der angegriffene Ersatzvornahmebescheid sei auch verhältnismäßig gewesen, nachdem der Kläger zuvor deutlich zum Ausdruck gebracht habe, dass er seinen gesetzlichen Verpflichtungen nach § 20a Abs 3 und 4 SGB V nicht nachkommen werde.
7
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 37 Abs 1 SGB IV sowie Art 87 Abs 2 und 3, Art 74, Art 105 GG. Die Voraussetzungen eines Selbsteintritts der Aufsichtsbehörde gemäß § 37 Abs 1 SGB IV hätten nicht vorgelegen. Die Maßnahme sei auch nicht verhältnismäßig gewesen. Die in § 20a Abs 3 Satz 1 SGB V geregelte gesetzliche Beauftragung der BZgA verstoße gegen Art 87 Abs 2 und 3 GG. Der Gesetzgeber weise die dort geregelten Präventionsaufgaben zunächst einem Sozialversicherungsträger zu und delegiere sie sodann auf eine Bundesoberbehörde. Damit überschreite er sein “Organisationserfindungsrecht”. Für die durch § 20a Abs 3 Satz 4 bis 6 SGB V erfolgte gesetzliche Finanzzuweisung fehle es an einer Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgebers. Die Norm könne auch nicht verfassungskonform ausgelegt werden.
8
Der Kläger beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. Januar 2020 aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 2016 rechtswidrig gewesen ist.
9
Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.
10
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.


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