Aktenzeichen L 1 R 310/15
SGB X SGB X § 45
GG GG Art. 6, Art. 14 Abs. 1
Leitsatz
Aus der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Verpflichtung des Staates zur Förderung der Familie ergibt sich kein gesetzliches Gebot, die Erziehungsleistung in der gesetzlichen Rentenversicherung stärker leistungssteigernd zu berücksichtigen. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 2 R 966/14 2015-03-16 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. März 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Über die Berufung wird mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entschieden (vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Berufung ist gemäß §§ 143, 151 SGG zulässig, insbesondere statthaft und form- und fristgerecht eingelegt.
Sie ist aber unbegründet. Die Berechnung der Altersrente mit Bescheid vom 09.06.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2012 in der Fassung des Bescheids vom 03.09.2014 ist rechtmäßig auf der Grundlage der Vorschriften des SGB VI erfolgt und verletzt die Klägerin nicht in eigenen Rechten. Anhaltspunkte für eine Verfassungswidrigkeit der dabei zugrunde gelegten Regelungen des SGB VI, die eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 GG erforderlich machen würden, sind für den Senat nicht erkennbar. Insbesondere begegnet die Bewertung der Kindererziehungszeiten entsprechend den Regelungen des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes, wie sie die Beklagte mit dem Bescheid vom 03.09.2014 vorgenommen hat, keinen rechtlichen Bedenken.
Insofern wird zunächst vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Urteil verwiesen und gemäß § 153 Abs. 2 SGG von eigener Darlegung abgesehen.
Ergänzend wird ausgeführt:
Nach dem Vorbringen der Klägerin in ihrer Berufungsbegründung geht es ihr im Berufungsverfahren nur noch um die höhere Bewertung der Kindererziehungszeiten mit drei Entgeltpunkten statt zuletzt zwei Entgeltpunkten und wohl auch weiterhin um die Länge der Berücksichtigungszeiten, aber nicht mehr um die Anerkennung der Ausbildungszeit vom 28.02.1962 bis 14.03.1963. Allerdings hat das Sozialgericht auch insoweit zutreffend begründet, dass diese Zeit, da sie vor der Vollendung des 17. Lebensjahres zurückgelegt wurde, nicht als Anrechnungszeit berücksichtigt werden kann. Nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI in der ab 01.01.1997 geltenden Fassung können Zeiten einer schulischen Ausbildung erst nach dem vollendeten 17. Lebensjahr als Anrechnungszeit berücksichtigt werden. Eine anderweitige Regelung, auf die sich die Klägerin bei Rentenbeginn noch hätte berufen können, lag zu diesem Zeitpunkt weder in Form einer verbindlichen Anerkennung durch Bescheid oder einer Zusicherung i.S.d. § 34 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht mehr vor. Denn der Bescheid vom 22.03.1990, mit dem die Zeit der Fachschulausbildung entsprechend der damals geltenden Rechtslage bereits ab dem 28.07.1962 vorgemerkt worden ist, ist nicht erst mit dem Rentenbescheid gemäß § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI aufgehoben worden, sondern bereits zuvor mit dem bestandskräftigen gewordenen Bescheid vom 18.03.2005. Auf die Voraussetzungen des § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI (die ebenfalls erfüllt sind), kommt es daher ebenso wenig an wie auf die Voraussetzungen der §§ 45 ff. SGB X. Entscheidend ist danach die im Zeitpunkt der Rentenbewilligung maßgebende materielle Rechtslage, die die Beklagte in beiden Rentenbescheiden zutreffend zugrunde gelegt hat. Dass es verfassungsgemäß ist, wenn Anrechnungszeiten wegen Schul- oder Hochschulausbildung vor Vollendung des 17. Lebensjahres in Abänderung zur früheren Rechtslage nicht mehr rentensteigernd bewertet werden, hat das Bundessozialgericht (BSG) ausdrücklich bestätigt (BSG, Urteil vom 19.04.2011 – B 13 R 27/10 R -, BSGE 108, 126-144, SozR 4-2600 § 74 Nr. 3). Es hat darin ausgeführt, dass jedenfalls dann, wenn rentenrechtlich relevante Zeiten nicht auf eigener Beitragsleistung beruhten, wie im Falle von Anrechnungszeiten, der Gesetzgeber eine besonders große Gestaltungsfreiheit hat, die unter Umständen sogar dazu führen könne, dass in eine bis dahin vorhandene Rechtsposition des Versicherten eingegriffen werde. Es handle sich auch insoweit um eine verfassungsrechtlich zulässige gesetzgeberische Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums i.S. von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Denn Anrechnungszeiten beruhten – da ohne eigene Beitragsleistung erworben – überwiegend auf staatlicher Gewährung und seien somit Ausdruck besonderer staatlicher Fürsorge (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 01.07.1981 – 1 BvR 874/77 -, BVerfGE 58, 81-136).
Nichts anderes gilt für die Höhe der hier streitigen „Mütterrente“ und der Bewertung der Zeiten der Kindererziehung, die ebenfalls nicht auf einer Beitragsleistung durch die Klägerin beruhen.
Die Anrechnung der Zeiten der Kindererziehung bei der Rente der Klägerin ab Rentenbeginn (01.08.2011) beruhte auf der bis zum 30.06.2014 geltenden Fassung des § 249 SGB VI vom 15.07.2009. Danach war für ein vor dem 01.01.1992 geborenes Kind eine Beitragszeit wegen Kindererziehung anzurechnen, die zwölf Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt endete (zur Rechtmäßigkeit der Rechtslage vor dem 01.07.2014: Landessozialgericht – LSG – Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 04.11.2013 – L 2 R 352/13 -, und LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 08.12.2010 – L 4 R 715/08 -, jeweils juris). Erst zum 01.07.2014 wurde durch das RV- Leistungsverbesserungsgesetz vom 23.06.2014 (BGBl. I, S. 787) die zu berücksichtigende Beitragszeit auf 24 Monate verlängert und für laufende Renten in § 307d Abs. 1 SGB VI geregelt, dass für die Erziehung eines vor dem 01.01.1992 geborenes Kindes jeweils zusätzlich ein persönlicher Entgeltpunkt berücksichtigt wird, wenn am 30.06.2014 Anspruch auf eine Rente bestand, in der Rente eine Kindererziehungszeit für den zwölften Kalendermonat nach Ablauf des Monats der Geburt angerechnet wurde und kein Anspruch nach den §§ 294 und 294a SGB VI besteht.
Diese Voraussetzungen sind im Fall der Klägerin erfüllt, weswegen gegenüber den im Rentenbescheid vom 09.06.2011 insgesamt angerechneten 5,7856 Entgeltpunkten im Rentenbescheid vom 03.09.2014 nunmehr 9,7856 persönlich Entgeltpunkten der Rentenberechnung zu Grunde gelegt worden sind. Die Regelung in § 307d Abs. 1 SGB VI ist im Falle der Klägerin daher vollumfänglich umgesetzt worden.
Die Regelung ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der pauschalierte Zuschlag für diejenigen Mütter, dem 01.07.2014 bereits in Rentenbezug standen, stellt in mehrfacher Hinsicht sogar eine Begünstigung gegenüber anderen Personenkreisen dar.
Denn nach der für jüngere, noch nicht im Rentenbezug stehende Frauen geltenden Regelung in § 249 SGB VI werden Entgeltpunkte für die auf zwei Jahre verlängerte Kindererziehungszeit, soweit sie mit für denselben Zeitraum erworbenen anderen Entgeltpunkten, insbesondere für Erwerbstätigkeit, zusammentreffen, nur bis zur Höchstgrenze des § 70 Abs. 2 Satz 2 SGB VI i.V.m. Anlage 2b zum SGB VI rentenwirksam berücksichtigt, während der nach § 307d Abs. 1 SGB VI für jedes Kind zu berücksichtigende zusätzliche Entgeltpunkt auch beim Zusammentreffen mit anderen rentenrechtlich relevanten Zeiten nicht gekürzt bzw. gekappt wird (zur Zulässigkeit dieser Besserstellung vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 31.05.2016 – L 6 R 685/15 -, juris). Damit ist im Ergebnis gerade der Situation der älteren Frauen, die wie die Klägerin in der Regel nicht bereits im zweiten Jahr nach der Geburt der Kinder wieder erwerbstätig waren, Rechnung getragen. Schließlich stellt § 307d SGB VI auch insofern eine begünstigende Ausnahmeregelung dar, als damit von der gesetzlichen Grundregel des § 306 SGB VI abgewichen wird, wonach grundsätzlich Gesetzesänderungen nicht zur Neuberechnung bereits laufender Renten führen.
Auch die Anrechnung der Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Berücksichtigungszeit wegen der Erziehung eines Kindes beginnt gemäß § 57 SGB VI frühestens mit dem Monat der Geburt des Kindes und endet spätestens mit der Vollendung des 10. Lebensjahrs eines Kindes, wobei die Erziehung mehrerer Kinder – anders als bei der Anrechnung der Kindererziehungszeit nach § 56 SGB VI – nicht additiv berücksichtigt wird. Sie endet vielmehr immer mit dem Ende des Zehn-Jahres-Zeitraumes für das zuletzt geborene Kind, hier am 22.09.1987 (Gürtner, Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 91. EL September 2016, § 57 SGB VI, Rn. 6). Berücksichtigungszeiten wirken, anders als die übrigen rentenrechtlichen Zeiten nicht selbst rentenbegründend und rentenerhöhend, sondern gleichen im Sinne eines Familienlastenausgleichs wenigstens einen Teil derjenigen Nachteile aus, die sich daraus ergeben, dass Kindererziehung beim erziehenden Elternteil typischerweise Sicherungslücken in der versicherten Rentenbiografie hinterlässt. Daher führen sie auch nicht zu einer Bewertung mit Entgeltpunkten und werden auch nicht auf allgemeine Wartezeiten angerechnet, sondern wirken lediglich anspruchsbegründend (z.B. bei der Wartezeit von 35 Jahren für vorzeitige Altersrente) bzw. anspruchserhaltend, soweit sie Wartezeiten verlängern und Anwartschaften erhalten. Mittelbar leistungssteigernd wirken sie, als sie u.a. Einfluss auf die Gesamtleistungsbewertung nach § 71 Abs. 3 SGB VI sowie die Mindestentgeltpunktbewertung bei geringem Arbeitsentgelt (§ 262 SGB VI) haben (Schuler-Harms in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 57 SGB VI, Rn. 14ff.). Aus den mit der Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung verfolgten Zielen ergibt sich, dass bei der Erzielung auf ein bestimmtes Lebensalter abgestellt wird und nicht für jedes Kind eine gleiche Anzahl von Jahren angerechnet wird (BT-Drucks 11/4124 S. 167). Würde man der Argumentation der Klägerin folgen, würde sie aber zusätzlich zu den übrigen rentenrechtlich relevanten Zeiten 40 Jahre Berücksichtigungszeiten erhalten, was weit über die beim erziehenden Elternteil typischerweise entstehenden Sicherungslücken in der versicherten Rentenbiografie hinausgehen würde und den Charakter einer Entschädigung erhielte, obwohl anders als bei den vom Bund aus Steuermitteln finanzierten Kindererziehungszeiten Rentenleistungen, die auf Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung beruhen, im Rahmen des sozialen Ausgleichs als „Solidarleistungen“ der Versichertengemeinschaft aus Beitragsmitteln aufgebracht werden (vgl. BSG, Urteil vom 31.01.2008 – B 13 R 64/06 R – BSGE 100, 12 = SozR 4-2600 § 56 Nr. 6, Rn. 31).
Eine Anerkennung weiterer Zeiten ist auch verfassungsrechtlich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geboten.
So hat das BVerfG mit Urteil vom 07.07.1992 (1 BvL 51/86 -, juris) entschieden, dass der Ausschluss der vor 1921 geborenen Mütter von der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz ebenso mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar war, wie die nur stufenweise Zuerkennung von Leistungen für Kindererziehung an Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 und der gleichzeitige Leistungsausschluss der Väter im Rahmen des Kindererziehungsleistungs-Gesetzes.
Auch aus der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Verpflichtung des Staates zur Förderung der Familie ergibt sich kein gesetzliches Gebot, die Erziehungsleistung in der gesetzlichen Rentenversicherung stärker leistungssteigernd zu berücksichtigen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.03.2013 – L 4 KR 4983/10 -, juris). Dies hat das BSG bereits mehrfach im Zusammenhang mit der Begrenzung der Bewertung zeitgleich zurückgelegter Kindererziehungszeiten und sonstiger Beitragszeiten auf die Höchstwerte der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze entschieden (BSG, Urteile vom 17.12.2002 – B 4 RA 46/01 R = SozR 3-2600 § 70 Nr. 6, vom 30.1.2003 – B 4 RA 47/02 R – und vom 05.07.2006 – B 12 KR 20/04 R -, SozR 4-2600 § 157 Nr. 1; vgl. hierzu auch Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 29.08.2007 – 1 BvR 2477/06). Der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsgebot lässt sich lediglich die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen. Dieser Verfassungsauftrag lässt aber keinen Schluss auf eine konkrete gesetzliche Regelung in einzelnen Rechtsgebieten oder Teilsystemen zu, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist (BSG, Urteil vom 17.12.2002, a.a.O.).
Der ohnehin weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Bereich der „gewährenden“ Verwaltung und bei der Regelung nicht auf Beiträgen beruhender Zeiten würde daher selbst eine strengere Regelung verfassungsrechtlich noch zulassen (vgl. auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11.01.2016, 1 BvR 1687/14 m.w.N.) Dass es dabei zulässig ist, bestimmte Personenkreise (z.B. selbstständig Tätige) von der Anrechnung von Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung (auch) zur Vermeidung einer übermäßigen (finanziellen) Belastung der Versichertengemeinschaft ganz auszuschließen, hat das BSG mit Urteil vom 24.10.2013 (B 13 R 1/13 R -, SozR 4-2600 § 57 Nr. 1) entschieden.
Dass die Rentenberechnung aus anderen Gründen rechtswidrig wäre, wird von der Klägerin auch im Berufungsverfahren nicht vorgetragen und ist auch für den Senat nicht erkennbar.
Die Kostenentscheidung (§ 193 SGG) beruht auf der Erwägung, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren erfolglos geblieben ist.
Gründe, die Revision zuzulassen (vgl. § 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.