Sozialrecht

Leistungen, Einkommen, Bescheid, Rentenversicherung, Krankenkasse, Versicherungspflicht, Berufung, Verletztenrente, Versicherung, Minderung, Pflegeversicherung, Beweislast, Klageverfahren, Antragstellung, Sicherung des Lebensunterhalts, Leistungen nach dem SGB II, materielle Beweislast

Aktenzeichen  L 16 AS 812/18

Datum:
10.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13953
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

S 16 AS 386/17 2018-06-07 SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

1. Es ist Sache der hilfesuchenden Person, den Sachverhalt unter Vorlage geeigneter Unterlagen so darzulegen und nachzuweisen, dass zur Überzeugung des Gerichts ein Leistungsanspruch besteht.
2. Eine konkrete Differenzierung zwischen Ausgaben für den privaten Bereich und reinen Betriebsausgaben ist notwendig, um den Gewinn und das anzurechnende Einkommen aus einer selbstständigen Tätigkeit nach §§ 11, 11b SGB II iVm § 3 Alg II-V verlässlich ermitteln zu können.
3. Vorhandenes Vermögen nach § 12 Abs. 1 SGB II steht dem Leistungsanspruch nach dem SGB II so lange entgegen, wie es nicht (nachweislich) verbraucht wurde. Ein fiktiver Vermögensverbrauch ist ohne Belang.

Gründe

Die nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht erhobene und auch im Übrigen zulässige Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 07.06.2018 ist nicht begründet.
Die Klägerin hat keinen Antrag zur Berufung gestellt. Unter Berücksichtigung ihres Vorbringens geht der Senat davon aus, dass sie die Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Landshut vom 07.06.2018 sowie der angefochtenen Bescheide und die Verurteilung des Beklagten begehrt, ihr für die Zeit vom 01.03.2017 bis 31.08.2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II dem Grunde nach zu gewähren.
Streitgegenständlich ist entsprechend dem Antrag der Klägerin im Klageverfahren der Bescheid vom 10.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2017, soweit er die Leistungsgewährung für die Zeit vom 01.03.2017 bis 31.08.2017 ablehnt. Für die Zeit vom 01.09.2017 bis 28.02.2018 hat sich der Bescheid vom 10.05.2017 durch den – nach erneuter Antragstellung vom 29.09.2017 ergangenen – Bescheid vom 27.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2018 erledigt (§ 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGB X), der die Leistungsgewährung für die Zeit vom 01.09.2017 bis 31.08.2018 ablehnt und Gegenstand des Klageverfahrens S 16 AS 19/18 bzw. des Berufungsverfahrens L 16 AS 813/18 ist.
Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Bescheid vom 10.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2017 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt. Die Klägerin hat auch zur Überzeugung des Senats ihre Hilfebedürftigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.03.2017 bis 31.08.2017 nicht nachgewiesen. Sie kann ihren Bedarf durch Einkommen und vorhandenes, verwertbares Vermögen decken.
Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, (2.) erwerbsfähig und (3.) hilfebedürftig sind und (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Die Klägerin gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis.
Streitig ist allein die Frage der Hilfebedürftigkeit der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum. Hilfebedürftig ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II iVm § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.
Die materielle Beweislast für das Vorliegen von Hilfebedürftigkeit trägt die Klägerin als hilfesuchende Person (vgl. Korte in LPK-SGB II, 7. Aufl. 2021, § 9 Rdnr. 5; Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 27.01.2009 – B 14 AS 6/08 R, Rdnr. 19 juris). Die materielle Beweislast bzw. Feststellungslast regelt, wen die Folgen treffen, wenn das Gericht eine bestimmte Tatsache letztlich nicht feststellen kann (non liquet). Es gilt der Grundsatz, dass jeder im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Es ist also Sache der Klägerin, den Sachverhalt unter Vorlage geeigneter Unterlagen so darzulegen und nachzuweisen, dass zur Überzeugung des Gerichts ein Leistungsanspruch besteht. Kommt ein Kläger seiner Mitwirkungsobliegenheit im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 103 Satz 1 Halbsatz 2 SGG nicht nach, sind die Gerichte trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 103 Satz 1 SGG nur eingeschränkt verpflichtet, weiter zu ermitteln. Dies gilt insbesondere für Umstände, die in der Sphäre der Klägerin liegen. In diesem Fall trifft die Klägerin die Feststellungslast (vgl. Karl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 9 Rdnr. 233, 219).
Der Bedarf der Klägerin beläuft sich zum einen auf den Regelbedarf nach § 20 Abs. 1, Abs. 1a SGB II iVm §§ 28, 28a Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) und § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG) vom 22.12.2016 in Höhe von 409,- Euro. Zum anderen hat sie gemäß § 22 SGB II Kosten der Unterkunft im streitgegenständlichen Zeitraum in Höhe von je 71,- Euro (Wasser/Abwasser) im März und Juni 2017 und in Höhe von je 21,15 Euro (Abfallgebühren) im Mai und August 2017 belegt. Für die weiter behaupteten Kosten für Heizung, Warmwasser und Bad in Höhe von 160,- Euro pro Monat hat die Klägerin keine Nachweise erbracht. Solche Kosten sind auch nicht aus den vorgelegten Kontoauszügen ersichtlich. Im Leistungsantrag hatte die Klägerin angegeben, Brennstoffe selbst zu beschaffen; entsprechende Rechnungen wurden jedoch nicht eingereicht.
Die Klägerin verfügte über Einkommen aus der Verletztenrente in Höhe von 419,58 Euro bzw. – ab 01.07.2017 – in Höhe von 427,55 Euro und verwertbares Vermögen, das ihr zur Deckung des oben genannten Bedarfs zur Verfügung stand. Zutreffend hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass von der Verletztenrente nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V die Versicherungspauschale in Höhe von 30,- Euro abzusetzen ist, so dass sich hieraus ein anzurechnendes Einkommen in Höhe von 389,58 bzw. in Höhe von 397,55 Euro ergibt.
Da die Klägerin ihr Einkommen aus der selbstständigen Tätigkeit nicht, insbesondere nach reinen Betriebseinnahmen und -ausgaben differenziert und anhand von Belegen überprüfbar, nachgewiesen hat, kann der Senat schon nicht beurteilen, ob nicht bereits das Gesamteinkommen der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum ihren grundsicherungsrechtlichen Bedarf deckte. Die Klägerin selbst hat in ihrem Schreiben vom 07.03.2022 angegeben, sie könne (nur) die Markteinnahmen nicht belegen. Ausweislich der Kontoauszüge wurden auf das Konto der Klägerin – neben den monatlichen Überweisungen der Unfallrente – jedenfalls im Mai 2017 660,- Euro, im Juni 2017 250,- Euro und im August 2017 600,- Euro eingezahlt. Der Beklagte hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Klägerin in der Aufstellung ihrer Einnahmen und Ausgaben nicht zwischen den Einnahmen aus der Unfallrente und den Einnahmen aus der selbstständigen Tätigkeit unterscheidet. Gleiches gilt für die Ausgaben, da in der übersandten Kopie aus dem Geschäftsbuch beispielsweise auch Hausnebenkosten und Stromkosten in voller Höhe als Ausgaben angesetzt wurden, obwohl das Haus nur anteilig (ohne konkrete Angaben der Klägerin, zu welchem Anteil) für die selbstständige Tätigkeit der Klägerin genutzt wurde. Eine konkrete Differenzierung zwischen Ausgaben für den privaten Bereich und reinen Betriebsausgaben ist jedoch notwendig, um den Gewinn der Klägerin und letztlich das anzurechnende Einkommen aus ihrer selbstständigen Tätigkeit gemäß §§ 11, 11b SGB II iVm § 3 Alg II-V (in der Fassung vom 26.07.2016) verlässlich ermitteln zu können. Dies war dem Senat anhand der vorliegenden Unterlagen nicht möglich. Darüber hinaus konnte der Senat mangels Vorlage von Belegen nicht überprüfen, ob es sich bei den Ausgaben, sofern man ihre Eigenschaft als Betriebsausgaben unterstellt (etwa Ausgaben, die im handschriftlichen Geschäftsbuch als „Ware“ oder „Verbrauch, Werkstatt, Material“ bezeichnet sind), um notwendige Ausgaben iSd § 3 Abs. 2, 3 Alg II-V handelte.
Die genaue Höhe des Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit kann jedoch dahingestellt bleiben, da die Klägerin auch über verwertbares Vermögen in Form des Rückkaufswertes der H Versicherung verfügte, das die gesetzlichen Vermögensfreibeträge überstieg. Als Vermögen sind nach § 12 Abs. 1 SGB II in der Fassung vom 13.05.2011 grundsätzlich alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen, die den Grundfreibetrag nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II (150,- Euro je vollendetem Lebensjahr, im Falle der Klägerin also 8.400,- Euro im Jahr 2017) und den Freibetrag für notwendige Anschaffungen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB II (750,- Euro), insgesamt 9.150,- Euro übersteigen.
Zum anzurechnenden Einkommen sowie der als Vermögen zu berücksichtigenden Rentenversicherung der H Versicherung, soweit die genannten Freibeträge überschritten sind, verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen hat, dass der Rückkaufswert der H Versicherung inklusive des Überschussanteilsguthabens im streitbefangenen Zeitraum unterhalb des Vermögensfreibetrages von 9.150,- Euro lag. Der Senat hat die Klägerin gebeten, den Rückkaufswert der H Versicherung zum 01.03.2017 zu belegen bzw. alternativ dem Senat eine Schweigepflichtentbindungserklärung zu erteilen, damit dieser die erforderliche Auskunft selbst bei der H Versicherung einholen kann. Dieser Bitte mit gerichtlichem Schreiben vom 25.10.2021 unter Fristsetzung bis 30.11.2021 ist die Klägerin trotz Hinweises auf die mögliche Präklusionswirkung des § 106a Abs. 3 SGG nicht nachgekommen. Die Vorgehensweise des Sozialgerichts, mangels anderweitiger Anhaltspunkte für den hier streitgegenständlichen Zeitraum den Mittelwert (ca. 9.350,- Euro) aus den bekannten Rückkaufswerten der H Versicherung mit Stand zum 01.12.2015 und zum 01.12.2017 zugrundezulegen, ist nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat hierbei im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG von seiner Schätzbefugnis nach § 202 Satz 1 SGG iVm § 287 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zulässig Gebrauch gemacht und die Schätzungsgrundlagen offengelegt sowie schlüssig und nachvollziehbar dargelegt (vgl. hierzu etwa BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 47/14 R, Rdnr. 18 ff. juris). Den vorgelegten Rückkaufswerten lässt sich entnehmen, dass diese Jahr für Jahr angestiegen sind (von 2013 auf 2015 und 2015 auf 2017 jeweils um ca. 500,- Euro, von 2017 auf 2019 um mehr als 600,- Euro). Ausgehend von einem Rückkaufswert (inkl. Überschussanteilguthaben) am 01.12.2018 von 9.918,82 Euro und einer Verringerung um 500,- Euro im Zweijahresabstand würde sich sogar noch ein etwas höherer Rückkaufswert als der vom Sozialgericht angesetzte zum 01.12.2016 (kurz vor Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums) in Höhe von mehr als 9.400,- Euro ergeben.
Zutreffend hat das Sozialgericht auch darauf hingewiesen, dass vorhandenes Vermögen dem Leistungsanspruch nach dem SGB II so lange entgegensteht, wie es nicht (nachweislich) verbraucht wurde (vgl. auch Silbermann in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2020, § 9 Rdnr. 20 und Lange in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2020, § 12 Rdnr. 129). Ein fiktiver Vermögensverbrauch ist dabei ohne Belang. Vermögen ist deshalb – soweit es die Freibeträge übersteigt und nicht zum Schonvermögen zählt (hier jedenfalls in Höhe von 250,- Euro (den Vermögensfreibetrag übersteigender Rückkaufswert der H) zzgl. des Guthabens auf dem Girokonto in Höhe von rund 500,- Euro und des Guthabens auf dem Bausparvertrag in Höhe von 52,41 Euro, insgesamt in Höhe von rund 800,- Euro) – solange auf den Leistungsanspruch anzurechnen, bis es tatsächlich verbraucht ist; dies gilt auch, soweit es bereits in einem früheren Bewilligungszeitraum entsprechend berücksichtigt, tatsächlich aber nicht verbraucht worden ist (BSG, Urteil vom 30.07.2008 – B 14 AS 14/08 B; Lange in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 12 Rdnr. 30). Die Klägerin hat ihr Vermögen nicht verbraucht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).


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